W. Achtner: Willensfreiheit in Theologie und Neurowissenschaften

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Titel
Willensfreiheit in Theologie und Neurowissenschaften. Ein historisch-systematischer Wegweiser


Autor(en)
Achtner, Wolfgang
Erschienen
Anzahl Seiten
288 S.
Preis
€ 59,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Udo Reinhold Jeck, Institut für Philosophie, Ruhr-Universität Bochum

Das okzidentale Menschenbild ist wesentlich durch die Idee der Freiheit bestimmt, die sich im Begriff der Willensfreiheit konkretisiert. In seiner Rechtsphilosophie schrieb Hegel 1821 (§ 4): „Der Boden des Rechts ist überhaupt das Geistige, und seine nähere Stelle und Ausgangspunkt der Wille, welcher frei ist, so dass die Freiheit seine Substanz und Bestimmung ausmacht[...]“. Die Freiheit des Willens erschien Hegel als Fundament menschlicher Praxis. Diesen Standpunkt gaben auch andere Denker des Deutschen Idealismus niemals auf, doch verlor ihre Philosophie unter dem zunehmenden Einfluss der Naturwissenschaften ihre beherrschende Stellung. Neue Erkenntnisse in der anatomischen und physiologischen Gehirnforschung förderten Mitte des 19. Jahrhunderts den Aufbau einer materialistischen Philosophie mit deutlich antiklerikalen Tendenzen. Das Dogma von der Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit des menschlichen Willens gerieten in die Kritik: Das Bewusstsein und seine Aktivitäten galten nun als Funktion des Gehirns und nicht als von der zerebralen Materie unabhängige Instanzen. Der Streit um die Willensfreiheit unter Berücksichtigung neurowissenschaftlicher Forschungsergebnisse ist daher nichts Neues; die in älteren Auseinandersetzungen präfigurierte Grundkonstellation erlebt im Augenblick lediglich eine Renaissance.

Weil aber neue medizinische Techniken einen vertieften Einblick in das lebendige Gehirn gewähren, lässt sich die Beziehung des Hirngeschehens zu den Willensakten detaillierter als je zuvor erkennen. Die „Libet-Versuche“ eröffneten zusätzliche Perspektiven. Die Entdeckung, dass jeder Willensentschluss durch Gehirnprozesse vorbereitet wird, fand vor allem deshalb große Beachtung, weil bedeutende Neurowissenschaftler aus diesen empirischen Befunden radikale Konsequenzen publikumswirksam präsentierten. Einige verlangten sogar juristische Konsequenzen aus ihren Hypothesen: Wenn es keinen freien Willen gebe, sei niemand für seine Handlungen verantwortlich. Traditionell geprägte Wissenschaftler bezeichneten diese zugespitzten Thesen als falsch, denn durch eine strikte Leugnung der Willensfreiheit schien die von der Idee der Freiheit geprägte Basis des menschlichen Selbstverständnisses in Gefahr. Sie beharrten auf der Freiheit des Willens als Ausgangspunkt für verantwortliches ethisches Handeln. Diese andauernde Debatte dokumentiert eindrucksvoll: Zahlreiche Neurowissenschaftler brachten wichtige Daten aus experimentellen Forschungen in die Diskussion über die Willensfreiheit ein, die niemand ignorieren darf, aber auch keiner ungeprüft übernehmen sollte. Sieht man von manchen Übertreibungen ab, so gehört dieser Impuls zu den bleibenden Verdiensten der gegenwärtigen Neurowissenschaften. Er verhalf auch ihren Kritikern zur Klärung der eigenen Position.

Das Gehirn steuert nicht nur die gesamte Leiblichkeit des Menschen, sondern besitzt auch eine privilegierte Beziehung zum Bewusstsein. Alle bewussten Aktivitäten, das heißt auch Willensentscheidungen, ereignen sich nicht ohne Mitwirkung des Zentralorgans. Diese These ist ein durch empirische Forschung abgesichertes Wissen. Die Neurowissenschaftler können insofern glänzende Erfolge vorweisen, und sie vertiefen die Einsicht in die kreativen Prozesse des Gehirns. Dennoch ist kein Ende oder gar ein Abschluss der Erkundung des Gehirns in Sicht. Der Grund dafür liegt darin, dass sich das menschliche Gehirn als die komplexeste Materie des bekannten Universums erweist. Diese rätselhafteste aller natürlichen Entitäten entzieht sich allen traditionellen Deutungsmustern. Als Naturgegenstand ist das Gehirn jedoch in das gesamte Geschehen der Natur eingebunden, ihren Gesetzen unterworfen und insofern in einen großen Rahmen eingefügt. Materialisten und Naturalisten zogen daraus den Schluss, dass die Beziehung von Gehirn und Willensentscheidung ebenfalls in den Bereich determinierter Naturprozesse gehört.

Kant entschied sich anders. Auch er untersuchte die Möglichkeit menschlicher Freiheit und Willensfreiheit innerhalb einer nach festen Gesetzen bestimmten Natur, doch verstand er unter „Freiheit [...] das Vermögen, einen Zustand von selbst anzufangen, deren Kausalität also nicht nach dem Naturgesetze wiederum unter einer anderen Ursache steht, welche sie der Zeit nach bestimmte“ (Kritik der reinen Vernunft, A 533 / B 561). Die Frage nach Freiheit und Willensfreiheit besitzt daher mehr als eine ethische und rechtsphilosophische Dimension, im Hintergrund steht auch ein ‚kosmologisches‘ Moment.

