Titel
Tropical Versailles. Empire, Monarchy, and the Portuguese Royal Court in Rio de Janeiro, 1808-1821


Autor(en)
Schultz, Kirsten
Reihe
New World in the Atlantic World
Erschienen
New York 2001: Routledge
Anzahl Seiten
XI, 325 S.
Preis
$ 85.00 hardback; $ 23.95 paperback
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christian Haußer

„Am Anfang war Napoleon.“ Dieser immer wieder gern aufgegriffene Eröffnungssatz aus Thomas Nipperdeys Geschichte des modernen deutschen Nationalstaates hätte nach seinem Erscheinen möglicherweise weniger scharfen Widerspruch hervorgerufen, würde er ein entsprechendes Werk zur Geschichte der iberischen Halbinsel oder Lateinamerikas einleiten. Ohne deswegen die Bedeutung von Strukturen und langfristigen Prozessen in diesen Regionen zu vernachlässigen, wurde in der mit diesen Weltregionen befassten Literatur die enge Verbindung zwischen der Herausbildung der modernen lateinamerikanischen Staatenwelt und den napoleonischen Kriegen immer schon besonders betont. Und dies aus gutem Grund: Der Einmarsch napoleonischer Truppen in Spanien und Portugal im Jahre 1807/08 hatte nicht nur den Zusammenbruch der absolutistischen Herrschaft auf der Halbinsel zur Folge, sondern führte schließlich auch zum Ende des spanischen Kolonialreiches in Amerika (nur Kuba und Puerto Rico blieben unter spanischer Kontrolle). Das portugiesische Weltreich verlor seine bedeutendste Besitzung, nämlich Brasilien, und für Lateinamerika insgesamt markiert dieses Datum den Beginn eines Prozesses, der schließlich zu den unabhängigen Nationalstaaten führte.

Mit der Absetzung des bourbonischen Herrscherhauses in Spanien durch Napoleon war die Legitimität des neuen Regimes auch in den amerikanischen Kolonien infrage gestellt. Dieser Umstand trug wesentlich zur Loslösung vom Mutterland bei. Ganz andere Voraussetzungen hingegen waren im portugiesischen Herrschaftsbereich gegeben. Unter dem Eindruck der französischen Invasion, die die Kontinentalsperre gegen Großbritannien in Portugal vervollständigen sollte, geschah dort etwas in der europäischen Geschichte Einmaliges: Einen Tag vor der Besetzung Lissabons durch französische Truppen, schiffte sich am 29. November 1807 der gesamte portugiesische Hof und ein Großteil der Oberschicht des Landes samt Gefolge (insgesamt zwischen 10.000 und 15.000 Personen) Richtung Amerika ein. Unter dem Schutz britischer Schiffe machten sie sich auf den Weg nach Brasilien, um von dort aus das Reich zu regieren. Damit wurde die Lenkung des Reiches in eine seiner Kolonien verlegt. Mit dem portugiesischen Hof unter der Führung des Prinzregenten João VI. setzte der rechtmäßige Herrscher und damit auch die Monarchie nach Amerika über. Erst 1821 sollte João VI. wieder nach Portugal, bis dahin eine Art britisches Interimsprotektorat, zurückkehren. Im Jahr darauf erklärte Brasilien unter Kaiser Dom Pedro I. seine Unabhängigkeit und blieb – von kurzen monarchischen Episoden anderswo abgesehen – bis zur Ausrufung der Republik 1889 die einzige (konstitutionelle) Monarchie auf dem amerikanischen Doppelkontinent.

Diesen (sowohl für die portugiesische als auch für die brasilianische Geschichte) so entscheidenden dreizehn Jahren, in denen das brasilianische Rio de Janeiro die Hauptstadt des portugiesischen Weltreiches war, ist das aus einer Dissertationsschrift hervorgegangene Werk von Kirsten Schultz gewidmet. Die Autorin grenzt sich dabei schon in der Einleitung von gängigen Interpretationen ab. Im direkten Vergleich mit den, z. T. revolutionären, Umbrüchen, die zur Entstehung der hispanoamerikanischen Republiken führten, betont die Forschung im brasilianischen Fall die Kontinuitäten und den „sanften“ Übergang des Landes vom kolonialen zum neuen, unabhängigen Staat. Diese Kontinuitätsthese wurde auch herangezogen, um die, im amerikanischen Vergleich nahezu einmalige, Beibehaltung der Monarchie als Staatsform zu erklären. Diesem Ansatz steht Schultz skeptisch gegenüber. Sie fordert, man solle das Phänomen nicht von seinem vermeintlich notwendigen Ende her befragen und von daher gewissermaßen als naturwüchsig ansehen. Eine genauere Betrachtung offenbare, dass die Entstehung des brasilianischen Kaiserreiches nur eine unter mehreren möglichen historischen Alternativen darstelle und nicht als die quasi notwendige, logische Konsequenz länger zurückreichender Tendenzen interpretiert werden sollte. Das Ziel der Autorin ist es deshalb, „not to explain ‚why‘ [im Original kursiv, Ch. H.] an independent Brazil retained not only the institution of monarchy but also the same dynasty that had governed it as a colony since the seventeenth century, but rather to suggest a more complex answer to the question of ‚how‘ [im Original kursiv, Ch. H.] Brazil became a monarchy and an empire.“ (S. 6) Schultz stützt sich dabei auf ein breites Ensemble an veröffentlichten und unveröffentlichten Quellen. Einen Schwerpunkt stellen dabei die Akten der Intendencia Geral da Polícia und Verlautbarungen des Hofes bzw. seines Umfeldes dar.

