S. Zhuk: Rock and Roll in the Rocket City

Cover
Titel
Rock and Roll in the Rocket City. The West, Identity, and Ideology in Soviet Dniepropetrovsk, 1960–1985


Autor(en)
Zhuk, Sergei I.
Erschienen
Anzahl Seiten
464 S.
Preis
$ 65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Michel Abeßer, Freiburg Institute for Advanced Studies (FRIAS) - School of History, Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

„Wer war Leonid Breschnew? – Ein unbedeutender politischer Führer in der Ära der Beatles und Alla Pugatschowas.“ Mit diesem sowjetischen Witz der 1970er-Jahre umreißt Sergei Zhuk zu Beginn seines Buches „Rock and Roll in the Rocket City“ ein für den Spätsozialismus zentrales Phänomen – die enorme Bedeutung westlicher Popkultur im sozialistischen Alltag, die sogar die des Politischen überschatten konnte. Sergei Zhuks Perspektive auf dieses Phänomen ist in mehrfacher Hinsicht interessant.

Die Breschnewperiode verliert in der historischen Forschung erst langsam den Nimbus der Stagnation, der ihr durch die Akteure der Perestrojka und die westliche Forschung über Jahre einseitig zugesprochen wurde. Zhuk fragt nach dem Zusammenhang von „Cultural Consumption“ westlicher Produkte durch die sowjetische Jugend und deren Einfluss auf sowjetische Praktiken des Kulturkonsums und der Identitätsbildung. Dass „Cultural Consumption“ im Kontext des Kalten Krieges von zentraler Bedeutung war, hat Uta Poigers vergleichende Studie „Jazz, Rock and Rebels“1 bereits bewiesen. Doch stellt Zhuks Wahl der geschlossenen Stadt Dnjepropetrowsk eine deutliche Perspektiverweiterung zu bisherigen Untersuchungen wie der Aleksei Yurchaks dar, dessen Studie „Everything was forever until it was no more“2 ausschließlich auf Leningrad konzentriert ist. Zwar teilt Zhuk die von Yurchak entwickelte Vorstellung, angeeignete westliche Kulturformen nicht als Gegenräume zum Staat, sondern Freiräume jenseits des Staates zu begreifen, kritisiert aber gleichzeitig seine zu konfliktarme Interpretation und Reduzierung auf einen kleinen Personenkreis der sowjetischen Mittelklasse und Intelligenzija.

Der Autor stellt seine Untersuchung der geschlossenen Stadt Dnjepropetrowsk – Herzstück der sowjetischen Raketenindustrie und wichtige Rekrutierungsbasis der spät- und postsowjetischen Politikeliten – auf eine breite Quellenbasis. Neben Tagebüchern und mehr als 100 Interviews mit Vertretern verschiedener Gesellschaftsschichten werden Berichte des lokalen KGB, der Partei und des Komsomol sowie ausführliches Pressematerial in russischer und ukrainischer Sprache hinzugezogen. Die Stadt, deren Rüstungs- und Forschungszentrum „Jushmasch“ auch die kulturelle Infrastruktur der Stadt begünstigte und dessen intellektuelle Elite bei der Adaption westlicher Kultur eine Vorreiterrolle spielte, versteht der Autor als „microhistorical model for analysis of the closed Soviet society and nascent post-Soviet society“ (S. 7). Im Verlauf der chronologischen Untersuchung stellt Zhuk Dnjepropetrowsk in das Spannungsfeld zwischen dem ideologische Kontrolle ausübenden Moskau und der westukrainischen Stadt Lwiw, die als Quelle ukrainischer Literatur, westlicher Schallplatten und Mode eine wichtige Brückenfunktion zu jenem imaginierten Westen einnahm, den sich die sowjetische Jugend in der späten Sowjetzeit schuf.

