H. Rottleuthner: Karrieren und Kontinuitäten

Cover
Titel
Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen vor und nach 1945.


Autor(en)
Rottleuthner, Hubert
Reihe
Justizforschung und Rechtssoziologie 9
Anzahl Seiten
395 S. + DVD
Preis
€ 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Annette Weinke, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena

Vorab ein Hinweis auf die Entstehung dieses Buches: Mehr als zehn Jahre lang finanziert die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) mit einer sechsstelligen Summe ein Forschungsprojekt zu Justizkarrieren im Nationalsozialismus und in der Bundesrepublik, doch die maßgeblichen bundesdeutschen Justizbehörden weigern sich unter Verweis auf die gesetzlichen Sperrfristen, ihre relevanten Aktenbestände für die wissenschaftliche Auswertung zur Verfügung zu stellen. Dass es auch anders geht, hat die Hamburger Senatsverwaltung für Justiz bewiesen, die sich bereits in den frühen 1990er-Jahren zur rückhaltlosen Offenlegung der General-, Straf- und Personalakten entschlossen hat. Einen dritten Weg wählte der Bundesgerichtshof (BGH), wobei man allerdings nicht hoffen kann, dass dies Schule macht: Der BGH stellte die begehrten Bestände selektiv einem einzelnen Forscher zur Verfügung und nahm sie danach wieder unter Verschluss.

Angesichts dieser beträchtlichen forschungspraktischen Hindernisse dürfte zweierlei schon jetzt feststehen: Mit seinem ambitionierten Projekt zu „Karrieren und Kontinuitäten deutscher Justizjuristen vor und nach 1945“ (kurz: KuK-Projekt) hat der Berliner Rechtssoziologe Hubert Rottleuthner nicht nur einen wichtigen Beitrag zur empirischen Elitenforschung im 20. Jahrhundert geleistet, sondern es ist ihm auch gelungen, die Materiallücken durch mühsame Rekonstruktionsarbeit und den Rückgriff auf verstreute Ersatzüberlieferungen teilweise zu schließen. Dass das Thema der personellen Kontinuitäten in der deutschen Justiz nach einem ersten Aufschwung Mitte der 1960er-Jahre auch innerhalb der boomenden Rechtssoziologie nicht systematisch weiterverfolgt wurde, ist auf verschiedene Ursachen zurückzuführen. Neben der anhaltenden Abwehrhaltung von großen Teilen der westdeutschen Richterschaft, die auch eine Reaktion auf die Propagandakampagnen der DDR darstellte, trugen vor allem Sebastian Haffners und Ralf Dahrendorfs pointierte Kritik am Illiberalismus der deutschen Justiz sowie der Einfluss der am Behaviorismus orientierten amerikanischen Rechtssoziologie zu einer Verlagerung der Forschungsinteressen bei.1 Zudem schien sich die Problematik in den 1970er-Jahren mit dem Generationenwechsel quasi von selbst erledigt zu haben. Erst durch die massenhafte Entlassung von DDR-Juristen erhielt die Kontinuitätsfrage 1989/90 wieder neue gesellschaftspolitische Relevanz.

Rottleuthner, der sich schon seit Längerem in vergleichender Perspektive mit dem Verhalten von Rechtsstäben in Diktaturen befasst, möchte vor allem zwei Fragen klären. Angesichts der Tatsache, dass die meisten Richter und Staatsanwälte nach 1933 eine hohe Konformitätsbereitschaft gezeigt haben, will er zum einen herausfinden, ob es neben weltanschaulichen Übereinstimmungen noch weitere Faktoren gab, die dafür entscheidend gewesen sein könnten. Zum anderen geht es ihm darum, nicht nur das Ausmaß der vielfach kritisierten personellen Kontinuitäten nach 1945 erstmals genauer zu quantifizieren, sondern auch zu untersuchen, inwieweit sich an Beispielen von Urteilen zur NS-Vergangenheit tatsächlich eine Personengebundenheit richterlicher Entscheidungen nachweisen lässt. Als Grundlage dient eine Datenbank mit Angaben zu über 34.000 Personen, die zwischen 1933 und 1964 im Höheren Dienst der Justiz tätig waren. Ermittelt wurden neben Grunddaten zur Person (Name, Geburts- und Todesdatum, Titel, Prüfungen, militärischer Rang) auch die einzelnen „Karriereschritte“. Dazu zählen Angaben zu Behörde, Land, Gerichtsbezirk, Zweigstelle, Dienstort und Dienstalter. Auch die Besoldungsgruppen sowie die Zugehörigkeiten zu einzelnen Senaten und Kammern wurden erfasst. Da die Personalakten nicht zur Verfügung standen, wurde ersatzweise auf Personalverzeichnisse, Handbücher, Fachzeitschriften, Geschäftsverteilungspläne sowie diverse Dokumentationen zur NS-Justiz zurückgegriffen, die seit Mitte der 1950er-Jahre von Propagandaeinrichtungen des Ostblocks und westdeutschen Organisationen erstellt wurden. Zu jeder Person, deren Daten sich in einer Access-Datei auf der beiliegenden CD abrufen lassen, können Profile erstellt werden, die einen Einblick in die Spezifika deutscher Justizlebensläufe ermöglichen. So ist es beispielsweise durch die Kombination bestimmter Abfrageformulierungen möglich, die Karriereverläufe ganzer Berufsgruppen zu ermitteln oder institutionelle Sonderentwicklungen zu beschreiben.

