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Titel
Youth in the Fatherless Land. War Pedagogy, Nationalism, and Authority in Germany, 1914–1918


Autor(en)
Donson, Andrew
Reihe
Harvard Historical Studies 169
Erschienen
Cambridge (Mass.) 2010: Harvard University Press
Anzahl Seiten
329 S.
Preis
€ 45,00
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Rainer Bendick, Osnabrück

Andrew Donson hat eine tiefgründige, sehr gut recherchierte Studie über deutsche Kindheit und Jugend im Ersten Weltkrieg vorgelegt. Zunächst fällt die breite Quellenbasis auf, die das Deutsche Reich in seiner, gerade im Bereich Erziehung und Schule, komplexen Vielfältigkeit gut erfasst. Donson beschränkt sich nicht nur auf die Bestände der preußischen Zentralbehörden. Er hat auch die Überlieferungen preußischer Provinzialverwaltungen, exemplarischer Großstädte (unter anderem Hamburg, Düsseldorf, Darmstadt oder München) und süddeutscher Bundesstaaten (Hessen und Bayern) sowie die im Bereich Jugendpflege und Jugendhilfe tätigen Organisationen bearbeitet. Des Weiteren hat Donson die überaus reiche deutsche pädagogische Presse und Jugendzeitschriften mit mehr als 70 (!) Titeln ausgewertet. Das Verhalten der Jugendlichen wird so nicht nur aus der Perspektive der Erwachsenen erfasst. Durch die zusätzliche Analyse von unter anderem Schulaufsätzen, Kriminalstatistiken, Lohnentwicklungen und anderem oder (wenn auch auf die Ereignisse rückblickend) von Lebenserinnerungen gelingt es Donson gut, die Perspektive der Jugendlichen selbst zu thematisieren. Im Grunde handelt es sich um eine komplette Gesellschaftsgeschichte der deutschen Jugend im Großen Krieg.

Donson beginnt seine Analyse im Jahrzehnt vor dem Kriegsausbruch. Hier geht er differenziert auf die Situation der Jugendlichen ein. Er beschreibt das im internationalen Vergleich dichte, aber auch vielfältige, von staatlichen, parteipolitischen und kirchlichen Organisationen geprägte Netz an spezifischen Angeboten zur Betreuung von Jugendlichen und zeichnet die Debatten und Projekte zur Perfektionierung bestehender Strukturen und Inhalte nach. Dabei stellt er heraus – und das ist seine erste zentrale These –, dass die Erziehung im Kaiserreich keineswegs von engen chauvinistischen oder militaristischen Inhalten und Formen geprägt war. Im Gegenteil. Gestützt auf eine dichte Dokumentation der öffentlichen Bewertungen und Aufnahmen entsprechender Angebote stellt er die landläufige Überzeugung von dem nationalistischen, kriegsverherrlichenden Drill, dem die deutsche Jugend vor 1914 ausgesetzt gewesen sei und den sie in sich aufgenommen habe, überzeugend in Frage. Dabei stützt er sich unter anderem auf Zahlen der Teilnahme an paramilitärischen Veranstaltungen oder auf Umfragen zu Berufswünschen von Schülern.

Der Ausbruch des Krieges und die schlagartig sich entwickelnde Kriegspädagogik veränderten die Situation völlig und bewirkten geradezu eine Umkehrung der bestehenden Verhältnisse. Ausgehend von diesem treffenden Befund entwickelt Donson seine zweite zentrale These: Die allgegenwärtigen kriegspädagogischen Ansätze hätten die überlieferten Standards der Untertanenerziehung beseitigt, den Lehrern große Freiheit in der Gestaltung des Unterrichts gegeben und die Unterrichtsreformen der Weimarer Republik in Teilen vorweg genommen.

Diese These ist vor der Hand bestechend. In der Tat führte die Kriegspädagogik dazu, dass die bestehenden Lehrpläne zum Teil obsolet wurden und neue, schülerorientierte Methoden Einzug in die Klassenzimmer hielten. Schüler wurden jetzt selbst aktiv, indem Sie eigenständig Zeitungsberichte über den Kriegsverlauf sammelten und auswerteten, freie Aufsätze zum Thema Krieg schrieben und in ihrem Tun nicht mehr nur durch den Lehrer gesteuert wurden, sondern selbst Schwerpunkte ihrer Arbeit setzen konnten. Ausführlich und auf verschiedenste Materialien gestützt stellt Donson diese neuen Aspekte des Unterrichts dar. Selbstverständlich entspannte sich durch die neuen Methoden das Verhältnis zwischen Lehrenden und Lernenden hin zu einer größeren Autonomie der Lernenden. Außerhalb des eigentlichen schulischen Betriebs führt Donson überzeugend die Veränderung der Lebenswelt der Jugendlich an, von Jugendkompanien bis zur Herstellung von Liebesgaben, von der Erwerbstätigkeit bis zur neuen Rolle der Heranwachsenden in einer weitgehend vaterlosen Kriegsgesellschaft. Fraglich erscheint aber, dass dadurch das Prinzip der Untertanenerziehung im Bereich der Schule selbst in Frage gestellt worden sei (S. 74ff). Donsons Argumentation bezieht sich ganz überwiegend auf die Methodik, die Didaktik rückt aber kaum in seinen Fokus. Die mit einer neuen, den alten Unterrichtsformen widersprechenden, Methodik vermittelten Inhalte stellten die soziale Ordnung des Kaiserreichs, den Untertanenverband, doch kaum in Frage. Wiederholt bezieht sich Donson recht allgemein auf „curriculum“. Hier wäre es wünschenswert gewesen, wenn exemplarisch an einem neuen Lehrplan nicht nur die methodischen, sondern auch der didaktischen Aspekte kriegspädagogischer Ansätze und deren Umsetzung thematisiert worden wären. Der neue preußische Lehrplan für den Geschichtsunterricht an den höheren Schulen von 1915 etwa akzentuierte gerade die Rolle der Hohenzollern in der preußisch-deutschen Geschichte und scheint Donsons Feststellung von der Aufweichung der Untertanenerziehung eher entgegen zu stehen. Kriegspädagogische Ansätze hingegen forderten eine Neugründung des Reichs im Zeichen des Krieges und des agonalen Prinzips. In wie weit diese Forderungen das reale Unterrichtsgeschehen tatsächlich veränderten ist schwierig nachzuweisen. Sicher ist nur, dass die Unterrichtsverwaltungen alles taten, konkrete inhaltliche Forderungen der Kriegspädagogik abzuwehren.

