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Titel
Luftbeben. An den Quellen des Terrors


Autor(en)
Sloterdijk, Peter
Erschienen
Frankfurt am Main 2002: Suhrkamp Taschenbuch Verlag
Anzahl Seiten
112 S.
Preis
€ 7,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Gerlich M. A.

Peter Sloterdijk nimmt in seinem Essay eine Betrachtung des 20. Jahrhunderts vor und trifft dabei Aussagen, die auch für die militärhistorische Forschung von Relevanz sind. Er beschreibt die Originalität dieser Epoche anhand dreier Kriterien: der Praxis des Terrorismus, des Konzepts des Produktdesigns und des Umweltgedankens. Das erste Kriterium ist dominierend und bedingt die beiden anderen. Sloterdijk rekonstruiert auf atemberaubende Weise die Veränderung der Praxis des Terrorismus im Laufe des 20. Jahrhunderts.

Der Beginn dieser Epoche lässt sich mit "hoher Punktgenauigkeit" definieren, sie begann am 22. April 1915 exakt um 18 Uhr mit dem ersten Großeinsatz von Chlorgasen als Kampfmittel im nördlichen Ypern-Bogen, sie begann mit dem Ausbruch des Gaskriegs im Ersten Weltkrieg, dem "Krieg im Kriege". Mit ihm tritt ein neues "technisches Muster" in Erscheinung - die Einführung der Umwelt in den Kampf der Kontrahenten: "Man wird das 20. Jahrhundert als das Zeitalter in Erinnerung behalten, dessen entscheidender Gedanke darin bestand, nicht mehr auf den Körper eines Feindes, sondern auf dessen Umwelt zu zielen. Dies ist der Grundgedanke des Terrors im expliziten Sinn." (S. 12)

Die Soldaten der Westfront erlebten nicht weniger als den "Übergang des klassischen Krieges in Terrorismus, sofern dieser die Absage an das alte Klingenkreuzen zwischen ebenbürtigen Gegnern zur Voraussetzung hat" (S. 14). Was ist Terrorismus? Terrorismus ist kein Gegner, sondern ein "modus operandi", eine Kampfmethode. "Der Terrorismus hebt die Unterscheidung zwischen Gewalt gegen Personen und Gewalt gegen Sachen von der Umweltseite her auf: er ist Gewalt gegen jene menschen-umgebenden 'Sachen', ohne welche die Personen nicht Personen bleiben können." (S. 23) Er nutzt es aus, dass Menschen ein User-Verhältnis zu ihrer Umwelt haben und diese naturgemäß zunächst ausschließlich als Stumme Voraussetzung ihres Daseins konsumieren. Er wandelt Harmlosigkeiten in Kampfzonen um (S. 26 f.).

Der Holocaust im Zweiten Weltkrieg, die Flächenbombardierungen von Großstädten im Zweiten Weltkrieg (Brandnacht von Dresden) und die Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki im Zweiten Weltkrieg sowie die Anschläge auf das World Trade Center und das Pentagon am 11. September 2001 gehören laut Sloterdijk ausnahmslos in die Explikationsgeschichte dessen, was an jenem Abend an der Westfront begann. Die Unterscheidung von Kriegshandwerk einerseits und Terrorismus andererseits ist überholt.

Ein für den Ausbruch des Gaskriegs im Ersten Weltkrieg entscheidender Akteur ist der Chemiker, Patriot und Jude Fritz Haber - Direktor des Kaiser-Wilhelm-Instituts für physikalische und Elektrochemie und Leiter des Referats für "Gaskampfwesen" im Kriegsministerium des Ersten Weltkriegs. Er propagierte den Einsatz von Gas auf deutscher Seite mit der Absicht, den Krieg zu verkürzen und so das Leiden der Völker zu beenden. Manche der damaligen Mitarbeiter Fritz Habers wandten sich nach 1918 der agrarischen "Schädlingsbekämpfung" zu. 1924 wurde die Hamburger Firma Tesch & Stabenow (Testa) gegründet, deren 1926 patentiertes Spitzenprodukt unter dem Namen Zyklon B Bekanntheit erlangen sollte. Bruno Tesch, einer der beiden Firmengründer, war von 1915-1920 an Habers kriegschemischem Institut tätig, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von einem britischen Militärgericht zum Tode verurteilt und 1946 hingerichtet. Es besteht eine personelle und sachliche Kontinuität vom Gaskrieg im Ersten Weltkrieg zum Holocaust im Zweiten Weltkrieg - auch der Holocaust war ein "Krieg im Kriege". Die Ideenverbindung zwischen der Schädlingsbekämpfung und der Exekution von Menschen ("Volksschädlingen") durch Blausäuregas erfolgte in einer gewissen "SS-Intelligenz" (S. 41), die so ihren eliminatorischen Antisemitismus in die Tat umsetzte. Sowohl die atmoterroristischen Prozeduren des Gaskriegs (1915-1918) als auch des genozidischen Gas-Exterminismus (1941-1945)zerstörten die Existenzmöglichkeit des Menschen, denn das menschliche In-der-Welt-Sein ist ein In-Atembarem-Sein (S. 47).