Von Rottleuthners Befunden, die hier in ihrer ganzen Vielfalt nicht dargestellt werden können und in verschiedener Hinsicht auch noch einer weiteren Vertiefung bedürfen, sollen nur zwei Punkte herausgegriffen werden. Erstens: Bemerkenswert im Hinblick auf den besonders intensiv untersuchten Aspekt der „Berufszufriedenheit“ ist die Erkenntnis, dass sich die berufliche Situation der nicht verdrängten Juristen nach 1933 in mehrfacher Hinsicht erheblich verbesserte. Abgesehen davon, dass sich der Konkurrenzdruck durch die Entlassung politisch und „rassisch“ unerwünschter Juristen deutlich verringerte, profitierten vor allem jüngere Juristen von der Verkürzung der Anwärterzeiten und dem Ausbau der Eingangsstellen. Damit verbunden war eine politisch motivierte Verbesserung der Besoldung. Aufschlussreich ist auch, dass diese Entwicklungen nicht, wie bislang angenommen, auf die neu hinzugekommenen Gebiete beschränkt blieben, sondern sich überwiegend im „Altreich“ vollzogen.

Zweitens: In Bezug auf die Zeit nach 1945 gelangt Rottleuthner erstmals zu einer differenzierten Gesamtschau der Elitenkontinuität, aber auch des vollzogenen Austauschs. Obwohl nicht alle Erkenntnisse neu sind, ergeben sich interessante Details. Auch wenn schon seit Längerem feststeht, dass der Anteil ehemaliger NS-Juristen am Bundesgerichtshof (BGH) nach 1950 mit etwa 70 Prozent überdurchschnittlich hoch war, während er am Bundesverfassungsgericht (BVerfG) mit anfangs 13 Prozent eher gering ausfiel, wurde die weitere Entwicklung noch nicht genauer beleuchtet. So trugen die spezifische Altersverteilung und die auf Traditionspflege abzielende Personalpolitik des Bundesjustizministeriums dazu bei, dass sich der Anteil am BGH bis Anfang der 1960er-Jahre sogar auf knapp 80 Prozent steigern konnte. Auch am BVerfG hatten im Jahre 1964 schließlich 8 von insgesamt 16 Richtern eine „Vergangenheit“.

Trotz seiner wichtigen Recherche-Ergebnisse macht dieses Buch einmal mehr deutlich, dass die Subdisziplin der „juristischen Zeitgeschichte“, deren Gründung in den 1990er-Jahren mit großer Emphase ausgerufen wurde, methodisch wie inhaltlich weitgehend auf der Stelle tritt. So fehlt es nicht nur an einer interdisziplinären Vernetzung zwischen Rechts-, Geschichts- und Sozialwissenschaften, sondern auch an Forschungseinrichtungen, an denen Großprojekte des hier beschriebenen Kalibers durchgeführt werden könnten. Auch die in der Rechtswissenschaft zu beobachtende Tendenz, die Geschichte von Recht und Justiz vor allem als Geschichte „für Juristen“ aufzufassen, trägt nicht gerade dazu bei, das Interesse an diesem Forschungszweig zu wecken. Es erscheint paradox, dass sich Rottleuthner trotz seines dezidiert sozialwissenschaftlichen Ansatzes nicht näher mit diesen strukturellen Verkrustungen auseinandersetzt. Weder ordnet er seine Erkenntnisse in einen größeren Forschungszusammenhang ein, noch formuliert er Schlussfolgerungen, die andere Forscher dazu animieren könnten, mit dem vorliegenden Datenpool weiterzuarbeiten. Vermutlich werden daher auch in Zukunft die anregendsten rechtshistorischen Arbeiten von Historikern geschrieben werden, ohne dass die Rechtswissenschaft von ihnen Kenntnis nimmt.

Anmerkung:
1 Vgl. Jörg Requate, Der Kampf um die Demokratisierung der Justiz. Richter, Politik und Öffentlichkeit in der Bundesrepublik, Frankfurt am Main 2008, S. 119ff., S. 261ff.

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