Cover
Titel
Gefühlte Opfer. Illusionen der Vergangenheitsbewältigung


Autor(en)
Jureit, Ulrike; Schneider, Christian
Erschienen
Stuttgart 2010: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
253 S.
Preis
€ 21,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Cornelia Siebeck, Berlin/Ruhr Universität Bochum

Motiviert von einem „Unbehagen mit der Erinnerung“ (S. 7) haben die Historikerin Ulrike Jureit und der Soziologe und Psychoanalytiker Christian Schneider eine Streitschrift zur deutschen Gedächtniskultur vorgelegt. Dem Buchtitel ist zu entnehmen, dass die AutorInnen darin „Illusionen der Vergangenheitsbewältigung“ entlarven wollen.

Im Zeichen des „Schreckenswort Auschwitz“ (S. 7) sei deutsche Gedächtniskultur von einer „Wiederholungsphobie“ geprägt, die bis heute „das Lebensgefühl der nachwachsenden Generation“ sowie „Formen und Muster unseres historischen Erinnerns“ präge (S. 7). In Abgrenzung von ihren historisch belasteten Eltern habe die ‚68er‘-Generation eine „Gegen-Identifizierung“ (S. 27) mit den historischen Opfern vollzogen, um dann – im Zuge einer „erinnerungspolitischen Selbstermächtigung“ – eine „opferidentifizierte Erinnerungskultur“ (S. 10) zu etablieren. Diese werde von „Moral-Eliten“ reglementiert, welche „das Zepter der kulturellen Hoheit fest in der Hand“ hielten (S. 194). Ergebnis sei eine „Olympiade der Betroffenheit“ (S. 23), ein „stahlhartes Gehäuse normierten Gedenkens“ (S. 35), das es zu durchbrechen gelte.

Nach einer gemeinsamen Einleitung schreibt Jureit über eine vermeintlich charakteristische „Opferidentifikation und Erlösungshoffnung“; Schneider kritisiert einen angeblich vorherrschenden Diskurs, den er mit dem Slogan „Trauerarbeit macht frei“ (S. 15, S. 137) persifliert.

Jureit vertritt die Auffassung, dass die deutsche „Erinnerungsgemeinschaft“ auf ein „geliehenes Selbstbild“ rekurriere – nämlich das des jüdischen Opfers –, um einer „spezifisch deutschen Ambivalenz des Holocaust-Gedenkens“ zu entgehen (S. 50). In einem gewissen Widerspruch zu diesem Befund steht ihre zweite Diagnose der ‚Erlösungshoffnung‘. Idealtypisch sieht sie diese in einem Halbsatz aus der Rede des damaligen Bundespräsidenten Richard von Weizsäcker anlässlich des 40. Jahrestags des Kriegsendes 1985 ausgedrückt: „[…] das Geheimnis der Erlösung heißt Erinnerung.“ Inhalt und historischer Kontext der Rede bleiben dabei unreflektiert: Von Weizsäcker reagierte hier auf die gedächtnispolitische Offensive zur ‚Normalisierung‘ deutscher Identität unter der Regierung Kohl.

Jureit jedoch meint, von Weizsäcker habe den ‚68ern‘ mit seiner Rede ein „staatspolitisch bekräftigte[s] Erlösungsversprechen“ gemacht (S. 39). Als dessen manifestes Resultat interpretiert sie das 2005 eingeweihte Denkmal für die ermordeten Juden Europas, ihrer Ansicht nach „der zentrale Erinnerungsort für die Geschichte des Holocaust“ (S. 10, S. 25, S. 46). Sinnfällig erscheint ihr dabei Lea Roshs Entgleisung bei der Mahnmal-Einweihung im Mai 2005, als Rosh vorschlug, einen Backenzahn aus Belzec mit einzubetonieren. Dies verallgemeinert Jureit zu einem Ausdruck einer verbreiteten Reliquienverehrung und Heilserwartung: „Von den Opfern des Holocaust wird – möglicherweise unbewusst – rettende Fürsprache und Wunderwirkung erhofft.“ (S. 49)

Jureit spart nicht mit polemischen Mutmaßungen. So behauptet sie: „Dass das Geheimnis der Erlösung Erinnerung heißt, weiß in Deutschland mittlerweile fast jedes Kind“ (S. 38), um ihre LeserInnen dann zu belehren: „Um es ganz deutlich zu sagen: Niemand wird wegen permanenten Erinnerns von der eigenen oder überlieferten Schuld freigesprochen.“ (S. 42) Wer hätte das auch gedacht? Und welcher Jugendliche kennt heute ein über 25 Jahre altes Weizsäcker-Zitat? Man fragt sich, von welcher empirischen Realität hier eigentlich die Rede ist.