Das Auftreten der Luftwaffe ist ein weiterer Explikationsschritt des Atmoterrorismus. Die Luftwaffe stellt mit ihrem menschengemachten Sonderniederschlag ("Stahlgwitter") per se ein Zentralphänomen des verstaatlichten Atmoterrorismus dar. Luftangriffe besitzen ihrem "modus operandi" gemäß immer schon Überfallscharakter. Sie setzen die Verletzung der Feind-Lebenswelten voraus, was sogenannte Kollateralschäden an Zivilisten nüchtern einkalkuliert. Die Explikation durch die Luftwaffe geht über die Umwandlung von Lebenswelten in Gas- und Feuerkammern hinaus. Mit den nuklearen Explosionen am 6. und 9. August 1945 ereignete sich eine qualitative Eskalation: zur thermoterroristischen gesellte sich die strahlenterroristische Dimension: "Die Strahlenopfer von Hiroshima und Nagasaki [...] machten die Erkenntnis ausdrücklich, dass menschliche Existenz kontinuierlich in einer komplexen Wellen- und Strahlenatmosphäre angesiedelt ist [...]." (S. 57 f.)

In der Zeitspanne vom Gaskrieg bis zu den Atombombenabwürfen auf Japan findet eine zunehmende "Ausdrücklichkeit in der Problematisierung des menschlichen Aufenthalts in Gas- und Strahlenmilieus" statt. Die "radiologische Hintergrunddimension menschlichen In-der-Welt-Seins" (S. 62f.) ist heute Dauerthema in der (inter-) nationalen Umweltpolitik. Sloterdijk sieht das Atmosphärenbewusstsein "im Zentrum der Selbstexplikation der Kultur im 20. Jahrhundert" stehen (S. 77f.).

Eine Entfaltung des Atmosphärenbewusstseins hat auch in den weltweiten Streitkräften stattgefunden - die Luft hat ihre Unschuld verloren (S. 109). Es wäre spannend und ist ein Forschungsdesiderat, diese Entfaltung über 1945 hinaus in ihrer Dynamik zu analysieren. Sloterdijk verortet das größte Atmosphärenbewusstsein in der künftigen Ionosphärenkriegführung, wie das am 17. Juni 1996 veröffentlichte Projektpapier einer wissenschaftlichen Forschungsgruppe des Pentagons umreißt 1. Der sich damit ankündigende "totale Krieg" würde die Züge eines Umweltkrieges annehmen, in dem die Atmosphäre selbst zum Kriegsschauplatz werden würde, mehr noch: "die Luft geriete zu einer Waffengattung und zu einem Schlachtfeld eigener Art. [...] Weil der kommende totale Krieg prinzipiell atmoterroristisch und ökologisch (und somit im Medium totaler Kommunikation) ausgetragen werden wird, greift er auf die 'Moral' der Truppe über, die nun von der Bevölkerung kaum noch unterschieden wird." (S. 101)

Sloterdijk beschreibt hier einen Paradigmawechsel der Militärgeschichte "on the road to total war". Frühere Studien untersuchten überwiegend, ob es im Zeitraum 1861-1945 kriegführenden Staaten gelungen ist, tendenziell die gesamte Bevölkerung in ihre Kriegsmaschinerie und ihre Kriegshandlungen einzubeziehen (totale Mobilisierung) 2, was beispielsweise das sog. Hindenburg-Programm im Ersten Weltkrieg und die NS-Propaganda der (weiblichen) "Heimatfront" im Zweiten Weltkrieg zu erreichen suchten. Sloterdijk hingegen definiert die Totalität eines Kriegs hinsichtlich seiner Auswirkungen auf die (militärisch inaktiven) Zivilbevölkerungen. Nicht der Umfang an Tätern, sondern der Umfang an Opfern kennzeichnet den totalen Krieg, der, wenn er sich in der von Sloterdijk aufgezeigten Form ereignete, mit hoher Wahrscheinlichkeit der letzte Krieg auf der von Menschen bevölkerten Erde wäre. Das Zeitalter des totalen Kriegs ist nicht zu Ende. Stig Försters Hypothese "Einen realen totalen Krieg konnte und wird es nie geben." 3 ist zu falsifizieren.

Anmerkungen:
1 Weather as a Force Multiplier: Owning the Weather in 2025 (S. 64).
2 Siehe als Zwischenresümee der Forschungsergebnisse Stig Förster: Das Zeitalter des totalen Kriegs, 1861-1945. Konzeptionelle Überlegungen für einen historischen Strukturvergleich, in: Mittelweg 36, 8. Jg. (1999), Heft 6, S. 12-29.
3 Ibid.: S. 28 f.

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