A. Prusin: East European Borderlands, 1870-1992

Cover
Titel
The Lands Between. Conflict in the East European Borderlands, 1870-1992


Autor(en)
Prusin, Alexander V.
Reihe
Zones of Violence
Erschienen
Anzahl Seiten
324 S.
Preis
€ 43,78
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Felix Schnell, Humboldt-Universität zu Berlin

Was „dazwischen“ liegt, kann oft nur ex negativo beschrieben werden. Wir haben keinen trennscharfen Begriff für den Gegenstand, mit dem Alexander Prusin sich beschäftigt: es handelt sich um östliche Teile Ostmitteleuropas und westliche Teile Osteuropas, „Grenzländer“ oder „Frontier-Zonen“ von Imperien und größeren politischen Einheiten. Es ist interessant, dass Autor und Leser scheinbar gezwungen sind, sich eine „imperiale“ Sichtweise gesellschaftlicher Tragödien zu eigen zu machen, die gerade von diesen Imperien wesentlich verursacht wurden.

Im Gegensatz von Timothy Snyders „Bloodlands“ ist Prusins geographischer Zugriff enger, der zeitliche dagegen sehr viel weiter. Konzentriert ersterer sich auf die Verbrechen der durch Hitler und Stalin repräsentierten totalitären Systeme, so schlägt Prusin einen Bogen vom späten 19. Jahrhundert bis zum Verfall der Sowjetunion. Thematisch liegt der Schwerpunkt aber wie bei Snyder auf der Gewalt und ihren Ursachen. In neun Kapitel erzählt Prusin die Geschichte der „Grenzländer“, wobei sechs den gewaltintensiven Phasen von 1914-20 sowie 1939-1953 gewidmet sind, in denen Millionen Menschen starben, Verletzungen an Leib und Seele davontrugen oder ihre Heimat verloren.

Was die grundlegende Ursache der Gewalt in den Grenzländern betrifft, lässt Prusin keinen Zweifel aufkommen: Sie war weder auf eine vermeintlich besonders stark ausgeprägte Konflikttradition noch auf die starke ethnische Gemengelage zurückzuführen. Sie wurde vielmehr von außen und von oben durch die politischen Mächte induziert, die die Region beherrschen und unter Kontrolle halten wollten.

Im 19. Jahrhundert war es in den angesprochenen Regionen noch relativ ruhig. Imperiale Herrschaft und multiethnisches Zusammenleben funktionierten in der Praxis besser als man angesichts der üblichen Verfallserzählungen meinen könnte. Aber schon damals wurde das imperiale Prinzip zunehmend in Frage gestellt – keineswegs von der Mehrheit der einfachen Untertanen, die sich mit den obwaltenden Verhältnissen in der Regel arrangierten; vielmehr von einer zahlenmäßig relativ kleinen, aber lautstarken Schicht national(istisch)er Aktivisten. Aber auch die Vertreter der angegriffenen Ordnung trugen dazu bei. In den imperialen Zentren breitete sich Unsicherheit aus. Das eigene Imperium wurde immer stärker in Kategorie des Nationalen gedeutet und als bedroht wahrgenommen. Prusin hat wahrscheinlich recht, wenn er andeutet, dass die Sorge vor Separatismus größer war als seine tatsächliche Kraft. Aber die Frage nach der Loyalität derjenigen Untertanen, die nicht zur Titularnation zählten, gewann schon vor 1914 erheblich an Gewicht.

Im Ersten Weltkrieg wurden die Grenzländer nicht nur zum Schlachtfeld feindlicher Armeen. Anders als im Westen wurde der Krieg hier faktisch auch gegen die Bevölkerungen geführt. Imperiale Unsicherheit steigerte sich zu einem Gefühl existentieller Bedrohung durch „andere“ und „unzuverlässige“ Bevölkerungen. Die Generäle, die faktisch an die Stelle der Regierungen traten, reagierten darauf mit Verfolgung, Hinrichtungen und Deportation ganzer Bevölkerungen, die eine Vorform ethnischer Säuberungen darstellte. Ethnisierung war ein Ergebnis dieser Entwicklung, keineswegs ihre Ursache. Im Bestreben Ordnung zu schaffen, zwangen die kriegführenden Mächte die Bevölkerung, in ethnischer Hinsicht Farbe zu bekennen und schufen dadurch erst eine Eindeutigkeit, die früher weder vorhanden noch für die meisten Menschen nötig gewesen war.

