K. Čapková u.a.: Nejisté útočiště [Unsichere Zuflucht]

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Titel
Nejisté útočiště. Československo a uprchlíci před nacismem, 1933–1938 [Unsichere Zuflucht. Die Tschechoslowakei und die Flüchtlinge vor dem Nationalsozialismus 1933-1938]


Autor(en)
Čapková, Kateřina; Frankl, Michal
Anzahl Seiten
421 S.
Preis
349,00 Kč
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Alfons Adam, Institut Terezínské iniciativy, Praha

Kateřina Čapková und Michal Frankl haben ihre Arbeit in Anlehnung an Vicky Carons „Uneasy Asylum“ 1 zur französischen Haltung gegenüber jüdischen Flüchtlingen, „Nejisté útočiště“ (Unsichere Zuflucht) genannt. In ihrer Studie über die Flüchtlingspolitik der Ersten Tschechoslowakischen Republik hinterfragen die Autoren den Mythos von der ČSR als Fluchtort, der offen für alle Verfolgten des Nazi-Regimes gewesen sei. An der Entstehung dieses Mythos hatte bereits die tschechoslowakische Exilregierung in London aktiv gearbeitet und 1944 den deutsch-jüdischen Schriftsteller und Journalisten Wilhelm Sternfeld (1888-1973), der 1933 über Paris und Prag nach London emigriert war, mit einer Monografie zur Geschichte des Exils in der Tschechoslowakei beauftragt, die der „Tschechoslowakischen Republik ein Denkmal setzen sollte“ (S. 7). Zu einer Veröffentlichung der Arbeit mit einem Vorwort von Thomas Mann kam es in der Nachkriegstschechoslowakei jedoch nicht mehr.

Čapková und Frankl konstatieren für die Mehrheit der Studien zur Flüchtlingspolitik der Ersten Republik ein zu unkritisches und positives Bild. Zudem bemängeln sie, dass der Schwerpunkt der bislang vorliegenden Arbeiten zur Flucht in die Tschechoslowakei auf den politischen und kulturellen Eliten aus Deutschland und Österreich liege, wogegen die Mehrheit der „gewöhnlichen“ Flüchtlinge – insbesondere Juden – bislang unbeachtet geblieben sei. Das Ziel der beiden Autoren ist es, einerseits diese Lücken zu verringern, andererseits die Flüchtlingspolitik der Tschechoslowakei in einen internationalen Kontext zu stellen. Diesem zweiten Ziel werden sie nur in Ansätzen gerecht, womit auch schon einer der wenigen Schwachpunkte des Buches genannt ist.

Für ihre Arbeit haben Čapková und Frankl bislang kaum beachtete Dokumente des tschechoslowakischen Innen- und Außenministeriums, der Landesbehörden (Zemský úřad) sowie der Prager Polizeidirektion ausgewertet; darüber hinaus haben sie als Splitterbestände über die ganze Welt zerstreute Unterlagen der in der Tschechoslowakei ehemals tätigen Flüchtlingshilfsorganisationen zusammengetragen. Die umfangreiche Quellenarbeit wurde durch Erinnerungsberichte und die zeitgenössische tschechoslowakische Tagespresse ergänzt.

Das Buch hat zwei Schwerpunkte: Zum einen analysieren Čapková und Frankl die staatliche Flüchtlingspolitik der ČSR vom Anfang der 1930er-Jahre bis zum „Münchner Abkommen“, zum anderen widmen sie sich dem Alltagsleben der Flüchtlinge und der Arbeit der Hilfsorganisationen. Das politische Engagement der verschiedenen Flüchtlingsgruppen und der Parteien im Exil ebenso wie die Fluchtwelle, die nach dem „Münchner Abkommen“ 1938 einsetzte, werden mit Hinweis auf den befriedigenden Forschungsstand indessen ausgeblendet.2

