W. Baumgart: Wörterbuch historischer und politischer Begriffe

Cover
Titel
Wörterbuch historischer und politischer Begriffe des 19. und 20. Jahrhunderts. Dictionary of Historical and Political Terms of the 19th and 20th Centuries. Dictionnaire de termes historiques et politiques des 19ème et 20ème siècles


Autor(en)
Baumgart, Winfried
Erschienen
München 2010: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
575 S. + 1 CD-ROM
Preis
€ 99,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Benjamin Herzog, Fakultät für Geschichtswissenschaft, Ruhr-Universität Bochum

Nicht erst seit dem Linguistic Turn erweist sich die fachspezifische Sprachkompetenz des Historikers weniger in der Verfügung über eine sehr reduzierte Fachsprache als in der gesteigerten Aufmerksamkeit für die Historizität und nationalkulturelle Diversität von Sprache sowie für die sprachliche Konstituiertheit von Geschichte – sowohl als Erkenntnisfalle wie auch als Erkenntnisquelle. Aus dem Titel des vorliegenden Werks eine Nähe zu dieser Forschungstradition Historischer Semantik abzulesen wäre ein Missverständnis, denn Winfried Baumgart geht es in der Tat um die Sprache des Historikers, nicht um die Historizität von Sprache; um den Gebrauch, nicht um den Erkenntnisgegenstand. Ob das eine heute noch vom anderen zu trennen ist bzw. auf dessen Kosten gehen muss, ist zu fragen. Geboten werden soll ganz im Sinne einer praktischen Hilfestellung ein Übersetzungswörterbuch zum Wortschatz des Historikers für die Epoche der Moderne. Damit ist das „Alleinstellungsmerkmal“ des Werkes benannt: Es liefert – fast durchgehend ohne sachliche Worterklärungen – zu rund 15.000 Begriffen aus dem Zeitraum von 1800 bis 2000 die Entsprechungen im Englischen und im Französischen. Der Übersetzungsrichtung aus dem Deutschen entspricht durchgängig der thematische Blick: Es geht um die deutsche und von Deutschland aus erschlossene und geordnete historische Welt.

Eine kritische Musterung des Wörterbuchs muss zunächst an der Auswahl der Begriffe ansetzen: Auf was für einem Konzept historischer Fachsprache und damit historischer Praxis fußt sie? Baumgart selbst gibt anstelle prinzipieller Vorüberlegungen einleitend nur eine heterogene Liste von Begriffsgruppen. Fragt man zunächst nach den Gewichtungen gegenstandsdefinierter Sachgebiete, ist die Privilegierung eines eher konventionellen Geschichtsverständnisses auffällig: der klassischen Politikgeschichte mit deutlichen Schwerpunkten auf Verwaltung, Verfassung, Militärgeschichte und Diplomatie – Felder, die auch Baumgarts eigene Forschung geprägt haben. Bezeichnenderweise gesteht er schon dem Recht nur als Völkerrecht historisch herausragende Relevanz zu (S. 18). Während sich aus jenen Bereichen (zu) viele technische Spezialtermini finden lassen, überrascht die tendenzielle Vernachlässigung der politischen Ideengeschichte. Wirtschaft, Technik, Sozialgeschichte und Kultur werden einbezogen; Bereiche wie Mediengeschichte, Religionsgeschichte, Körpergeschichte, Geschlechtergeschichte oder Migrationsgeschichte haben hier offensichtlich keine systematische Berücksichtigung gefunden. Bei der epochalen Gewichtung ist ein Schwerpunkt im 19. Jahrhundert spürbar.

Im Zentrum von Baumgarts Konzept „historischer“ Begrifflichkeit steht das Kriterium des Veraltetseins – nicht zuletzt mit der Intention, hier eine Sprachkompetenz zu bewahren. So konstituieren sich im Rückblick eigene „Begriffswelten“ jedes Zeitalters (S. 11f.). Über dieses Verständnis sind zahlreiche auch unspezifische Begriffe des Alltags, der Verwaltung oder der Wirtschaft in das Wörterbuch gelangt. Offensichtlich ist, dass dieses Kriterium quer zur historischen Relevanz der Sprache steht: Die Sprache, die geschichtlich geworden ist, ist eben nicht immer die, die Geschichte gemacht hat. Auch der Sprachwandel ist mit dem Veralten nicht angemessen erfasst – es geht im Grunde um ein historistisches oder gar antiquarisches, jedenfalls nicht historisch-semantisches Verständnis „historischer Begriffe“.