Nicht nur während und unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg spielte die Nation in den Grenzländern eine bedeutende Rolle, sondern auch in den darauffolgenden Dekaden, unabhängig davon ob gerade Krieg herrschte oder nicht. Stets aber war ethnische Differenzierung kein Auslöser von Konflikten, sondern vielmehr ein Instrument im Kampf um Macht und knappe ökonomische Ressourcen. Außerdem stellte die Nation für viele Menschen ein Mittel dar, um sich in Situationen der Unsicherheit und Desorientierung ihrer selbst zu versichern. Es ist eine der Stärken von Prusins Buch zu zeigen, dass Nationalität weder „primordial“ gegeben noch ursächlich für Konflikte war, sondern unter den Bedingungen sozialer und politischer Desintegration funktionellen Charakter hatte. Und weil Prusin auch friedliche Zeiten in den Blick nimmt, kann er am Beispiel der poststalinistischen Sowjetunion sehr gut zeigen, wie wenig Konjunktur die Nation in Zeiten ökonomischen Wachstums und sozialer Integration hatte. Erst wirtschaftliche Stagnation und Krise führten in der späten Sowjetunion zu einer Wiederbelebung der Nation als Abgrenzungsmittel gegen ein dysfunktionales Zentrum.

Hauptsächlich aber geht es Prusin um die Gewalt und auch hier bewegt sich das Buch durchweg auf der Höhe neuerer Erkenntnisse:So sehr Großmächte auch für den Beginn der Gewalt in den Grenzländern verantwortlich waren; so sehr die Gewalt dann von staatlichen Akteuren weitergetragen und so groß schließlich die Bedeutung politischer Programme und Ideologien in allen militärischen Auseinandersetzungen zwischen 1914 und 1953 auch waren – durch diese Faktoren allein ist die Gewalt weder zu erklären noch zu verstehen. Sie schufen vielmehr Bedingungen, unter denen eine „Konfliktkultur“ auch für breite Teile der Bevölkerungen zur Normalität wurde. Von Beginn an spielten nicht-staatliche Akteure sowie materielle und emotionale Motive eine große Rolle für Reproduktion und Verstetigung der Konflikte. Trittbrettfahrer aller Art trugen den Impuls der Gewalt in lokalen Kontexten weiter und waren oft treibende Kraft der Grausamkeiten. Das gilt ebenso für die Kriege in den Jahren 1918 bis 1920 wie auch von 1939 bis 1953. Gewalt eskalierte, wurde buchstäblich zur Lebensform vieler Menschen und bedurfte weder politischer Programme noch Ideologien, um sich fortzusetzen. Prusin zeigt sehr eindrücklich, dass „Jedwabne“ als Prinzip lokaler Selbstermächtigung keine Ausnahme, sondern eine häufige Erscheinung war. Denn staatliche Obrigkeiten hatten entweder kein Interesse oder keine Möglichkeiten, die Gewalt wirksam einzudämmen, hießen sie sogar willkommen oder instrumentalisierten sie. Dieses Zusammenspiel staatlicher und nicht-staatlicher Akteure kann man insbesondere im Kapitel über die Bürgerkriege während des Zweiten Weltkrieges beobachten, das zu den stärksten des Buches zählt.

Kritisieren könnte man, dass Prusin seine reichhaltige Lektüre der Forschungsliteratur nicht benutzt, um seine Befunde auch theoretisch etwas mehr aufzuarbeiten. Das gilt insbesondere für den Begriff der „zones of violence“, der immerhin als Klammer der von David Bloxham und Mark Levene herausgegebenen Reihe dient, in der Prusins Buch erschien. Der Begriff selbst taucht im Text nicht ein einziges Mal auf, Formulierungen wie „culture of conflict“ oder „emotionally overloaded spatial domains“ werden nicht erläutert und bleiben damit ebenso im Reich der Metaphern wie „hotspots“. Das ist vor allem deshalb schade, weil Prusins Material gut geeignet scheint, unter vergleichbaren Umständen stets wiederkehrende Verhaltens- und Handlungsmuster aufzuzeigen, die sich auch auf andere Fälle übertragen ließen.

Ungeachtet dessen aber hat Alexander Prusin einen hervorragend geschriebenen, bemerkenswert knappen und konzisen Überblick über die Konfliktgeschichte der „Lands between“ vorgelegt, der in keiner Bibliothek fehlen sollte.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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