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Titel
Sebastian Haffner. Eine Biographie


Autor(en)
Schmied, Jürgen Peter
Erschienen
München 2010: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
683 S., 49 Abb.
Preis
€ 29,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernhard Schulz, Der Tagesspiegel, Berlin

Journalismus bietet, wie Sebastian Haffner wusste, keinen „Weg zur Unsterblichkeit“ (S. 458). Doch unter den westdeutschen Journalisten, die um 1970, dem Höhepunkt der Wirkungsmacht Haffners, mit diesem in einem Atemzug genannt werden durften – wie Werner Höfer, Gerhard Löwenthal, Dieter Gütt, Peter von Zahn oder Thilo Koch –, ist nur sein Name präsent geblieben (S. 485). Lässt man in einer solchen Aufzählung die für diese Jahre doch so wichtigen Namen von Rudolf Augstein, Marion Gräfin Dönhoff oder Theo Sommer aus, so kann man diesem Befund von Jürgen Peter Schmied durchaus zustimmen. Der Historiker hat seine Bonner Dissertation zu einem 683 Seiten starken Buch überarbeitet, das den schlichten Titel „Sebastian Haffner. Eine Biographie“ trägt, und man wagt sich kaum das vollständige Druckwerk vorzustellen, würde es sich beim vorliegenden Buch nicht schon um die gekürzte Fassung handeln. Nichts gegen derart umfangreiche Biographien – auch wenn Haffner sich selbst gegen „unlesbare Wälzer“ deutscher Historiker verwahrte. Aber trägt die Person Haffner das? Die Frage zielt nicht auf abstrakte Mengenmaße, sondern auf den Kern einer jeden Biographie: ob durch die dramatis persona hindurch Geschichte fasslich, zumindest fasslicher werden kann.

Da drängen sich im vorliegenden Fall Zweifel auf. Nicht der Mangel an biographischem Primärmaterial ist es, den Schmied trotz des erstmals zur Benutzung freigegebenen Nachlasses kaum mindern konnte. Es ist vielmehr der Mangel, den Schmied eingangs selbst in Frageform benennt: „Kann man den schillernden Journalisten wirklich verstehen, indem man allein seine Äußerungen, nicht aber deren vielfältige Voraussetzungen und Implikationen in den Blick nimmt?“ (S. 11) Der „schillernde“ Journalist – das ist und bleibt der Dreh- und Angelpunkt des Urteils über Haffner, das ein gutes Jahrzehnt nach dessen Tod im Alter von 91 Jahren am 2. Januar 1999 zweifellos noch nicht gänzlich abgewogen ausfallen kann. „Very gifted, slightly wild“, nannte ihn Harold MacMillans persönlicher Sekretär im November 1961, einer weltpolitisch höchst aufgewühlten Zeit (S. 490). Aber was verraten solche Epitheta mehr als – in diesem Fall – eine urbritische Freude am Florett des Journalisten, wenn er denn nicht als Politiker ernstzunehmen wäre? Den bewundernden, auch abwertenden, immer jedoch quecksilbrigen Urteilen kann Schmied im Verlauf seines Buches etliche beifügen. Und doch umkreisen sie stets nur die Rolle des politischen Journalisten, die im Zweifelsfalle über diejenige des gern geduldeten Narren am politischen Hofe nicht hinausreicht.

Zwei herausragende Lebensabschnitte kannte das Berufsleben Haffners. Zum einen waren dies, ab 1961, die 15 Jahre seines Engagements bei der Tageszeitung „Die Welt“ und beim „Stern“; zum anderen war es die Phase, die auf die Publikation seiner späten historischen Essays folgte (die beiden wichtigsten gleichermaßen zuerst 1978 erschienen: „Anmerkungen zu Hitler“ sowie „Preußen ohne Legende“). In diesen beiden Lebensabschnitten verdichtete sich, was Haffner war, was er sein wollte und auch, was ihm nicht gelang oder vergönnt war.

Geboren wurde Sebastian Haffner am 27. Dezember 1907 als Raimund Pretzel in Berlin als Sohn eines Lehrers, der die Verkörperung wilhelminischen Bildungsstrebens dargestellt haben muss. Der Schüler fühlte sich früh zu Höherem berufen. „Ich glaube an mein Werk“, vertraute der 13-Jährige seinem Tagebuch an. Der angehende Jurist war dann vom aufkommenden Nationalsozialismus ästhetisch indigniert und pflegte weiterhin den Lebensstil einer Berliner Jeunesse dorée – bis er Erika Schmidt-Landry kennenlernte, nach den Kategorien der NS-Rassengesetze Jüdin. Die Emigration nach England folgte im Sommer 1938.

In London begann Sebastian Haffner – wie er sich nunmehr nannte, um Verwandte in Deutschland nicht zu gefährden – seine erstaunliche Journalistenkarriere. „Bei der Rekonstruktion der außergewöhnlichen Erfolgsgeschichte behindert den Historiker allerdings eine missliche Quellenlage“, muss Schmied einräumen (S. 57). Eine wichtige Einsicht Haffners war diejenige der antiliberalen Verwandtschaft Hitler-Deutschlands mit der Sowjetunion (S. 67), die er zeitlebens immer wieder artikulierte. Haffners durch persönliche Bekanntschaften begünstigter Aufstieg zum Spitzenkommentator des angesehenen „Observer“ bleibt bei Schmied eher blass. Zumindest in der Interpretation der frühesten Nachkriegspolitik zwischen Westeuropa und dem um seinen Kolonialbesitz ringenden britischen Empire kam Haffner eine bedeutende Rolle zu.

