Cover
Titel
Pietismus im Sozialismus. Die Herrnhuter Brüdergemeine in der DDR


Autor(en)
Richter, Hedwig
Reihe
Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 186
Erschienen
Göttingen 2009: Vandenhoeck & Ruprecht
Anzahl Seiten
400 S.
Preis
€ 56,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gerhard Besier, Lehrstuhl für Europastudien, Technische Universität Dresden

Das Buch war kaum erschienen, da musste die Autorin auch schon befürchten, dass seine Auslieferung auf unabsehbare Zeit gestoppt würde. Ein ehemals führender Mitarbeiter der Herrnhuter Brüdergemeine hatte von ihr eine Unterlassungserklärung der Tatsachenbehauptung gefordert, er habe konspirativ mit dem Ministerium für Staatssicherheit (MfS) der DDR zusammengearbeitet. Unter anderem hatte Hedwig Richter geschrieben:„Mit seinen negativen Berichten ging er über das hinaus, was ein Leiter einer solchen Einrichtung von Amts wegen mit der Staatssicherheit zu verhandeln hatte. Als er 1985 Herrnhut verließ, bat er die Stasi-Mitarbeiter, die Kontakte zu ihm abzubrechen.“ (S. 273 f.) Nach bangen Monaten und wenig Unterstützung durch den Verlag, der am 9. Dezember 2009 bereits einen „sofortigen Lieferstopp“ des Buches veranlasst hatte, sprach das Landgericht Dresden am 4. Februar 2010 das erlösende Urteil (AZ: 3 O 2987/09 EV): Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung wurde zurückgewiesen. Bei der Güterabwägung zwischen dem wissenschaftlichen Interesse und dem Persönlichkeitsrecht des Betroffenen entschied das Gericht zugunsten der geschichtswissenschaftlichen Aufarbeitung. „Das Gericht kann aus den vorliegenden Unterlagen nicht erkennen, dass sie [scil. die Verfasserin] den Verfügungskläger unverhältnismäßig stark belastet oder diffamiert hat“, heißt es in der Urteilsbegründung. Und: „Soweit der Verfügungskläger der Auffassung ist, durch dieses veröffentlichte Buch würde er vor seinen Mitstreitern in der Herrnhuter Brüdergemeine diffamiert, geht das Gericht davon aus, dass diese selbst von den Praktiken der Staatssicherheit Kenntnis hatten und so in der Lage sein werden, gewonnene Erkenntnisse aus der Stasi-Akte und den Veröffentlichungen im streitigen Buch in die damalige Zeit einzuordnen.“

Tatsächlich war durch diese Episode das weitere Erscheinen des Buches vorübergehend gefährdet. Seinen Inhalt freilich charakterisiert es nicht. Denn die Passagen, in denen Hedwig Richter die Zusammenarbeit zwischen führenden Mitgliedern der Herrnhuter und dem MfS schildert, nehmen eine eher marginale Rolle ein.

Es geht der Autorin in erster Linie um eine Analyse der Handlungsoptionen dieser pietistischen Gemeinschaft vor dem Hintergrund ihrer Traditionen. Diese interpretiert sie in Anlehnung an Jan Assmann als Potential der Schaffung und Aufrechterhaltung einer Gruppenidentität durch die überkommenen Werte und Normen – bei der gleichzeitigen Möglichkeit einer Transformation und legitimen Erneuerung des kulturellen Gedächtnisses auf die gegenwärtigen Umstände hin. Dabei unterstreicht sie Max Webers Diktum des „Gehorchenwollens“, ohne das eine Interaktion zwischen Herrschern und Beherrschten nicht möglich gewesen wäre. „Dieser Zugriff ermöglicht es, eine Antwort darauf zu finden, warum die Herrnhuter es schließlich akzeptieren, ihre Tradition der Erziehungsarbeit aufzugeben, warum sie […] eine Obrigkeit als legitim empfanden, die ihre Internationalität regulierte, sie bis in ihre Wohnzimmer überwachte und ihnen sogar Gebetstexte vorschrieb.“ (S. 17) Die Überlebensstrategien der Unität will sie anhand von vier Themenfeldern aufzeigen: der Kommunikation zwischen Staat und Bürgern, der Manipulation durch Privilegien, der Implementierung von die Wahrheit konstituierenden Ritualen wie Wahlen und der Zensur. Zu diesen „Wirklichkeitsproduktionen“ platziert sie jeweils ans Ende der Kapitel 4, 5, 6 und 7 theoretisch akzentuierte Abschnitte.