Die traditionelle Philosophie hat aber nicht nur die Frage aufgeworfen, wie sich Spontaneität und Freiheit innerhalb der Natur denken lässt, sondern sie problematisierte auch die freiheitliche Stellung des Menschen zu Gott. Als zentrales Dokument dieser Auseinandersetzung gilt Schellings „Philosophische Untersuchungen über das Wesen der menschlichen Freiheit“ (1809). Schelling kritisierte den deterministischen Pantheismus Spinozas: Der Mensch erfährt aus seiner Sicht durch das göttliche Sein keine Beschränkung, sondern schöpft daraus erst die Möglichkeit seiner Freiheit. Heidegger ging 1936 in seiner Vorlesung „Schellings Abhandlung über das Wesen der menschlichen Freiheit“ noch einen Schritt weiter: Er deutete die Freiheit aus dem Horizont der Offenbarkeit des Seins sowie als die Grundbestimmung des menschlichen Daseins.

An diesem Anspruch müssen sich alle Untersuchungen zur Willensfreiheit – nicht nur in der abendländischen Philosophie, sondern auch in der christlichen Theologie – messen lassen. Augustins Thesen zur Prädestination sowie der Streit zwischen Luther und Erasmus von Rotterdam über die Freiheit des Willens erreichten eine enorme geschichtliche Wirkung. Die detaillierten Zusammenhänge und ihr historischer Kontext blieben allerdings undurchsichtig und mancher wichtige Beitrag dazu geriet in Vergessenheit. Es bedurfte eines Wegweisers durch die Fülle dieses komplexen Beziehungsgefüges.

Ein derartiger Leitfaden liegt nun vor. Achtners beeindruckendes Werk gliedert sich in einen historischen und einen systematischen Abschnitt. Im historischen Teil untersucht Achtner antike Willenskonzepte (S. 16-25), liefert Studien zur Willenstheorie in den biblischen Schriften (S. 26-49), bei den Kirchenvätern (S. 50-91), im Mittelalter (S. 92-136) sowie in Humanismus und Renaissance (S. 137-205). Dabei verwertet er eine außerordentliche Materialfülle und zeichnet bisher verborgene Entwicklungslinien detailliert nach. Auch die neuzeitliche theologische Behandlung des Problems fehlt nicht, wird allerdings nicht in derselben Ausführlichkeit erörtert wie die früheren historischen Abschnitte der Problemdiskussion.

Im systematischen Teil nimmt der Verfasser die Beziehungen zwischen neurowissenschaftlichen und theologischen Konzeptionen zur Willensfreiheit aus gegenwärtiger Perspektive kritisch in den Blick („6. Willensfreiheit in den Neurowissenschaften“, S. 223-232; „7. Neurowissenschaft, Soziobiologie und Ethik“, S. 232-236; „8. Die theologischen Positionen zur Willensfreiheit im Lichte der Hirnforschung“, S. 236-250). Dabei kommt er zu dem überraschenden Ergebnis: „Wir haben gesehen, dass diese Willenskonzeptionen teilweise mit den verschiedenen Vorstellungen von Willensfreiheit in den Neurowissenschaften interferieren“ (S. 249). Es gibt also mehr Berührungspunkte zwischen Theologie und Neurowissenschaften, als es zunächst scheint. Wer neue Einsichten gewinnen will, muss also beide Perspektiven bedenken. Achtner stellt daher zum Schluss sein eigenes „integral-dynamisch-personales Modell von Willensfreiheit aus theologischer und neurowissenschaftlicher Sicht“ vor (S. 251-255). Ob dieses Konzept allen theoretischen Ansprüchen genügt, muss offen bleiben. So viel steht allerdings fest: Achtner bereichert mit seinem Entwurf die gegenwärtige Diskussion zur Willensfreiheit um eine wichtige neue Perspektive.

Wer über die Beziehung zwischen Neurowissenschaften und Theologie weiter nachdenken will, findet in Achtners Untersuchung zahlreiche Anregungen. So könnte zum Beispiel die „Neurotheologie“, die Ende des 20. Jahrhunderts erstmals in Erscheinung trat, von seiner Studie profitieren. Auch das umfangreiche Literaturverzeichnis (S. 260-274) bietet gebündelt wichtige Informationen zu weiteren Überlegungen. Zudem erleichtern Register den Zugang zum Stoff (S. 275-288).

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die neuen empirischen Erkenntnisse der Gehirnforschung lösten eine gesteigerte Aktivität in Wissenschaft und Medien aus. Deshalb schwoll die Literatur außerordentlich an. Manche Äußerungen erweckten dabei den Eindruck, als habe die moderne Neurowissenschaft das Problem der Willensfreiheit erstmals aufgerollt und eine völlig neue Thematik zur Diskussion gestellt. Diese These hält der Prüfung nicht stand. Eine unvoreingenommene Sichtung der überlieferten Dokumente gelangt nämlich, wie Achtner überzeugend gezeigt hat, zu einem völlig anderen Ergebnis.