Dies gilt ähnlich, wenn Christian Schneider seinen Essay auf die Behauptung stützt, dass „das Wort Trauerarbeit unverzichtbarer Teil unseres Erinnerungs- und Gedenkdiskurses“ sei (S. 15). Charakteristischerweise sind Gedächtnisdiskurse in vieler Hinsicht identitätspolitisch motiviert und bedienen sich dabei psychoanalytischer Paradigmen. Dass aber „Trauer“ die „zentrale Metapher deutscher Erinnerungspolitik“ sei (S. 105), müsste man schon belegen, bevor man zu ihrer Demontage schreitet.

Schneider attestiert den Deutschen ferner eine Angst vor der „Rache“ der Opfer, die mit deren „nachträgliche[r] Eingemeindung und Heiligsprechung“ (S. 187) kompensiert werde; zugleich bestehe über alle politischen Lager hinweg ein „untergründige[r], immer wirksame[r] heimliche[r] Wunsch […], es möge alles nicht wahr, nicht gewesen sein“ (S. 210). Die ‚68er‘-Generation habe sich daher mit Adornos Sprecherposition des ‚Entronnenen‘ und Opfers identifiziert – um „unschuldig zu sein und den Schrecken, der aus ihrer Genealogie nicht zu tilgen war, ungeschehen zu machen“ (S. 122).

Über Habermas’ „Erkenntnis und Interesse“ (1968) und Mitscherlichs „Unfähigkeit zu trauern“ (1967) habe sich dann die – ebenfalls jüdisch konnotierte – Psychoanalyse zum „zentrale[n] Instrument der Gegenwartsanalyse“ (S. 14) und der „neueren deutschen Vergangenheits- und Erinnerungspolitik“ (S. 128) entwickelt. Das Resultat sei ein Paradigma kollektiver ‚Trauerarbeit‘, dem ein Missverständnis Freudscher Trauertheorie zugrunde liege: Diese beziehe sich auf die Bearbeitung individuell empfundener Verluste, lasse sich also nicht einfach in ein gesellschaftliches Postulat übersetzen.

Schneider und Jureit plädieren dafür, die NS-Vergangenheit anders zu repräsentieren. Statt eine „quasi-metaphysische“ Vorstellung vom „Bösen“ (S. 204) zu kultivieren und die eigenen Vorfahren als „fremde Spezies“ (S. 30) zu externalisieren, solle der Alltag der Tätergesellschaft in seiner zeitgenössisch empfundenen Ambivalenz und mit Blick auf „psychologische Mechanismen“ in den Blick genommen werden (S. 199ff.).

Dem ist sicher zuzustimmen, allerdings wird hierüber schon seit den späten 1980er-Jahren diskutiert. In KZ-Gedenkstätten findet die historische Beschäftigung mit TäterInnen statt, und ein Blick über den Rand des Berliner Stelenfeldes hätte der Autorin und dem Autor außerdem die Sicht auf viel besuchte ‚Täterorte‘ geöffnet. Die ‚Topographie des Terrors‘ (seit 1987), das Haus der Wannsee-Konferenz (seit 1992), die Dokumentationen auf dem Obersalzberg (seit 1999) und am Nürnberger Reichsparteitagsgelände (seit 2001) sind Orte, an denen das von Jureit und Schneider Eingeforderte längst praktiziert wird. Dass derzeit im Deutschen Historischen Museum eine Ausstellung mit dem Titel „Hitler und die Deutschen. Volksgemeinschaft und Verbrechen“ stattfindet, ist ein weiteres Zeichen dafür, dass die Auseinandersetzung mit der Tätergesellschaft den Mainstream erreicht hat.

