T. Stickler: Korinth und seine Kolonien

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Titel
Korinth und seine Kolonien. Die Stadt am Isthmus im Mächtegefüge des klassischen Griechenland


Autor(en)
Stickler, Timo
Reihe
Klio-Beihefte N.F. 15
Erschienen
Berlin 2010: Akademie Verlag
Anzahl Seiten
399 S.
Preis
€ 69,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Sebastian Scharff, Seminar für Alte Geschichte / Exzellenzcluster „Religion und Politik“, Westfälische Wilhelms-Universität Münster

Das klassische Griechenland und speziell das 5. Jahrhundert v.Chr. gehören sicher zu den am besten erforschten Epochen in der Alten Geschichte. Dennoch ist es Timo Stickler mit seiner Düsseldorfer Habilitationsschrift gelungen, altbekannte Zusammenhänge in einem neuen Licht erscheinen zu lassen. Dies liegt vor allem an der Perspektive, die Stickler wählt: Er schreibt die Geschichte der Pentekontaëtie nicht aus der Sicht der beiden ‚Großmächte‘ Sparta und Athen, sondern aus dem Blickwinkel der ‚Mittelmacht‘ Korinth. Ein solches Unterfangen kann man mit gutem Recht als ein Desiderat der Forschung bezeichnen. So ist trotz der großen Bedeutung der Stadt am Isthmos seit Woldemar Grüners inzwischen veralteter Dissertation 1 keine Monographie mehr erschienen, die sich schwerpunktmäßig mit der korinthischen Geschichte des 5. Jahrhunderts beschäftigt hätte. Die einschlägigen Arbeiten von Édouard Will und John B. Salmon bilden in chronologischer und inhaltlicher Hinsicht allenfalls Schnittmengen mit Sticklers Untersuchung.2

So wünschenswert das Unterfangen des Autors also ist, so muss doch zugleich angemerkt werden, dass seine Studie in einer Hinsicht die Erwartungen nicht erfüllt, die sie im Untertitel weckt: Sie stellt eben keine Geschichte der „Stadt am Isthmus im Mächtegefüge des klassischen Griechenland“ dar, sondern beschäftigt sich mit der Außenpolitik der Korinther allein im 5. Jahrhundert. Das 4. Jahrhundert kommt mit Ausnahme des Ausblicks (S. 366f. u. 370) und eines kurzen Exkurses zur Sizilien-Expedition des Timoleon von 345/44 (S. 286–292) nicht vor. Dies bringt eine gewisse Fixierung auf Thukydides als „Hauptquelle dieser Arbeit“ (S. 13) mit sich, die durch eine chronologische Erweiterung des Untersuchungszeitraums auf das 4. Jahrhundert hätte vermieden werden können.

Nach einem kurzen Vorwort, dem Kapitel I 3, entwickelt Stickler im zweiten Kapitel seine Fragestellung unter Rückgriff auf Hans-Joachim Gehrkes „Jenseits von Athen und Sparta“ 4 (S. 11) und positioniert sich in der thukydideischen Frage. Dabei betont er die Chancen, die sich für den Thukydides-Interpreten aus der Tatsache ergäben, dass der Autor des „Peloponnesischen Krieges“ im Laufe der Arbeit an seinem Werk seine Meinung über die Kriegsursachen geändert habe. Dadurch dass Thukydides erst zu einem späteren Zeitpunkt alles auf den wachsenden Gegensatz zwischen Athen und Sparta reduziert habe, hätten sich Themenkomplexe wie die Kerkyraiká oder die Poteidaiatiká, in denen die Korinther eine entscheidende Rolle spielten, überhaupt nur erhalten können. Methodische „Perspektiven jenseits der gewohnten Interpretationsrichtungen“ (S. 19) eröffneten ferner die bei Thukydides gehaltenen Reden, da sich in diesen noch Reflexe der in der jeweiligen historischen Situation geäußerten Meinungen der Akteure, also auch der Korinther, wiederfänden.