Zhuk widmet sich in der Zeitspanne von 1960 bis 1968 den Diskussionen und Konflikten um nationale Identität in der Literatur und die ersten Wellen der Ausbreitung westlicher Musik. Er demonstriert, welche Probleme Partei und KGB hatten, gegen die steigende Zahl von Studenten vorzugehen, die sich unter Verweis auf die „wahre leninistische Nationalitätenpolitik“ in Folge des Tauwetters mit ukrainischer Geschichte, Kultur und Literatur beschäftigten. Allerdings zeigt sich hier ein grundsätzliches Problem im Umgang mit den KGB-Akten, werden doch die dort schablonenartig verwendeten Kategorien wie „Ukrainischer Nationalismus“ teilweise ungefragt übernommen und den Protagonisten generell loyale, prosowjetische Absichten unterstellt. Dabei zeigte gerade Yurchaks Untersuchung, wie sich der Sowjetbürger in eigensinniger Absicht des inhaltlich ausgehöhlten ideologischen Diskurses nach Stalin bedienen konnte. Sätze wie „[…] the KGB ignored the growing enthusiasm of young Ukrainian patriots […]“ (S. 52) zeugen zudem von der manchmal zu empathischen Perspektive des Autors auf die vielfältigen Phänomene seiner Studie.

Überzeugend kann Zhuk die Bedingungen und vielfältigen Mechanismen für die Ausbreitung und Adaption von Jazz und Rock ’n’ Roll ausarbeiten, indem er die Entwicklung des städtischen Schwarzmarktes, die Rolle persönlicher Netzwerke, lokale Jugendpolitik und Strukturen des Unterhaltungsmarktes in Beziehung setzt. Der amerikanische Jazz, getragen zunächst von einer kleinen intellektuellen Schicht, wurde ideologisch bald durch den Komsomol vereinnahmt und dem ab 1964 weitaus breiter rezipierten Rock ’n’ Roll – verkörpert durch die Beatles – entgegengehalten. Dies brachte lokale Komsomol-Aktivisten immer wieder in Kontakt mit Vertretern des Schwarzmarktes, auf deren Know-how und Beziehungen sie bei der Organisation attraktiver Veranstaltungen angewiesen waren.

Was Zhuk verdeutlichen kann, ist das historiografisch bisher eher vernachlässigte kommerzielle Element dieser im Zentrum der lokalen sowjetischen Gesellschaft stehenden Aktivitäten. Die Gewinne, die Komsomol und Gewerkschaften aus den von ihnen betriebenen Rock-Clubs, Tanzplätzen, Diskotheken oder Videosalons zogen, setzten längerfristig allen ideologischen Bemühungen, den Konsum westlicher Kultur zu reduzieren, enge Grenzen. Dass die Bedeutung dieser offiziellen und gleichsam ökonomisch aktiven Beziehungsnetzwerke – der „Diskomafia“, wie sie der Volksmund nannte – über das Ende der Sowjetunion hinaus reichte und konstitutiv für die ukrainische Gegenwartspolitik war, kann Zhuk exemplarisch anhand der Biografien von Leonid Kutschma und Julia Timoschenko aufzeigen. Wie tiefgreifend und ab den 1970er-Jahren auch breitenwirksam der Konsum westlicher Kultur verschiedene Sphären der Dnjepropetrowsker Gesellschaft durchdringt, kann der Autor in verschiedenen Feldern detailliert belegen. So führte die im zweiten Teil thematisierte „Democratization of Rock Music Consumption“ (S. 104) auch zu einem Anstieg an jugendlichem Interesse an Religion, das unter anderem durch die Neugier an den Texten von Lloyd Webbers Rockoper „Jesus Christ Superstar“ ausgelöst wurde. Gerade im Kino, dem Medium mit der größten Breitenwirkung, zeigte sich nach Zhuk die partikulare Adaption des Westens durch ein verzerrtes und unvollständiges Bild, das zu einer „Neuerfindung des eigenen Westens“ (S. 306) führte. Das in Relation zu offenen Städten wie Moskau oder Leningrad ungleich geringere Angebot an ausländischen Filmen führte in Dnjepropetrowsk zu einer eher provinziellen und konservativen Wahrnehmung der Außenwelt.