In der jungen Bundesrepublik führte sich Haffner mit dem damals noch durchaus erstaunlichen Urteil ein, Adenauer sei der „hervorragendste Staatsmann, der seit Bismarck an der Spitze Deutschlands“ stehe (S. 157). Doch das war zugleich schon der Abgesang auf Haffners Rolle als Kalter Krieger. 1954 ging er als Korrespondent ins geteilte Berlin. Hier traf er auf eine weit verbreitete Stimmung, die die forcierte Westintegration der Bundesrepublik für das Auseinanderdriften der beiden deutschen Staaten verantwortlich machte. Von dort zum zunächst wohlwollenden, schließlich engagierten Verfechter der Annäherung von Bundesrepublik und DDR war es weniger weit, als es die von Schmied minuziös – und bisweilen ermüdend – referierten Schlagzeilen und Meinungswechsel suggerieren.

Diese Rolle Haffners bei der Durchsetzung einer „anderen“ Politik in den 1960er-Jahren hätte breiter unterfüttert werden können.1 Schön waren Haffners Formulierungen von 1965 zum nahenden Ende der „Hallstein-Doktrin“: Die Bundesrepublik sei „in der Lage einer strengen Gouvernante, die ursprünglich vorhatte, das Mädchen DDR von jedem männlichen Verkehr abzusperren, aber längst ohnmächtig zusehen muss, wie die Jungen dort ein- und ausgehen. […] und nun zittert sie vor dem Tag, wo auch das Letzte geschehen wird […].“ (S. 288)

Der Höhepunkt von Haffners linksgerichteten Sympathien war zur Zeit der Außerparlamentarischen Opposition (APO) erreicht. Als ständiger „Konkret“-Kolumnist malte er die „formierte faschistische Gesellschaft“ an die Wand (S. 331). Aus heutiger Sicht war das ein Schwenk, wenn nicht eher ein Ausrutscher, der für eine politische Biographie mehr als die Aufzählung der Artikel ihres Protagonisten wünschenswert gemacht hätte. Wie die Mehrzahl der Studenten und der APO fand Haffner schließlich den Weg zur parlamentarischen Demokratie und damit zu Brandts SPD – um dann wieder übers Ziel hinauszuschießen, als er 1973 aus Gründen innereuropäischer Stabilität sogar die Mauertoten rechtfertigte (S. 379). Aber auch das ging vorbei.

Es begann eine erstaunliche Alterskarriere als – ja, was: Historiker, historischer Essayist? 1978, nur fünf Jahre nach Joachim Fests monumentaler Hitler-Biographie, veröffentlichte Haffner einen essayistischen Annex unter dem beinahe koketten Titel „Anmerkungen zu Hitler“. Dies ist – und bleibt – eine der geistvollsten Betrachtungen, die dem deutschen Diktator je gewidmet wurden. Das Büchlein wirkt bis heute aktuell, weil es wegen der Flut der Literatur zum NS-Regime getrost auf tausenderlei Rücksichten der Political Correctness verzichten kann. Es muss nicht Stellung beziehen beispielsweise im Streit zwischen Gesellschaftshistorikern und Strukturanalytikern, es kann sich ganz auf Hitler und das Verhältnis der Deutschen zu ihm konzentrieren.

Ähnlich erfolgreich – Schmied spricht von einer „Haffner-Welle“ (S. 459) –, wenn auch komplexer im Aufbau ist „Preußen ohne Legende“, ein Versuch, der um 1980 verbreiteten Preußen-Nostalgie etwas entgegenzusetzen. Darin kommt vielleicht deutlicher zum Ausdruck, was Haffner jenseits aller Lust am Formulieren, Provozieren, auch am selbstverliebten Stellungswechsel bis hin zum schlichtweg Bizarren, das seinen Journalismus stets auszeichnete, zumindest mit vorrückendem Alter bewegte: dass Politik der Staatsräson gehorchen müsse. Darin war Sebastian Haffner der Konservative, der er in aller Öffentlichkeit wohl stets hatte sein wollen.

Zu einem derartigen inhaltlichen Urteil mag sich der Biograph Jürgen Peter Schmied indessen nicht verstehen: Für ihn bleibt Haffner „ein begnadeter intellektueller Akrobat“ (S. 490). Was aber Haffner tief im Innersten zu solchem Akrobatentum antrieb – denn klug, wie er war, konnten ihm seine eigenen Volten kaum als geniale Logik durchgehen –, vermag Schmied letztlich nicht zu enträtseln. Das war auch dem früheren Biographen Uwe Soukop nicht gelungen, der sich weitgehend an die Analyse der merkwürdig zwischen Links und Rechts oszillierenden Schriften gehalten hatte.2 So viel „Stoff“ zumal die tagesaktuellen Beiträge Haffners auch bieten: Die Einbettung in die jeweilige politische Stimmung bleibt nachzuliefern. Mag Journalismus auch nicht zur Unsterblichkeit führen – so leicht, wie Schmied es sich bisweilen macht, ist er nicht abzutun. Nicht im Falle Sebastian Haffners.

Anmerkungen:
1 Siehe hierzu Ralf Beck, Der traurige Patriot. Sebastian Haffner und die Deutsche Frage, Berlin 2005 (rezensiert von Marcus M. Payk, in H-Soz-u-Kult, 31.3.2006: <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-1-214>).
2 Uwe Soukup, Ich bin nun mal Deutscher. Sebastian Haffner. Eine Biographie, Berlin 2001.