Im Blick auf die DDR-(Kirchen)geschichtsschreibung schließt sich die Verfasserin jener Kritik an, die eine Fokussierung auf den „kirchlich-konfessionellen Binnenbereich“ einerseits als „Verinselung“ bezeichnet, andererseits wiederholt die Vernachlässigung religiöser Fragestellungen in der allgemeinen Geschichtsschreibung beklagt und eine stärkere Internationalität der Kirchen- und Religionsgeschichtsschreibung einfordert. Die Pietismusforschung bezeichnet sie gar als „Orchideenfach“ und fordert von der Disziplin eine Einbeziehung auch sozial- und kulturgeschichtlicher Aspekte.

In ihrem Urteil über die kirchliche Haltung der Nachkriegszeit unterscheidet sich Hedwig Richter kaum von dem, was hierzu sonst geschrieben wurde. Ein Vergleich mit dem Verhalten von Gruppen auch außerhalb der deutschen Kultur hätte zu dem vielleicht verblüffenden Ergebnis geführt, dass das Auf-Sich-Beruhen-Lassen, das „Beschweigen“ (Hermann Lübbe) von unangenehmer Vergangenheit, oftmals ein funktioneller anthropologischer Mechanismus und kein spezifisch nationales oder religiöses Merkmal ist.

Wie viele Kulturtheologen macht sie auf theologischer Seite Karl Barth und Teile der dialektischen Theologie für die Nivellierung zwischen den westlichen Demokratien und den östlichen Diktaturen verantwortlich. Auch der Ökumenische Rat der Kirchen in Genf (ÖRK) änderte aufgrund neuer Mitgliedskirchen und der gewandelten Stimmungslage im Westen (russische Orthodoxie, Drittweltländer, Studentenbewegung etc.) seit den späten 1960er-Jahren seine theologisch-politische Haltung gegenüber dem Ostblock. Obwohl sie nur noch rund 3.000 Mitglieder zählte, wurde 1969 die ostdeutsche Brüdergemeine – zum Wohlgefallen der Staatsorgane – als eigenständige Freikirche beim ÖRK registriert. Das Zerrbild des angeblich menschenverachtenden „Kapitalismus“ wurde im Westen zunehmend akzeptiert, das Menschenrechtsverständnis so „ausdifferenziert“, dass man unterschiedliche Schwerpunktbildungen in Ost und West auszumachen können meinte (kollektive vs. individuelle Menschenrechte) und Menschenrechtsverletzungen in den Ostblockstaaten unter den Teppich kehrte. Das Antirassismusprogramm des ÖRK tat ein Übriges, die Bedeutung der Systemunterschiede zwischen Ost und West zu verwischen. Für die Herrnhuter in der DDR bot das Programm eine neue Chance, sich als „progressive Kraft“ zu profilieren. Mit dieser Positionierung verschärften sich die innerbrüderischen Spannungen zwischen den „konservativen“ Evangelikalen im Westen und den „revolutionären“ Ökumenikern im Osten. Im Zusammenhang mit der Feier zum 250. Gründungstag Herrnhuts hegte der Staat dann die Brüdergemeine vollends ein. Sie wurde auf Alten- und Behindertenarbeit festgelegt und verzichtete damit auf jeglichen gesellschaftlichen Einfluss. Dafür durfte sie, mit Geld aus dem Westen, ihre Ruinen teilweise wiederaufbauen und ihre Feier selbstlos als die „eine[r] Stadt in der sozialistischen DDR“ (S. 260) ausrichten. Das Jubiläum bot den Gläubigen zwar Selbstvergewisserung aus der Tradition, aber diese war derart verändert worden, dass sie kaum mehr den ursprünglichen Intentionen der Herrnhuter entsprach. Der „Kontrakt“, wie Hedwig Richter den Handel nennt, sicherte den Herrnhutern Existenz und sozialkaritativen Sinn im Sozialismus. In den 1970er-Jahren gelang dem MfS dann auch die Rekrutierung von „Inoffiziellen Mitarbeitern“ auf der Führungsebene der Brüdergemeine. Trotzdem, konstatiert Hedwig Richter, bleibe das Bild ambivalent, Herrnhut habe sein Milieu und darin Momente pietistisch geprägter Frömmigkeit bewahren können.

