D. v. Melis: Entnazifizierung in Mecklenburg-Vorpommern

Titel
Entnazifizierung in Mecklenburg-Vorpommern.. Herrschaft und Verwaltung 1945-1948


Autor(en)
van Melis, Damian
Reihe
Studien zur Zeitgeschichte 56
Erschienen
München 1999: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
364 S.
Preis
€ 49,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rolf Bartusel, Uni Münster

Daß die Entnazifizierung in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ) nicht nur zur Ausschaltung und Bestrafung der ehemaligen NS-Eliten betrieben wurde, sondern darüber hinaus in entscheidender Weise den totalitären Herrschaftsanspruch der KPD durchzusetzen half, gilt bereits seit längerem als hinreichend gesicherter Erkenntnisstand. 1 Auf welchen Wegen und gegen welche Widerstände die deutschen Kommunisten indes ihr Ziel erreichten, darüber ist auch annähernd zehn Jahre nach Öffnung der ostdeutschen Archive noch immer verhältnismäßig wenig bekannt. Zu begrüßen ist deshalb die materialreiche Monographie des Berliner Historikers Damian van Melis, der anhand des Entnazifizierungsprozesses in Mecklenburg-Vorpommern beispielhaft den Vorgang untersucht, wie die KPD/SED mit massiver Unterstützung der sowjetischen Militäradministration (SMAD) von 1945 bis 1948 systematisch die Schaltstellen der Macht im staatlichen Verwaltungsapparat okkupierte.

Über den Entnazifizierungsprozeß in der SBZ sind seit Öffnung der ostdeutschen Archive verschiedene Arbeiten erschienen, deren Umfang in der Regel jedoch verhältnismäßig knapp ausfällt. So stammen die beiden umfassendsten Monographien zur Entnazifizierung noch immer aus der Vor-Wende-Zeit, es sind dies Wolfgang Meinickes 1983 vorgelegte Dissertation mit Bezug auf die gesamte SBZ und Helga A. Welshs 1989 erschienene Arbeit über Thüringen und Sachsen. 2 Die Untersuchung von van Melis gewährt nunmehr auf breiter Quellenbasis einen tiefgehenden Einblick in die Geschichte der Entnazifizierung Ostdeutschlands.

Der Autor fokussiert seine Untersuchung auf ein einzelnes SBZ-Land und eine eng umrissene Berufsgruppe. Die Selbstbeschränkung folgt zwei Grundthesen van Melis: Er habe sich für die Landes- und nicht die SBZ-Ebene entschieden, da die politische Entscheidungskompetenz bis Mitte 1947 eindeutig bei den Ländern gelegen habe. Die Konzentration auf den staatlichen Verwaltungsbereich hänge dagegen mit der bereits im Buchtitel genannten Begriffstrias Entnazifizierung-Herrschaft-Verwaltung zusammen. Es solle anhand des für die politische Herrschaft zentralen Verwaltungsapparats die "Funktionalisierung und Instrumentalisierung der Entnazifizierung und des Antifaschismus" (S. 3) zur Durchsetzung des kommunistischen Machtanspruchs untersucht werden. Der Nachweis dieser beiden Thesen durch den Autor muß als geglückt betrachtet werden.

Auch wenn die Untersuchung insgesamt eher die strukturelle Entwicklung des Entnazifizierungsvorgangs thematisiert, gerät dem Leser immer wieder die Person des von 1939 bis 1945 im KZ Sachsenhausen inhaftierten Kommunisten Johannes Warnke ins Blickfeld, der als Erster Vizepräsident und Innenminister nach 1945 "für mehrere Jahre zum Zentrum der politischen Herrschaft" (S. 51) in Mecklenburg-Vorpommern wurde. Mit der Person Warnkes greift van Melis ein wesentliches Element der KPD/SED-Herrschaftsbildung in Ostdeutschland auf. An die Spitze der fünf neugebildeten SBZ-Länder waren 1945 ausschließlich nichtkommunistische Präsidenten berufen worden, die KPD begnügte sich mit den formal nachgeordneten Ersten Stellvertreterposten. Doch schon bald zeigte sich, daß die kommunistischen Ersten Vizepräsidenten mit Ihren Kompetenzen für die Innenverwaltung und das Personalwesen über eine Machtfülle verfügten, die offensichtlich in vielen Bereichen über die des vorgesetzten Präsidenten hinausreichte. Die vorliegende Untersuchung unterstützt die These einer besonderen Rolle der Ersten Vizepräsidenten bzw. seit Ende 1946 Innenminister, van Melis ortet den energischen und bezüglich seines Machtgespürs talentierten Warnke als eigentliches Kraftzentrum der Entnazifizierung und darüber hinaus insgesamt des politischen Transformationsprozesses in Mecklenburg-Vorpommern. Die Herausarbeitung der engen Verbindung zwischen den machtpolitischen Ambitionen Warnkes und den realen Erscheinungsformen der Entnazifizierung stellt den besonderen Wert der Monographie dar, allerdings bietet die Darstellung des Ersten Vizepräsidenten/Innenministers auch einen Ansatzpunkt für Einwendungen gegenüber der ansonsten eingängigen Argumentation. Die Übertragung der für seinen eigenen Zuständigkeitsbereich zweifellos kaum zu überschätzenden Rolle Warnkes auf nahezu die gesamte Landesadministration läßt den Innenminister mitunter als omnipotenten 'spiritus rector' erscheinen, der quasi im Alleingang die antifaschistisch-demokratische Transformation Mecklenburg-Vorpommerns betrieb.

