D. Filtzer: The Hazards of Urban Life in Late Stalinist Russia

Cover
Titel
The Hazards of Urban Life in Late Stalinist Russia. Health, Hygiene, and Living Standards, 1943–1953


Autor(en)
Filtzer, Donald
Erschienen
Anzahl Seiten
379 S.
Preis
€ 79,99
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Matthias Braun, Sonderforschungsbereich 640, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Geschichten der Medizin und des Gesundheitswesens haben in der Historiografie der Sowjetunion lange Zeit kaum Beachtung gefunden. Sie führten ein Nischendasein. Nur wenige Arbeiten erreichten ein größeres Publikum. Dazu gehörten die Veröffentlichungen Susan Gross Solomons, die transnationale Verflechtungen thematisierte, als das noch zum Handwerk gehörte, und nicht als Ausweis von Hippness galt.1 Ebenso Paula Michaels kluger, wenngleich nicht vollends überzeugender Versuch, mithilfe der Medizingeschichte die Ansätze der post colonial studies in die Stalinismusforschung zu importieren.2

Das dünne Interesse verwundert nicht angesichts der zahlreichen Themen, die nach der Archivöffnung der Wiedervorlage harrten. Der expandierende Wohlfahrtsstaat markierte, wie Amir Weiner einmal bemerkte, eben nur eine Seite der bolschewistischen Diktatur, deren andere Seite der gewalttätige Säuberungsstaat war.3 Letzterer hat unzweifelhaft zurecht die bisherige Forschungsagenda bestimmt. Dennoch ist zu fragen, was die zahlreichen Quellen der Gesundheitsexperten, die anderswo üppig und ergiebig verdaut werden, zum Verständnis der stalinistischen Diktatur beizutragen vermögen.

Donald Filtzer schlägt mit seiner Studie über die „Gefahren des städtischen Lebens im Spätstalinismus“ eine mögliche Antwort vor. Der Autor verarbeitet Berichte über die öffentliche Hygiene und das Gesundheitswesen sowie demografische und ernährungswissenschaftliche Statistiken russischer Städte, die der Krieg verschont hatte. Er führt Archivbestände der staatlichen Gesundheitsverwaltung, der Hygienekontrolle sowie des Statistikamtes vor. Donald Filtzer aber, und das überrascht den kulturhistorisch imprägnierten Leser, interessiert sich gar nicht für Bilder von Hygiene, Vorstellungen von Gesundheit oder das Werden statistischen Wissens. Er möchte vielmehr erfahren, wie „Menschen [insbesondere die Arbeiter – der Autor] in den russischen Städten lebten“ (S. 2). Sie lebten, soviel vorweg, nicht so gut.

Die Kapitel Eins und Zwei behandeln zwei klassische Themen der Umwelt- und Stadtgeschichte: die Bereitstellung sauberen Trinkwassers und die Entsorgung schmutzigen Abwassers. Die Umsetzung beider Maßnahmen ermöglichte die Hygienisierung der europäischen Städte im 19. Jahrhundert. Die städtische Bevölkerung der Sowjetunion indes wartete noch Mitte des 20. Jahrhunderts mehrheitlich darauf, dass Aborte mit Wasserspülung in ihr Leben traten. Sie war unterdessen damit befasst, all die Stadtreinigungskampagnen der kleinen und großen Stalinisten in den Behörden umzusetzen. Eine geregelte Entsorgungswirtschaft existierte nur in Ansätzen.

Abgesehen von den Fragen des Lebensstandards erachtet Filtzer die zunehmende Umweltverschmutzung infolge forcierter Industrialisierung als wichtig für ein Verständnis des Spätstalinismus. Sie sei, schreibt er, charakteristisch für die politische Ökonomie der Sowjetunion. Die Umweltverschmutzung verweist auf die selbstzerstörerische Kraft des stalinschen Regimes. Ein extensives Industriewachstum ging allzu oft zu Lasten der Natur. Die eingesetzten Mittel erwirtschafteten kaum einen vermehrten Reichtum, weil die Beseitigung der schlimmsten Folgeschäden einen Großteil der Gewinne verschlang.

Das Kapitel Drei wendet sich der persönlichen oder individuellen Hygiene zu. Filtzer beschreibt hier ein Paradox. Der spätstalinistische Staat verweigerte seinen Bewohnern zwar die dringend notwendigen Investitionen in die Infrastrukturen der Hygiene wie Badeanstalten und Wäschereien. Er markierte dennoch den Ausgangspunkt einer langfristigen Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes, des wachsenden Wohlstandes und einer sinkenden Kindersterblichkeit. Filtzer findet den Grund dafür in den ausgefeilten Methoden, mithilfe derer der Staat von Infektionskrankheiten befallene Einwohner identifizierte, isolierte und desinfizierte. In den Jahren nach dem Krieg gelang es dem Regime, die Lebensbedingungen soweit zu verbessern, dass sie nur mehr Elend bedeuteten, nicht den Tod.