Schultz beschreibt die Verwandlung des einstigen Vizekönigsitzes Rio de Janeiro in das ökonomische, politische und kulturelle Zentrum des Reiches, in ein „tropisches Versailles“, in mehreren Schritten. Zunächst wird der Reichsgedanke in Portugal vorgestellt, wie er sich seit der portugiesischen Expansion im späten Mittelalter in Anknüpfung an die biblische ‚translatio imperii‘ herausgebildet hat. Anders als die stärker landgestützte Expansion des spanischen Reiches war das transkontinentale, über und durch die Meere verbundene portugiesische Weltreich in Europa, Amerika, Afrika und Asien weniger auf das Mutterland als seinem politischen Zentrum fixiert. Die zunehmende wirtschaftliche Bedeutung Portugiesisch-Amerikas vertiefte die Anstrengungen zur Integration der Reichsteile seit dem 18. Jahrhundert. Schon damals wurden Pläne erwogen, Brasilien zum politischen Zentrum des Reiches zu machen. Doch erst die drohende Besetzung der portugiesischen Hauptstadt durch Frankreich und die Sorge um den Verlust der überseeischen Besitzungen an die hegemoniale Seemacht Großbritannien ließ die Übersiedlung des Hofes zu einer ernsthaften Handlungsalternative heranreifen, die schließlich in die Tat umgesetzt wurde. Der Prinzregent João VI. entschied sich für Großbritannien und gegen Frankreich und damit zugleich gegen Portugal und für Brasilien. Er entschied sich also letztlich für das Reich und, in gewisser Weise, gegen einen rein europäischen portugiesischen Nationalstaat.

Die folgenden Kapitel untersuchen die Art und Weise, „in which contemporaries in the new royal court of Rio de Janeiro defined in political discourse and practice the meaning of these events and responded to the challenges that they posed“ (S. 1). Schultz zeichnet zunächst ein Bild von der Stadt Rio de Janeiro und ihren Bewohnern im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert, also in der Zeit vor der Ankunft des Hofes. Die revolutionären Veränderungen in der atlantischen Welt, die Unabhängigkeit der nordamerikanischen Kolonien, die Revolution in Frankreich und Haiti, all dies wurde in Rio de Janeiro mit großem Interesse verfolgt. Die begeisterte Begrüßung, die dem Prinzregenten und seinem Hof bei der Ankunft in Rio zu Teil wurde, lässt dennoch kaum einen Zweifel an der grundsätzlichen Loyalität der Stadtbevölkerung gegenüber der Dynastie Bragança zu. Die derart gefeierten Neuankömmlinge aus Europa traten dagegen ihrer neuen amerikanischen Umgebung deutlich reservierter gegenüber. Sie empfanden sie zunächst als fremd und deuteten die Übersiedlung nach Brasilien zuweilen sogar als göttliche Strafe für vergangene moralische Verfehlungen. Die Reichsidee konnte offensichtlich kaum verhindern, dass viele den Weg nach Amerika als Abstieg deuteten. Je weiter jedoch die Entwicklung in Europa die ersehnte Rückkehr in das Mutterland ins Unbestimmte verzögerte, desto mehr verschmolzen die Erwartungen von Amerika- und Europa-Portugiesen und Rio de Janeiro wurde zum Ausgangspunkt imperialer Erneuerung. Damit veränderte sich auch das Gesicht der Stadt. Die Beschaulichkeit der Kolonialzeit verlor sich. Rio wandelte sich zur Reichsmetropole. Tausende von Menschen mussten standesgemäß untergebracht und komplette Reichsinstitutionen umgesiedelt werden. Um sich auch in der neuen Hauptstadt der dauerhaften Loyalität ihrer Bewohner zu versichern, pflegte der Prinzregent den direkten Kontakt mit seinen Untertanen. Diese Audienzen (von denen die Sklaven freilich ausgeschlossen blieben) waren ein wichtiger Bestandteil bei der Festigung der Autorität des Monarchen in der Neuen Welt. Die Kapitel sechs und sieben zeigen schließlich, wie das Verhältnis zwischen den europäischen und amerikanischen Kronbesitzungen 1815 mit der Erhebung Brasiliens zum gleichberechtigten Königreich ins Gleichgewicht gebracht wurde. Diese imperiale Balance zerbrach jedoch rasch wieder. Die wachsende britische Vorherrschaft im atlantischen Handel spielte dabei eine wichtige Rolle. Noch bedeutender war allerdings das Anwachsen der liberalen Bewegung in Portugal selbst, die Brasilien wieder in den Status einer Kolonie zurückversetzen wollte. Die europäischen Verwicklungen, denen sich der Hof 1807 entzogen hatte, holten ihn nun auch in Amerika wieder ein.