Wie stark das enorme diakonische Engagement der Brüdergemeine nicht nur deren ideelle wie materielle Existenzberechtigung legitimierte, sondern auch die DDR sozial stabilisierte, beschreibt Hedwig Richter im letzten Teil ihres Buches. Es bestand eine „Interessenparallelität“. „Das bürgerschaftliche bzw. zivilgesellschaftliche Engagement stützte die Diktatur.“ (S. 297 f.) Aus dem Nutzen für die DDR erklärt sich auch, warum die Unität trotz erheblicher Probleme ihre Unternehmungen weiter betreiben durfte. Voraussetzung war natürlich, dass sie sich in sozialistischer Treue willig den opportunen Traditionskonstruktionen amalgamierte. Auf diese Weise blieb ein Traditionselement des zivilgesellschaftlichen Pietismus erhalten. Die alte Missionstradition wurde im Sinne des Kampfes gegen den Rassismus uminterpretiert, war damit für die DDR akzeptabel und konnte aktuell in „kirchlichen Entwicklungsdienst“ transformiert werden. Um dem „Friedensauftrag“ der Staatsführung zu genügen, zimmerte die Gemeine aus Comenius-Texten das pazifistische Narrativ einer „Friedenskirche“, ohne freilich den DDR-Militärdienst in Frage zu stellen. Aber trotz aller Anpassungsleistungen blieb das von Misstrauen getragene Kontrollbedürfnis des Staates lebendig. Tatsächlich übte eine kleine, aber elitäre Minderheit der um 1960 Geborenen in den 1980er-Jahren oppositionelles Verhalten und zeigte dabei kaum mehr Furcht. Von der Umbruchstimmung 1989 wurden zunächst nur wenige erfasst, im Oktober und November 1989 gab es dann allerdings kein Halten mehr – auch wenn es in der Unität die üblichen Schwierigkeiten beim Vereinigungsprozess gab.

Das Buch – in freundlich-neutraler Sprache und auf der Grundlage soziohistorischer Methodik geschrieben – muss aus der Perspektive der Brüdergemeine eigentlich als vernichtende Kritik gelesen werden. Es attestiert der Gemeinschaft die Fähigkeit zu überaus beweglichen Traditionskonstruktionen und damit zu höchster Anschmiegsamkeit an das jeweilige Gesellschaftssystem. Hedwig Richter meint, mit ihrer Untersuchung „die ‚Innenseite‘ […] von Religion in den Blick genommen […]“ (S. 347) zu haben. Aber erklärt sich gelebter christlicher Glaube lediglich aus einer Sozialisationsgeschichte heraus, die von einer permanenten „Wirklichkeitsproduktion“ lebt und dabei auf Traditionen rekurriert, die oft bis zur Unkenntlichkeit modifiziert werden? Instruktiv und lesenswert ist Hedwig Richters Buch allemal.

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