Das Kapitel Vier untersucht die Ernährungssituation der Nachkriegsjahre. Filtzer entwirft mithilfe von Ernährungsstatistiken ein differenziertes Bild der Kalorienversorgung der Bevölkerung. Die Lebensmittelkrise von 1947 markierte das Ende einer langen Zeit chronischer Lebensmittelknappheit, die in den späten 1930er-Jahren begonnen hatte. Bis in die späten 1940er-Jahre beruhte die wirtschaftliche Entwicklung der Sowjetunion auf der Ausbeutung der physischen Reserven seiner Bewohner. Die Bevölkerung durchlebte eine Periode unzureichender Versorgung und hoher Belastung. Nach der Lebensmittelkrise stieg die durchschnittliche Kalorienaufnahme kontinuierlich. Dazu trugen neben einer verbesserten Brotqualität vor allem eine zunehmende Verfügbarkeit von Fett und Zucker bei.

Das Kapitel Fünf schließlich wertet Statistiken der Kindersterblichkeit aus. Die Kindersterblichkeit fiel nach 1947 stetig. Sie sank innerhalb weniger Jahre nicht nur auf das Vorkriegsniveau, sondern auf geringere Werte. Die Sowjetunion realisierte den Rückgang nicht durch ein höheres Nationaleinkommen, verbesserte Hygiene, geringere Geburtenzahlen oder billigere Nahrungsmittel wie die westeuropäischen Staaten des 19. Jahrhunderts. Der spätstalinistische Staat verringerte die Kindersterblichkeit allein aufgrund seiner Fähigkeit zur epidemiologischen Kontrolle, gesundheitlichen Aufklärung und Immunisierung der Bevölkerung.

Die Lektüre von Donald Filtzers lesenswerter Studie hinterlässt einen gemischten Eindruck. Die Kapitel wirken in sich informativ, kenntnisreich und überzeugend. Beispielsweise bestätigt die in Kapitel Drei vorgetragene These zur intervenierenden Seuchenpolitik die Ergebnisse älterer Studien. Die Seuchenpolitik der Sowjetunion erzielte ihre Erfolge nicht aufgrund langfristiger Hygienisierungsprogramme, sondern durch fallweise Interventionen. Der spätstalinistische Staat besiegte die Malaria nicht durch massenwirksame Kampagnen zur technischen Sanierung verseuchter Sumpfgebiete, sondern vor allem durch die Nachentwicklung europäischer Arzneien und den Einsatz des Insektizids DDT.4 Die Sowjetunion zeigte sich als ein gesundheitspolitischer Interventionsstaat, der zum Westen ein Verhältnis des „benefit and borrow“ unterhielt.

Doch das Leben der Arbeiter in der Nachkriegszeit, das Donald Filtzer zu beschreiben reklamiert, bleibt in seiner Studie merkwürdig im Dunkeln. Das liegt daran, dass der Autor weitgehend darauf verzichtet, die von ihm präsentierten Beobachtungen des Staates in den Selbstäußerungen der Beobachteten zu spiegeln. Beispielweise verweisen die Kalorienstatistiken zwar auf eine schwierige Ernährungssituation. Auch ist die Schlussfolgerung einleuchtend, dass die wirtschaftliche Modernisierung der Sowjetunion auf Kosten der physischen Substanz ihrer Bewohner ging. Doch vermitteln die Zahlen nur in Ansätzen eine Vorstellung davon, wie die „Menschen lebten“.5

Die Stärke des Buches liegt somit in der beeindruckenden Fülle des Materials, das Donald Filtzer sachkundig und umsichtig aufbereitet. Das Buch bietet dem forschenden Leser eine Fülle detaillierter Informationen, die auf hilfreiche Art und Weise zugänglich gemacht werden. Nicht zuletzt der umfangreiche Index lässt das Buch zu einem leicht erschließbaren Nachschlagewerk werden. Schließlich gibt der Autor durch die breite und systematische regionale Streuung seiner Vergleichsfälle einen umfassenden Überblick über die gesundheitswissenschaftliche Vermessung der spätstalinistischen Sowjetunion.

Anmerkungen:
1 Susan G. Solomon, Knowing the Local. Rockefeller Foundation Officers' Site Visits to Russia in the 1920s, in: Slavic Review 62 (2003) 4, S. 710-32; dies., The Soviet-German Syphilis Expedition to Buriat Mongolia, 1928. Scientific Research on National Minorities, in: Slavic Review 52 (1993) 2, S. 204-32.
2 Paula A. Michaels, Curative Powers. Medicine and Empire in Stalin’s Central Asia (= Pitt Series in Russian and East European Studies), Pittsburgh 2003.
3 Amir Weiner, Nature, Nurture, and Memory in a Socialist Utopia. Delineating the Soviet-Socio-Ethnic Body in the Age of Socialism, in: The American Historical Review 104 (1999) 4, S. 1114-55, hier S. 1115.
4 Vgl. Richard Johnson, Malaria and Malaria Control in the USSR, 1917-41, Washington 1988, S. 231.
5 Vgl. für die 1930er-Jahre etwa Elena Osokina, Our Daily Bread. Socialist Distribution and the Art of Survival in Stalin's Russia (= The New Russian History), Armonk 2001.

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