Schultz kommt zu dem Schluss, dass das unabhängige brasilianische Kaiserreich nicht einfach das Ergebnis der Übertragung des monarchischen Prinzips nach Amerika war. Vielmehr kam darin das gewachsene Selbstvertrauen Brasiliens zum Ausdruck, in das Zentrum des portugiesischen Weltreiches gerückt zu sein. Das Streben der liberalen Bewegung in Portugal seit 1820, den ‚status quo ante‘ wiederherzustellen, musste aus dieser Perspektive als Zumutung empfunden werden, von dem es sich ein für allemal zu befreien galt. Der dabei vertretene Anspruch, nun ein eigenes Reich in Brasilien aufzubauen, habe die Widersprüche der vorangegangenen dreizehn Jahre gleichwohl bis weit in das 19. Jahrhundert fortgesetzt. „While the transfer of the court alone did not determine that Brazilian independence would be its own outcome, an exclusively American empire both consecrated an earlier „emancipation,“ as it was defined by residents and officials in the new court of Rio de Janeiro, and reproduced its equivocations“ (S. 281).

Dieser Schluss erstaunt etwas, denn er begreift die Übersiedlung des Hofes und die Begegnung zwischen Metropole und Kolonie als Widerspruch, zumindest aber als Spannung. Wie steht dies im Verhältnis zu den von S. selbst überzeugend vorgestellten Beispielen für die Erneuerung von Monarchie und Reich unter den veränderten Gegebenheiten? Wurden durch sie die Spannungen nicht gerade überwunden? Manches hätte gerade in einer diskursgeschichtlich angelegten Arbeit mehr Aufmerksamkeit verdient. Wichtige Begriffe der Epoche, an denen sich die Folgen der Verlegung des Hofes, etwa die Veränderung der gesellschaftlichen Beziehungen und der Vorstellung von der zukünftigen Entwicklung des Reiches nachvollziehen ließen, bleiben ungeklärt. Ob etwa der Begriff des Vasallen auf eine feudale Beziehung des Herrschers zu seinen Untertanen schließen lässt und wenn ja, wer überhaupt zu diesem Kreis zu zählen ist, lässt Schultz offen. Die ‚pátria‘ wird, möglicherweise allzu leichtfertig, mit der Nation und diese wiederum mit ganz Portugiesisch-Amerika identifiziert. Die ‚Zivilisation‘, ein Schlüsselbegriff im brasilianischen Entwicklungsdenken, taucht zwar immer wieder auf, bleibt aber in Anführungszeichen gesetzt und als reines Zitat von jeder weiteren Erläuterung befreit. Besonders deutlich werden die Konsequenzen solcher konzeptioneller Ungenauigkeit beim Reichsbegriff, anhand dessen die Verwandlung des portugiesischen Weltreiches zum brasilianischen Kaiserreich hätte nachgezeichnet werden können. Schultz erklärt die Trennung von Portugal mit dem zunehmenden Einfluss liberaler Ideen seit dem späten 18. Jahrhundert. Sie lässt aber die Frage unbeantwortet, wie sich der Reichsgedanke neuerdings auf seinen amerikanischen Teil beschränken konnte. Wie konnte 1822 ein politisches Gebilde unabhängig werden, dem mit Dom Pedro I. ein Monarch vorstand, der gleichzeitig Thronfolger des portugiesischen Königshauses war?

Diese Fragen verdeutlichen aber zugleich eine der wesentlichen Stärken von Kirsten Schutz’ „Tropical Versailles“: bei ihr rücken europäische und außereuropäische Geschichte eng zusammen. Die damit angesprochenen, teilweise höchst komplexen Wechselwirkungen, lassen es nicht zu, das Werk einseitig der brasilianischen, portugiesischen, lateinamerikanischen oder europäischen Geschichte zuzuschlagen. Es ist kein Zufall, dass die Studie in der Reihe ‚New World in the Atlantic World‘ erschienen ist und damit den größeren, atlantischen Horizont anzeigt, in dem die Untersuchung angesiedelt ist. Schultz versucht diese transatlantischen Bezüge weder durch Großtheorien noch mit aus anderen Kontexten importierten Konzepten, die sich oftmals nur schwer von ihrer Europa-Zentriertheit lösen können, „zuzudecken“. Die Studie führt eindringlich vor Augen, dass man aus der „Provinz des Historikers“ (Christian Meier) heraustreten und dabei herkömmliche zeitliche und geographische Grenzziehungen hinter sich lassen kann. Dass Schultz die damit angesprochenen Probleme nicht immer in allen Aspekten ausleuchtet, lässt freilich breiten Raum für andere Arbeiten, die einem ähnlichen Ansatz verpflichtet sind.

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