Das zentrale Paradox der von Zhuk untersuchten Prozesse, das aus der breiten Faszination an ausländischen Filmen, Büchern westlicher Autoren und westlicher Popmusik resultiert, ist die Russifizierung der Dnjepropetrowsker Bevölkerung ab der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre. Untertitel von ausländischen Filmen, Übersetzungen populärer Autoren wie Dumas oder Informationen (und damit zugleich die relevanten ideologischen Einschätzungen Moskaus) über westliche Künstler in Jugendmagazinen wie dem „Rowesnik“ – die russische Sprache wurde zum Schlüssel der Westernisierung, während das Ukrainische aus dem Alltag fast verschwand. Diesen Prozess eben auch auf der individuellen Ebene anhand von Tagebüchern zu belegen, deren Verfasser irgendwann vom Ukrainischen zum Russischen wechselten, gehört zu den Stärken des Buches.

Die politischen Eliten und die Stadtbevölkerung entfremdeten sich Ende der 1970er-Jahre zunehmend von Moskau. Diese Entfremdung begründete eine regionale Identität, die Ende der 1980er-Jahre auch für die russischstämmige Bevölkerung der Ukraine zum Motor der Unabhängigkeitsbestrebungen von Moskau werden sollte. Die Stadtbevölkerung, besonders deren intellektuelle Schichten, beneidete die Zentrale in zunehmendem Maße aufgrund ihrer besseren Versorgung mit Konsumgütern und der Zugänglichkeit zu westlicher Kultur, empfand deren als willkürlich wahrgenommene Interventionen in Konsumpraktiken gleichzeitig aber als Bevormundung und Provinzialisierung. Die wachsende Unzufriedenheit der lokalen Partei-, Komsomol- und KGB-Führung über die verschiedenen Moskauer Kurskorrekturen der Jugend- und Konsumpolitik und daraus resultierende Konflikte wiederum werden von Zhuk mit Ausnahme eines detaillierten Beispiels in den 1960er-Jahren leider mehr intuitiv hergeleitet als quellengesichert analysiert.

Kommende Untersuchungen werden sich noch stärker auf die Koexistenz westlicher und sowjetischer kultureller Elemente im spätsozialistischen Alltag konzentrieren müssen, die in Zhuks Arbeit durch seinen Fokus auf die sowjetische Jugend zu wenig zum Tragen kommt. Die integrative Funktion der sowjetischen Pop-Musik – der Estrada – als zentralem akustischen Element der späteren Sowjetnostalgie ist hier als Beispiel zu nennen. Auch wenn die Breite der behandelten Themen nicht immer in strenger Relation zur Leitfrage steht – so lässt sich die Dynamik der im ersten Teil untersuchten Geschichte der ukrainischen Literaturbewegung der 1960er-Jahre unzureichend über Rezeption westlicher Kulturprodukte und -praktiken erklären – ist Sergej Zhuk eine spannende und aufschlussreiche Mikrostudie zu einer spätsowjetischen „geschlossenen Stadt“ gelungen, deren ideologisches Scheitern er zu Recht attestiert. Dem Leser eröffnet der Blick auf die lokalen Aneignungspraktiken westlicher Kultur eine ambivalente Geschichte zwischen Ideologie und Kommerz, Erosion und Stabilisierung, zwischen Imagination des Westens und Identitätsbildung im Spätsozialismus, die bis in die politische Gegenwart der Ukraine reicht. Zukünftige Arbeiten werden an diesem Plädoyer für die Lebendigkeit und Relevanz der Breschnewperiode nicht vorbeikommen.

Anmerkungen:
1 Uta G. Poiger, Jazz, Rock and Rebels. Cold War Politics and American Culture in a Divided Germany, Berkeley 2000.
2 Alexei Yurchak, Everything Was Forever, Until It Was No More. The Last Soviet Generation, Princeton 2005.

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