Was den vorherrschenden gedächtnispolitischen Diskurs angeht, scheint den AutorInnen entgangen zu sein, dass der Antritt der rot-grünen Regierung 1998 einen folgenreichen Paradigmenwechsel von ‚deutscher Schuld‘ zu ‚deutscher Verantwortung‘ markiert. Gerade wenn man wie Jureit ein Interpretationsschema der „Generation als Selbstbeschreibungsformel“ (S. 78) anwendet, sollte man nicht übersehen, dass der damalige Kanzler Gerhard Schröder den Regierungswechsel zum „Generationswechsel im Leben unserer Nation“ stilisierte und für die Bundesrepublik daher „das Selbstbewusstsein einer erwachsenen Nation“ forderte, „die sich der Geschichte und ihrer Verantwortung stellt, aber bei aller Bereitschaft, sich damit auseinander zu setzen, doch nach vorne blickt.“1

Diese Neujustierung des offiziellen Diskurses stellt einen – durchaus erfolgreichen – Versuch der Realisierung des Weizsäcker-Diktums dar. Zugrundeliegen dürften hier weniger generationspsychologische als vielmehr realpolitische Dynamiken und Interessen seit der deutschen Vereinigung und des damit einhergehenden nation building-Diskurses. Das Ergebnis ist ein öffentliches NS-Gedächtnis, das nationale ‚Normalität‘ und Verantwortungsbewusstsein ex negativo signalisiert. Von einer „Wiederholungsphobie“ oder einem aus historischen Gründen immer schon beeinträchtigten „Lebensgefühl der nachwachsenden Generation“ kann dabei ebenso wenig die Rede sein wie von einer „Selbstermächtigung“ der ‚68er‘.

Trotz allem stellen Jureit und Schneider immer wieder wichtige Fragen oder machen erhellende Beobachtungen: Zu Recht problematisiert etwa Jureit die Europäisierung und Globalisierung des Holocaust-Gedenkens (S. 95ff.); und Schneiders Rekonstruktion des Verhältnisses zwischen Adorno und seinen Schülern (S. 117ff.) ist ebenso lesenswert wie seine Überlegungen zu ‚historischer Trauer‘. Überzeugen kann auch Jureits Kritik an der „Vorstellung homogener Gemeinschaften“ (S. 68), die der Assmannschen Gedächtnistheorie zugrunde liege.

Nachhaltig konterkariert werden solche Lichtblicke allerdings durch das ‚68er‘-Bashing, das letztlich den roten Faden des Buches ausmacht.2 Da ist die Rede von „Hohen Priestern des moralisch einwandfreien Gedenkens“ (S. 33), einer „rigorosen Sanktionierung dessen, was in Deutschland über den Holocaust, über Kriegsverbrechen und historische Schuld gesagt werden darf“ (S. 30) oder diskursiven „Verbote[n]“ (S. 148). Entsprechend eingetrübt ist der Blick auf neuere Gedächtniskontroversen von der Walser-Debatte (vgl. S. 166ff.) über das Vertriebenenthema (vgl. S. 33) bis zu Günter Grass’ Mitgliedschaft in der Waffen-SS (vgl. S. 31ff.). Jedenfalls stellt sich bei der Lektüre die Vorstellung ein, die jeweiligen Protagonisten und ihre Fürsprecher seien irgendwie mundtot gemacht geworden. Hier schließt das „Unbehagen“ der AutorInnen nahtlos an das weit verbreitete Geraune an, man dürfe in Deutschland nicht sagen, was man denkt.

Das deutliche Ressentiment gegen ‚die 68er‘, kombiniert mit der Methode, aus mitunter durchaus anregenden Reflexionen einzelner gedächtniskultureller Phänomene apodiktische Zeitdiagnosen abzuleiten, macht Jureits und Schneiders Streitschrift problematisch – so dringlich die kritische Analyse zeitgenössischer Gedächtniskultur zweifellos ist.

Anmerkungen:
1 Gerhard Schröder: „Weil wir Deutschlands Kraft vertrauen“. Regierungserklärung des Bundeskanzlers am 10. November vor dem Deutschen Bundestag in Bonn, online z.B. unter <http://www.mediaculture-online.de/fileadmin/bibliothek/schroeder_RE_1998/schroeder_RE_1998.pdf> (11.2.2011).
2 Zu diesem Ergebnis kommt auch der Politologe Helmut König in seiner Rezension: Die Erinnerungskultur und die Zeitläufte, in: Neue Zürcher Zeitung, 4.10.2010,
<http://www.nzz.ch/magazin/buchrezensionen/die_erinnerungskultur_und_die_zeitlaeufte_1.7800751.html> (11.2.2011).

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