Im dritten Kapitel folgt eine Analyse der inneren Verhältnisse im Korinth der 460er Jahre, die im Wesentlichen auf der 13. Olympie Pindars auf den korinthischen Adligen Xenophon beruht. Stickler zeichnet das Bild einer reichen und selbstbewussten Polis, die von einer aristokratischen Elite geleitet wurde, deren Wirkradius die gesamte griechische Welt umspannte und noch darüber hinaus reichte. Diese Interpretation überzeugt in ihren Grundzügen und ist auch in Einzelheiten instruktiv. Allerdings stellt sich die Frage, ob die Interpretation einer einzelnen Ode Pindars in Bezug auf eine andere griechische Polis signifikant andere Ergebnisse zeitigen würde. Auch setzt Stickler einen starken Akzent auf eine gnóme (Pind. Ol. 13,47–48), die dem Oligaithiden die Beachtung des rechten Maßes beim Handeln nahe legt. Nun ist aber der Gedanke des métron áriston beinahe griechisches Allgemeingut, und Pindar schildert das Ende des Bellerophontes, das dazu geeignet wäre, die Gefahr menschlicher Hybris zu verdeutlichen, an dieser Stelle gerade nicht. Die Mahnung fällt somit doch eher zurückhaltend aus.5

Nach den innenpolitischen Voraussetzungen folgen in Kapitel IV die äußeren Ausgangsbedingungen für eine Erforschung der korinthischen Außenpolitik nach den Perserkriegen. Statt einer querschnittartigen Herangehensweise wie in Kapitel III („Korinth im Jahre 464 v. Chr.“) legt Stickler hier einen Längsschnitt korinthischer Außenpolitik bis 480 v.Chr. vor, der die bekannten Leitlinien der korinthischen Frühgeschichte wie frühe überregionale Seegeltung, Kolonisationsaktivität und wirtschaftliche Prosperität aufgrund günstiger geopolitischer Lage in den Vordergrund stellt. Der Verfassungswechsel von 583/82 habe keinen Bruch in der Außenpolitik mit sich gebracht: Die außenpolitisch so glanzvolle Kypselidenära sei zwar am Ende gewesen, und Korinth erscheine um 500 v.Chr. „im Schlepptau der neuen Großmacht Sparta“ (S. 80), eine eigenständige Rolle der Stadt am Isthmos sei aber auch während der Perserkriege immer möglich gewesen. Dies zeige etwa die Anti-Tyrannen-Rede des Sosiklees im fünften Buch Herodots. Eine genaue Analyse des Verhältnisses der Korinther zu ihrem Hegemon Sparta im 6. und 5. Jahrhundert beschließt das Kapitel.

Im fünften Kapitel bietet Stickler eine systematische Besprechung der Zeugnisse korinthischer Außenpolitik nach dem Xerxeszug. Diese folgt einem geographischen Gliederungsprinzip und macht als Schwerpunkte korinthischer Politik den nordwestgriechischen Raum und die unmittelbare Nachbarschaft der Stadt am Isthmos aus. Für Akarnanien und den Golf von Ambrakia zeichnet Stickler das „Bild einer mehr oder weniger geschlossenen Interessensphäre der Korinther“ (S. 157), auf die aber auch die Athener immer wieder Ansprüche erhoben hätten. In diesem „Ringen um Nordwestgriechenland“ (S. 158) waren die Frontstellungen und Kampfbündnisse der 450er Jahre mit denen der 420er nahezu identisch. Basis der korinthischen Operationen in der Auseinandersetzung mit den Athenern sei dabei ein dichtes Netz von Stützpunkten und Kolonien gewesen. Anhand ihrer Beziehungen zu Kleonai und Megara verdeutlicht Stickler im Anschluss die Politik der Korinther gegenüber ihren unmittelbaren Nachbarn auf der nordöstlichen Peloponnes, dem Isthmos und am Saronischen Golf.

Das sechste Kapitel liefert eine ereignisgeschichtliche Gesamtdarstellung der Pentekontaëtie aus korinthischer Perspektive. Stickler gelingt es, die permanente Konflikthaftigkeit der Beziehungen zwischen Athen und Korinth herauszuarbeiten. Er kann zeigen, dass die Korinther – nicht die Spartaner – als die eigentlichen Gegenspieler der Athener in der Zeit nach den Perserkriegen anzusprechen sind. Allerdings ist der Gegenstand des Kapitels derselbe wie im vorhergehenden fünften; der Unterschied liegt nur in einem anderen Gliederungsprinzip. Dies hat zur Folge, dass Stickler gelegentliche Redundanzen – wie auch im dritten Kapitel – nicht ganz vermeiden kann (vgl. S. 192, 194 u. 223). Kritisch anzumerken ist ferner, dass Stickler manchmal gerade an den Stellen bei einer bloßen Deskription des Verhaltens der Akteure bleibt, an denen es interessant gewesen wäre, nach Begründungen für solches Verhalten zu fragen.6