Doch trotz dieser eher graduelle Unterschiede betreffenden Beanstandung überzeugt insgesamt die vom Autor inhaltlich dicht beschriebene Sonderrolle Warnkes. Obwohl er nicht über den 'Stallgeruch' des aus dem Moskauer Exil heimkehrenden Führungszirkels der KPD verfügte und sich auch im Landesapparat seiner Partei kaum engagierte, gab die traditionelle Schwäche der Kommunistischen Partei in den weitgehend agrarischen Regionen Nordostdeutschlands dem energischen Innenpolitiker bald die Möglichkeit, die Landespolitik in vielen Fragen weitgehend eigenständig auszugestalten. Begünstigt wurde seine dominante Stellung zudem durch die persönliche Führungsschwäche des sozialdemokratischen Landespräsidenten Wilhelm Höcker, aber auch durch die mangelhaft entwickelte Konfliktbereitschaft der 'bürgerlichen' Parteien. 3

Insgesamt entwirft van Melis das Bild einer lange Zeit erstaunlich problemlos verlaufenden Herrschaftsaneignung durch die deutschen Kommunisten. Die massiven Entlassungsaktionen im Zuge der Entnazifizierung und der im Anschluß daran nach kaderpolitischen Gesichtspunkten von der KPD betriebene Neuaufbau des Verwaltungsapparats wurde von den blockpolitischen Partnern weitgehend kritiklos hingenommen. Ein Grund hierfür mag gewesen sein, daß die 'bürgerlichen' Parteien dem moralisch begründeten antifaschistischen Führungsanspruch der zahlenmäßig kleinen KPD anfänglich häufig verunsichert gegenüberstanden. Doch der Autor schildert auch, wie die für das Personalwesen zuständige Innenverwaltung unter Kontrolle des Ersten Vizepräsidenten zwar regelmäßig Kandidaten der CDU und LDP mit wichtigen Ämtern betraute, dabei aber geschickt auf die Besetzung der strategisch wichtigen Positionen (Personalabteilungen, Polizei) mit zuverlässigem Personal achtete. Wie sich die Kommunisten gegen die 'bürgerlichen' Parteien, aber auch SED-intern gegen sozialdemokratische Opponenten durchsetzten, entwickelt der Autor detailliert anhand des Zentralen Personalamts. Das in seiner Bedeutung kaum zu überschätzende Zentrum der Personalpolitik überführte Vizepräsident Warnke innerhalb weniger Wochen aus dem Zuständigkeitsbereich und gegen den Widerstand des ihm vorgesetzten Wilhelm Höcker erfolgreich in seinen eigenen Verwaltungsapparat.

Ausführlich wird in der vorliegenden Untersuchung "das lange Ende" (S. 201) der Entnazifizierung seit Mitte 1947 behandelt. Nachdem die Säuberungsmaßnahmen bis Ende 1945 ganz im Sinne der KPD zu einem umfassenden Personalaustausch im staatlichen Verwaltungsapparat geführt hatten, schien das Interesse der Kommunisten an weiteren Aktionen zu erlahmen. "Nicht die Entnazifizierung, sondern die Wiedergewinnung der Normalität" (S. 126) bildeten nunmehr das Hauptinteresse der KPD/SED in Mecklenburg-Vorpommern. So wirkt es durchaus glaubhaft, daß die Fortführung der Entnazifizierung, mit der sich die SMAD im Vorfeld der Moskauer Außenministerkonferenz gegenüber ihren westlichen Noch-Verbündeten zu profilieren versuchte, vom SED-Landesvorstand überwiegend abgelehnt wurde. (S. 191f) Als die Besatzungsmacht mit ihrem Befehl Nr. 201 im August 1947 schließlich den baldigen Abschluß des Entnazifizierungsprogramms in Aussicht stellte, wurde dieser Schritt von der SED ebenso begrüßt wie von der übrigen deutschen Bevölkerung.

