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Titel
Gefeierte Nation. Erinnerungskultur und Nationalfeiertag in Deutschland und Frankreich seit 1990


Autor(en)
Simon, Vera Caroline
Reihe
Campus Historische Studien 53
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Campus Verlag
Anzahl Seiten
415 S.
Preis
€ 39,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Mascheck, Max-Planck-Institut für Bildungsforschung Berlin

Im Jahr 2010 feierte die Bundesrepublik Deutschland den 20. Tag der Deutschen Einheit. Der 3. Oktober und seine Spezifika als Nationalfeiertag werden in Vera Simons Dissertation durch die Methode des historischen Vergleichs – in diesem Fall mit dem 14. Juli als Nationalfeiertag in Frankreich – herausgearbeitet und untersucht. Grundlegend für ihren Ansatz ist die Frage nach der Bedeutung von Erinnerungskultur für eine Nation, die, durch die massenmedial repräsentierte Anwendung symbolhafter Politik, sowohl Identität nach innen konstruieren und konstituieren will, als auch gleichzeitig ihre Position im europäischen Kontext sucht. Der durchaus asymmetrisch zu nennende Vergleich zwischen dem 14. Juli und dem 3. Oktober, dessen Analyse der Hauptfokus dieser Arbeit ist, zeigt dabei plausibel Differenzen und Analogien der beiden historischen Phänomene auf und erklärt, wie sowohl die deutsche als auch die französische Gesellschaft die jeweilige Nation durch Zeremonien und Rituale entstehen lassen und diese beiden Gesellschaften das Erlebte in medialen und politischen Austauschprozessen kommunizieren. Der Analyse der Massenmedien kommt in diesem Rahmen eine besondere Bedeutung zu, da deren Produkte nicht nur einen wesentlichen Teil der Quellenbasis ausmachen, in dem zum Beispiel Parlamentsdebatten (und deren mediale Aufbereitung), Fernsehübertragungen und regionale wie überregionale Zeitungen untersucht werden, sondern auch, weil durch ihren Einsatz eine hohe Reichweite innerhalb der Bevölkerung erreicht wird, die allerdings nur die Ergebnisse eines Filterungsprozesses rezipiert, der der inneren Logik des untersuchten Mediums folgt.

Auf diese Weise arbeitet Vera Simon einen beide Gesellschaften umfassenden, multidimensionalen Kommunikationsprozess heraus, der die Rezeption der beiden Nationalfeiertage beleuchtet und Identitätskonstruktionen anhand der kritischen Auseinandersetzung mit dem jeweils Anderen erklärt.

Vera Simon beginnt, indem sie die Tradition des 14. Juli in Frankreich zunächst als eine Erinnerungskultur der Revolution und ihrer Werte beschreibt, die die „[…] emotionale Akzeptanz der revolutionären Erneuerung im Volk sichern“ (S. 37) sollte. Sowohl Datum als auch Zeremonie stellten dabei einen politisch gewollten Kompromiss zwischen Republikanern und Konservativen des späten 19. Jahrhunderts dar, der durch die hoch präsente Einbindung der Armee in das öffentliche Ritual konsensfähig gemacht wurde.

Dem gegenüber stellt Vera Simon den weit weniger etablierten 3. Oktober, der zwar sowohl auf eine Tradition des nationalen Festes vor und während des Kaiserreiches rekurrieren konnte, durch den Nationalsozialismus und die offen ausgetragene Konkurrenz im Bezug auf ihre Nationalfeiertage der beiden deutschen Staaten nach 1945 aber keine einheitliche symbolische Politik hat herausbilden können. Durch seine Festschreibung in Artikel 2 des Einigungsvertrages 1990 kam er von Beginn an eher wie ein Verwaltungsakt daher, der im Gegensatz zum 14. Juli niemals Gegenstand einer Parlamentsdebatte war. Des Weiteren beschreibt die Autorin die Abwesenheit der militärischen Komponente des 3. Oktobers und zeichnet so charakteristische Unterschiede zwischen den deutschen und französischen Repräsentationsformen politischer Macht nach.