Im siebten Kapitel wendet sich der Autor dem Problem der angemessenen Beschreibung und begrifflichen Durchdringung des korinthischen Einflussbereichs in Nordwestgriechenland zu. Mit Recht insistiert Stickler auf der Existenz einer eigenständigen korinthischen Herrschaft neben den beiden großen Hegemonien der Spartaner und Athener, die sich schon vor den Perserkriegen herausgebildet habe. In Abgrenzung von älteren Forschungspositionen und Konzepten (Kahrstedts ‚korinthisches Kolonialreich‘ und Hampls ‚Polis ohne Territorium‘), die die Herrschaft der Korinther mit zu starren juristischen Kategorien zu erfassen suchten, betont Stickler im Anschluss an einen instruktiven Aufsatz Gregory Cranes 7 die informellen Aspekte der korinthischen Hegemonie. Das Herrschaftsverständnis der Korinther habe sich dabei noch im 5. Jahrhundert in den Bahnen von Mutterstadt und Apoikie bewegt und wird von Stickler als „geradezu altmodisch“ (S. 294) charakterisiert. Im Verlaufe des Peloponnesischen Krieges habe sich aber mehr und mehr gezeigt, dass sich die Korinther mit diesem traditionellen Konzept von Herrschaft nicht durchsetzen konnten.

Das achte Kapitel schließt thematisch an das sechste Kapitel an und bietet eine ereignisgeschichtliche Darstellung des Peloponnesischen Krieges aus korinthischer Perspektive. Dabei legt Stickler den Schwerpunkt eindeutig auf den Archidamischen Krieg, den Nikias-Frieden und den Beginn des Dekeleïschen Krieges. Der Verlauf des Dekeleïschen Krieges und gerade sein Ende werden aber nur sehr kurz behandelt. Im Grunde bricht mit dem Ende des thukydideischen Geschichtswerkes auch Sticklers Untersuchung ab.8 So wird die Kapitulation Athens erst im Schlusskapitel, das zugleich „Ausblick und Zusammenfassung“ sein will, behandelt. Dieser janusköpfige Charakter des Kapitels IX kann nicht überzeugen; allerdings gelingt es Stickler in plausibler Weise, die korinthische Forderung nach der völligen Zerstörung Athens nicht aus bloßem leidenschaftlichen Hass zu erklären, wie dies die Forschung bisher weitestgehend getan hat, er zeigt vielmehr, dass es für die Korinther bei dieser Forderung darum ging, den Lohn für „die Mühen der zurückliegenden Dezennien“ (S. 365) einzustreichen.

Abschließend bleibt festzuhalten, dass in Zukunft niemand, der sich mit der korinthischen Außenpolitik im 5. Jahrhundert beschäftigen will, an Sticklers flüssig geschriebener Studie vorbeikommen wird. Eine Auswahlbibliographie der am häufigsten zitierten Literatur sowie ein Wort- und ein Stellenindex runden die Arbeit ab.

Anmerkungen:
1 Woldemar Grüner, Korinths Verfassung und Geschichte, mit besonderer Berücksichtigung seiner Politik während der Pentekontaetie, Colditz 1875.
2 Vgl. Édouard Will, Korinthiaka, Paris 1955 und John B. Salmon, Wealthy Corinth, Oxford 1984.
3 Dem Vorwort eine eigene Kapitelnummer zu geben, erscheint nicht ganz glücklich; und Stickler kommt auch selbst durcheinander, wenn er in seiner Grobgliederung (S. 22f.) die Kapitel falsch zuordnet und aus dem dritten das zweite, dem vierten das dritte usw. macht.
4 Vgl. Hans-Joachim Gehrke, Jenseits von Athen und Sparta, München 1986. Der Bezug auf Gehrke findet sich auch an Stellen, wo er nicht expliziert wird, vgl. hierfür den letzten Satz von Sticklers zweitem Kapitel (S. 23).
5 In formaler Hinsicht stört im dritten Kapitel ein wenig, dass die Versangaben bei längeren Pindar-Zitaten im Fließtext als Hochzahlen gesetzt sind, die sich im Druckbild nicht von den Zahlen der Fußnoten unterscheiden.
6 Ein Beispiel dafür findet sich etwa auf S. 196, auf der das Verhalten der Sikyonier und Epidaurier, das gerade nicht oder nur z.T. der von Stickler zu Recht viel beschworenen „Logik traditioneller Nachbarschaftskonflikte“ (S. 188) folgt, nonchalant mit „warum auch immer“ begründet wird.
7 Gregory Crane, Power, Prestige, and the Corcyrean Affair in Thucydides 1, in: Classical Antiquity11 (1992), S. 1–27.
8 Von gut 62 Seiten über den Peloponnesischen Krieg widmet Stickler gerade mal sieben den Ereignissen nach 413 v.Chr.

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