Doch statt zu einem raschen Ende zu kommen, betont van Melis, wurde der Entnazifizierungsrahmen durch den Befehl Nr. 201 massiv ausgeweitet. Die erstmals zentral in Berlin für die gesamte SBZ ausgearbeiteten Maßnahmen zielten auf eine umfassende Ausweitung und Wiederholung der bisherigen Überprüfungen hin, die sich unverkennbar auch gegen die politische Opposition in der SBZ richteten. Je deutlicher diese neue politische Stoßrichtung der Entnazifizierung hervortrat, desto schneller schwand die anfängliche Ablehnung Warnkes und seiner Umgebung gegenüber der ihrer Meinung nach überflüssigen Wiederaufnahme der Überprüfungen, die zudem noch über ihre Köpfe hinweg verfügt worden war. "Der Befehl Nr. 201 verkörperte also beide Seiten der Entnazifizierungspolitik von SED und SMAD: Einerseits beschleunigte er ihr Ende, andererseits diente er dazu, Institutionen zu installieren, die später zum Kernbereich der paranoiden DDR-Sicherheitspolitik wurden. Die dabei schon 1947/48 zutage tretende Zunahme von Verfahren gegen politische Abweichungen verdeutlicht, wie stark das Interesse der Entnazifizierungsorgane an den eigentlichen Verstrickungen in das NS-Herrschaftssystem abnahm." (S. 327)

Van Melis gewährt mit seiner Arbeit einen tiefen Einblick in den Vorgang, wie die KPD/SED zwischen 1945 und 1948 den staatlichen Machtapparat in Ostdeutschland durchdrang. Die gewählte Landesperspektive erlaubt dabei Einblicke in die Herrschaftspraxis, die andere Untersuchungen zum Thema mit ihrem SBZ-Bezug so nicht bieten können. Die erzielten Ergebnisse lassen sich grundsätzlich wohl auch auf die übrigen Länder der SBZ übertragen, die landespezifischen Eigenheiten des Entnazifizierungsprozesses in Mecklenburg-Vorpommern dokumentieren darüber hinaus jedoch, unter welchen Zufälligkeiten die Entstehung der DDR seit 1945 ihren Lauf nahm. Eine der überraschendsten Facetten dieser Entwicklung stellt in diesem Zusammenhang die dominante Rolle von Innenminister Warnke dar, der weitgehend unabhängig den machtpolitisch zentralen Vorgang der Entnazifizierung zu organisieren vermochte.

Anmerkungen:

1 So mehrfach Hermann Weber, unter anderem in: H. Weber: DDR. Grundriß der Geschichte 1945-1990. Hannover 1991, S. 31. Christoph Kleßmann sah zwar keinen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen der Entnazifizierung und der Sowjetisierung Ostdeutschlands, negierte jedoch auch nicht eine mögliche Verbindung. Siehe C. Kleßmann: Die doppelte Staatsgründung. Bonn 1986, S. 80f.

2 Wolfgang Meinicke: Zur Entnazifizierung in der sowjetischen Besatzungszone unter Berücksichtigung von Aspekten politischer und sozialer Veränderungen (1945 bis 1948), Ost-Berlin (Diss.) 1983. Helga A. Welsh: Revolutionärer Wandel auf Befehl? Entnazifizierungs- und Personalpolitik in Thüringen und Sachsen (1945-1948). München 1989.

3 Van Melis verweist jedoch darauf, daß ungeachtet der Schwäche der bürgerlichen Parteiapparate einzelne Politiker wie P. F. Scheffler, S. Witte und K. H. Kaltenborn es durchaus auf Auseinandersetzungen mit der SED und den Sowjets ankommen ließen. Solche 'Einzelkämpfer' ließen sich im Bedarfsfall allerdings relativ schnell ausschalten. Daß die Machtfrage zwischen Ministerpräsident und Innenminister nicht immer so einfach wie in Mecklenburg-Vorpommern entschieden werden konnte, belegen Michael Richter / Mike Schmeitzner: "Einer von beiden muß so bald wie möglich entfernt werden." Der Tod des sächsischen Ministerpräsidenten Rudolf Friedrichs, in: Deutschland Archiv, 31 (1998), Nr. 5, S. 744-752.

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