Dem entspricht die Konzentration auf die benennende, nicht selbst wirkmächtige Funktion der Sprache – das Geschehen wird bezeichnet, nicht selbst sprachlich konstituiert. Daraus ergibt sich die Fülle von Ortsnamen, aber auch historischer Ereignisse gleichsam als Eigennamen, Schlagwörter usw. bis hin zu Titeln (so findet sich „Schuld und Sühne“, aber nicht „Schuld“). Baumgart misst einem Begriff eine umso größere Historizität zu, je konkreter er grundiert ist. Dass Sprache jenseits der Bezeichnung eine Deutungs- und Ordnungsleistung erbringt, und zwar gerade je stärker sie den Anspruch des hier tendenziell diskriminierten Allgemeinbegriffs erhebt, bleibt im Widerspruch zur begriffsgeschichtlichen Forschung in der Auswahl unberücksichtigt. So fehlen viele Grundkategorien wie „Beruf“, „Autorität“, „Gattung“, „Leistung“, „Person“, „Tugend“. „System“, „Gesellschaft“, „Bildung“, „Boden“ kommen nur in konkreten Komposita vor, „Moderne“ findet sich nur als Kunstrichtung, „Sachlichkeit“ nur als „Neue Sachlichkeit“.

Die Begrifflichkeit geschichtswissenschaftlicher Selbstreflexion, Thesenbildung und Methode wird zwar einbezogen, ist aber generell eher unterrepräsentiert. So fehlen etwa „Anachronismus“, „Diachronie“, „Egodokument“, „Körpergeschichte“, „Narrativität“, „Meistererzählung“, „Dichte Beschreibung“, „Entstehung“ / „Making of“, „kulturelles Gedächtnis“, „Kohorte“, „Milieu“. Es gibt das Lemma „Orientalische Frage“, während „Orientalismus“ fehlt. Defizite fallen vor allem dort auf, wo ein jenseits des Terminologischen liegender konstruktiver oder auch umkämpfter Charakter der Begriffe hätte berücksichtigt werden müssen. Es fehlen Deutungskategorien wie „Sinn“, „Identität“, „Typus“, „Prozess“, „Tat“, „Tatsache“, „Totalität“, „Akteur“, „Praxis“, „Praktik“, „Performanz“, „Zuschreibung“, „Zufall“, „Fremdheit“ – hingegen findet sich „Mikrofilmlesegerät“.

Auch für die Art, in der das Wörterbuch seine Übersetzungsaufgabe angeht, gilt, dass nationalsprachliche Divergenz und graduell abgestufte (Un-)Übersetzbarkeit selten als Symptome eines historischen Befundes von eigenem Interesse erkennbar werden. Der Übersetzungsvorgang wird also nicht als Erkenntnis- und Interpretationsprozess kenntlich (der unreflektiert ja immer enthistorisiert)1, sondern eher als sprachtechnische, gar sprachnormierende Aufgabe verstanden (gegen Anglizismen und Gallizismen). Die in den letzten Jahren verstärkten Bemühungen um international vergleichende Historische Semantik bleiben dabei unberücksichtigt.