Die gegenseitige Rezeption der Nationalfeiertage war sowohl von Idealisierung als auch von kritischer Abgrenzung vom jeweils anderen geprägt. Die französische Perspektive auf den 3. Oktober erscheint dabei von Beginn an tendenziell negativ konnotiert gewesen zu sein. „Die wesentlichen Charakteristika, die den Tag der Deutschen Einheit prägen sollten – Verfassungspatriotismus, die symbiotische Verbindung von deutscher und europäischer Einheit sowie der Föderalismus – wurden in den französischen Medien nicht in ihrer gewünschten Signalfunktion wahrgenommen und weiterverbreitet.“ (S. 239) Dieses Unverständnis äußerte sich in den französischen Medien durch Kommentare über den mangelnden Aufwand bei der Inszenierung des Nationalfeiertages in Statements wie „Haben [die Deutschen] das Fest der Einheit und das Geschenk der Geschichte, das ihnen vor vier Jahren wie durch ein Wunder beschert worden ist, eigentlich verdient?“ (S. 241) Außerdem rekurrierten die französischen Medien auf vorhandene Ressentiments bezüglich eines potentiell zu neuer Macht erstarkenden „Deutschen Reichs“ und bebilderten dies mit Ausschreitungen einiger rechtsradikaler Gruppen in den neuen Bundesländern.

Die deutsche Perspektive auf den 14. Juli besteht aus zwei Haupttopoi – der Idealisierung und Stilisierung des ungebrochen erlebbaren Patriotismus und der kritischen Auseinandersetzung mit selbigem. Gerade weil die Genese des 3. Oktobers in Deutschland durchaus immer wieder aufs neue kontrovers diskutiert wurde – vor allem ist hier wohl die Auseinandersetzung um das Datum des 9. Novembers als Gedenken an den Mauerfall und der Reichspogromnacht zu nennen – identifiziert die Autorin die Hauptvorbildfunktion des 14. Juli vor allem in seiner scheinbar ungebrochenen Tradition und der damit in der öffentlichen Wahrnehmung verbundenen „stolzen“ Feier, die „man nur ‚neidvoll‘ bewundern könne“. (S. 248) Allerdings ist diese nicht ungebrochen und unreflektiert, da gerade die Formen militärischer Machtdemonstration in der deutschen Öffentlichkeit auf Kritik stießen. „Nicht nur wurde der militärischen Dimension die Vorbildfunktion für die deutsche Zeremonie abgesprochen, sondern der 3. Oktober wurde im Gegenzug aufgewertet, da im Vergleich mit dem französischen Ritual die nichtmilitärische Ausgestaltung als demokratische Aussage anerkannt wurde.“ (S. 251)

Die an dieser Stelle stark verkürzte Nachzeichnung der Argumentation lässt sich in ihrer Konklusion um die zeitliche Dimension erweitern. „Im Laufe des Untersuchungszeitraums zeigte sich eine Entwicklung der deutschen und französischen Erinnerungskultur, die durch umgekehrte beziehungsweise ungleichzeitige Gemeinsamkeiten geprägt war: Die kritische Auseinandersetzung mit der französischen Nationalgeschichte und das Aufbrechen exklusiv-nationaler Deutungsmuster in der französischen Militärparade kontrastierten mit der in Deutschland beobachtbaren nationalen Neubegründung eines militärischen Selbstverständnisses und der affirmativen Umdeutung der Nationalgeschichte.“ (S. 365) Dieser Befund ist besonders vor dem Hintergrund einer potentiell im Entstehen befindlichen gemeinsamen europäischen Erinnerungskultur spannend. Die durchgehend plausiblen und detaillierten Beschreibungen der komplexen politischen Prozesse hinter den Nationalfeiertagen und ihrer massenmedialen Repräsentationen erklären systematisch und verständlich Genese und Ausprägungen selbiger in beiden Gesellschaften. Die Methode des historischen Vergleichs erweist sich dabei als sinnvoller Ansatz, der sowohl das Herausarbeiten von Gemeinsamkeiten wie Unterschieden zulässt als auch die Einordnung dieser in komplexe Kommunikationsprozesse zwischen der deutschen und der französischen Gesellschaften ermöglicht. Insgesamt stellt die gelungene Arbeit von Vera Simon einen wichtigen, sowohl historisch stringent argumentierenden als auch methodisch fundierten Beitrag zur Untersuchung transnationaler Erinnerungskultur dar.

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