Fraglich erscheint vor allem die angedeutete Kontinuitätslinie zur Weimarer Republik. Sicherlich forderte zum Beispiel der Artikel 148 der Weimarer Verfassung, dass jeder Unterricht Arbeitsunterricht zu sein habe, also schülerorientiert sein müsse. Diese methodische Anweisung war aber verbunden mit konkreten Inhalten, nämlich, dass der Unterricht im Sinne der Völkerversöhnung erteilt werden müsse und dass Staatsbürgerkunde im Sinne der Republik Unterrichtsfach werde. Auch die den republikanischen Erziehungsansätzen verpflichteten Schulbücher, etwa Kaweraus „Synoptische Tabellen“ oder Wuessings „Geschichte des deutschen Volks“1, setzen das Prinzip der Schülerorientierung um, dabei greifen sie aber nicht auf kriegspädagogische Konzepte zurück, sondern auf die der Schulreformer vor 1914, auf das Prinzip der Arbeitsschule, die die Schüleraktivitäten in den Mittelpunkt des Unterrichts stellt. Gewiss förderten auch die Kriegspädagogen die Aktivität der Schüler, aber die Kontinuitätslinie der Kriegspädagogik führt doch eher zu den nationalsozialistischen Pädagogen, deren Konzepte wie Aktualisierungen der Kriegspädagogik des Weltkriegs wirken.

Besonders anregend ist Donsons abschließende These zu den generationsspezifischen Erfahrungen der Kriegsjugend und ihres, aus diesen Prägungen folgenden, späteren politischen Engagements. In einer differenzierten Argumentation, die pauschale Aussagen über „die Kriegsjugend“ vermeidet, die Jugendlichen vielmehr nach ihrem sozialen und politischen Milieus unterscheidet, entwickelt Donson eine zunächst schlüssige Erklärung für die spätere politische Radikalisierung nach links, als Reaktion auf den vermeintlichen Verrat der Mehrheitssozialdemokratie durch ihre Zustimmung zum Krieg, oder nach rechts, als Folge der Enttäuschung über den angeblich von der Revolution verhinderten eigenen Kriegseinsatz und militärischen Sieg. Die spezifische Prägung durch die Kriegskultur konnte ihre fatale Wirkung aber nur im Zusammenspiel mit den besonderen Umständen nach 1918 entfalten. Daher wäre es wünschenswert, Donsons These zu vertiefen, indem die Versuche analysiert werden, die Kriegskultur wieder aus den Schulen und Jugenderziehung zu verbannen. Die Debatten um den Artikel 148 der Reichsverfassung, die Bemühungen neue Unterrichtsinhalte und Schulbücher einzuführen oder der Staatsbürgerkundeunterricht im Hinblick auf die in Versailles verfügte neue Friedensordnung könnten dazu aufschlussreiche Hinweise geben. Erst die spezifischen Bedingungen nach 1918 führten dazu, dass die kriegspädagogischen Konzepte in bestimmten Milieus attraktiv blieben. Donson deutet in der dichten, gut argumentierten Konklusion diesen Zusammenhang an, führt ihn aber nicht weiter aus.

Es war wohl nicht möglich, der bereits umfangreichen Studie noch weitere Inhalte hinzuzufügen. Das gilt umso mehr, als das Buch noch auf andere Perspektiven verweist, etwa auf die verheerenden Folgen der Blockade oder auf die kindlichen Reaktionen gegenüber dem Krieg. Diese Teile von Donsons Untersuchung setzen ein deutliches Fragezeichen hinter Vorstellungen einer alles erfassenden, geradezu urwüchsig wuchernden Kriegskultur oder eines allgemeinen „consentement patriotique à la guerre“ – Vorstellungen, die die Vertreter der Peronneser Schule mit Verve vertreten.2

Anmerkungen:
1 Siegfried Kawerau u.a. (Hrsg.), Synoptische Tabellen für den geschichtlichen Arbeitsunterricht vom Ausgang des Mittelalters bis zur Gegenwart, Berlin 1923; Fritz Wuessing, Geschichte des deutschen Volkes. Vom Ausgang des Achtzehnten Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Ein sozialpsychologischer Versuch, Berlin 1921.
2 Stéphane Audoin-Rouzeau, Anette Becker, 14-18, retrouver la guerre, Paris 2000.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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