Diese Tendenz schlägt sich in vieler Hinsicht praktisch nieder; sechs Aspekte seien hier genannt: Erstens sind manche Einträge eigentlich künstliche Rückübersetzungen von im Deutschen gar nicht gängigen fremdsprachlichen Begriffen („offenbare Bestimmung“ für „manifest destiny“, „Nachspielen“ für „reenactment“). Damit stellt sich zweitens die Frage, ob für ausgewählte Kernbegriffe, die nicht als Übersetzungen aus dem Deutschen auftauchen bzw. in ihrer spezifischen Relevanz greifbar werden, nicht doch auch vom Englischen oder Französischen hätte ausgegangen werden sollen (so fehlen etwa „chef“, „affaire“, „New Historicism“, „histoire maritime“, „subaltern studies“, „surveillance studies“, „plot“). Dies verweist drittens auf die Notwendigkeit einer stärkeren Akzeptanz historisch symptomatischer Lehnwörter („longue durée“, „Résistance“, „Oral History“ sind hier nicht oder nur als Übersetzung aufgeführt; „Weltanschauung“ findet sich im Englischen nicht als Lehnwort). Viertens changiert die Übersetzung zwischen verschiedenen Modellen – sie wird zuweilen zur bloßen Umschreibung und Erklärung (so bei den Einträgen „Jugendweihe“, „unbewältigte Vergangenheit“, „Streitkultur“, für die es schlicht keine Übersetzungen gibt); manchmal kann sie einen entsprechenden, wiederum historisch spezifischen und gewachsenen Ausdruck fast als Eigennamen liefern (so beim Eintrag „1. Weltkrieg“); dann wieder wäre es sinnvoll gewesen, das jeweilige nationale Gegenstück zu liefern (etwa bei „Mitte“ und „juste milieu“, oder bei „Auslandsdeutschem“, „Kulturkampf“, „Sattelzeit“ – für die es gar keinen Eintrag gibt). Ein Bewusstsein für solche unterschiedlichen Typen unterscheidet gerade ein historisches Übersetzen von normalen Wörterbüchern. Fünftens müsste die Übersetzung vor allem bei den ‚lohnenden‘ Fällen auf struktur- oder ideengeschichtlicher Herleitung nationaler Differenz fußen. Das kann in einem derartigen Wörterbuch zwar kaum geleistet werden2; man hätte sich aber zuweilen mehr Differenzierungsangebote und erläuternde Warnschilder gewünscht, wiederum in Abgrenzung von dem, was ein normales Wörterbuch auch leistet (so bei „Rechtsstaat“, „Bund“, „Staat“ überhaupt; bei „Sicherheit“, „Gefühl“, „Art“, „Freiheit“, „Opfer“, für die jeweils zwei sehr divergierende Varianten übersetzt werden können – security / safety etc.). Sechstens schließlich hätte mehr Gewicht auf solche Übersetzungsverhältnisse gelegt werden können, in denen sich internationale Beziehungs- und Transfergeschichte, auch reziproke Wahrnehmungsgeschichte begrifflich niedergeschlagen haben (gegenseitige Feindbezeichnungen, Freundschaftsverhältnisse).

Das alles sind grundsätzliche Anmerkungen jenseits der immer kritisierbaren Einzelfälle, die zum Teil natürlich auf einen Mehrwert zielen, der einem solchen Unternehmen nicht abverlangt werden kann. Für den angestrebten Gebrauchswert des Wörterbuchs kann daher bilanziert werden, dass in der Praxis die Trefferquote trotz der Lücken und Vorbehalte relativ hoch sein wird und dass man einem Pionierunternehmen dankbar sein muss, das auf einen gestiegenen Internationalisierungsdruck der geschichtswissenschaftlichen Praxis antwortet. Ein ergänzender und sich versichernder Blick in englische und französische Lexika zur Geschichtswissenschaft bleibt ja unbenommen.

Anmerkungen:
1 Vgl. zu dieser Gefahr: Jörn Leonhard, Von den Sprachen der Politik und den Grenzen der Übersetzbarkeit: Methodik und Herausforderung einer europäischen Erfahrungsgeschichte, in: Rolf G. Renner / Fernand Hörner (Hrsg.), Deutsch-französische Berührungs- und Wendepunkte, Freiburg 2009, S. 407-420.
2 Vgl. etwa Jacques Leenhardt / Robert Picht (Hrsg.), Esprit – Geist. 100 Schlüsselbegriffe für Deutsche und Franzosen, München 1989, 2. Aufl. 1990.