Das erste Kapitel liefert einen Überblick über die Flüchtlingspolitik der Tschechoslowakei sowie über die allgemeinen europäischen Tendenzen vom Machtantritt Hitlers in Deutschland bis zum „Münchner Abkommen“. Waren Flüchtlinge aus dem ehemaligen russischen Imperium nach dem Ersten Weltkrieg in der Tschechoslowakei willkommen, führte die Weltwirtschaftskrise zu einer verstärkt protektionistischen Politik. Die Tschechoslowakei kannte kein Asylrecht, sondern nur eine Vielzahl von Einzelvorschriften. Die Prager Regierung wünschte vor allem aus wirtschaftlichen Gründen auch nach dem Machtantritt Hitlers weiterhin visafreie Beziehungen zu Deutschland. Für Einreisende mit einem deutschen Pass galt grundsätzlich ein zweimonatiges Aufenthaltsrecht, das von den lokalen Behörden verlängert werden konnte. Das Hauptproblem der Flüchtlinge war die Arbeitsgenehmigung. Die Tschechoslowakei erlaubte seit 1928 nur in Sonderfällen die Einstellung von Ausländern, was in den Jahren der Weltwirtschaftskrise besonders restriktiv gehandhabt wurde. Der Erwerb der tschechoslowakischen Staatsangehörigkeit war geradezu unmöglich, „Privilegierte“ wie Heinrich und Thomas Mann, die die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft durch Protektion höchster Politiker erhielten, bildeten die Ausnahme und nicht die Regel.

Im zweiten Kapitel wenden sich die Autoren dem Alltagsleben der Flüchtlinge aus Deutschland und Österreich zu. Unter den drei Hauptflüchtlingsgruppen – Kommunisten, Sozialdemokraten und Juden –, die jeweils über eine Reihe von eigenen Hilfskomitees in der Tschechoslowakei verfügten, waren nur die Sozialdemokraten uneingeschränkt willkommen. Die einzelnen Flüchtlingsgruppen sahen sich daher gegenseitig oftmals als Konkurrenten und konnten sich nur gegenüber dem Hochkommissar für Flüchtlinge aus Deutschland beim Völkerbund auf eine gemeinsame Vertretung ihrer Interessen einigen, dem Comité National Tchécoslovaque pour les Réfugiés provenant d’Allemagne.

Das dritte Kapitel behandelt den Wandel der Haltung der tschechoslowakischen Behörden gegenüber den jüdischen Flüchtlingen, die von Beginn an mindestens die Hälfte der deutschen Flüchtlinge ausmachten. Waren unter den jüdischen Flüchtlingen zuerst vor allem politisch Aktive, emigrierten seit dem Inkrafttreten der „Nürnberger Rassegesetze“ 1935 Menschen hauptsächlich aufgrund ihrer Verdrängung aus dem gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Leben. Unter ihnen befanden sich viele „Ostjuden“, die seit den 1880er-Jahren nach Deutschland eingewandert waren, und über keinen deutschen Pass verfügten. Sie waren die erste Gruppe, welche „nur“ als „Wirtschaftsflüchtlinge“ angesehen wurde und die Zuwanderungsbeschränkungen in der Tschechoslowakei trafen.

Im Anerkennungsverfahren der jüdischen Flüchtlinge hatten die Beamten einen großen Spielraum. Das Ergebnis war ebenso von den konkreten Ämtern und Beamten wie von der sozialen Stellung der Flüchtlinge und den Umständen der Flucht abhängig. Im Behördenschriftverkehr tauchten ab der Mitte der 1930er-Jahre vermehrt antisemitische Stereotype auf: Es wurde von „Ariern“ und „Nichtariern“ berichtet und jüdische Flüchtlinge als „unehrenhafte Geschäftsleute“ und „Wucherer“ beschrieben, die kein Anrecht auf Asyl in der Tschechoslowakei hätten.

Die Verschärfung der offiziellen Prager Flüchtlingspolitik untersuchen Čapková und Frankl im letzten Teil ihrer Studie. Die Pläne zur Beschränkung der Aufenthaltsgenehmigungen außerhalb der größeren Städte waren als Folge der Bestrebungen des Außenministers Kamil Krofta entstanden, die Beziehungen zu Deutschland zu verbessern. Flüchtlingen sollten politische Aktivitäten gegen das nationalsozialistische Deutschland erschwert und sie selbst zur Ausreise in ein Drittland bewogen werden. In der Praxis wurden die Aufenthaltsgenehmigungen der Flüchtlinge seit Juni 1937 nur noch für acht ländliche Kreise im böhmisch-mährischen Hochland (Vysočina) erneuert.

Während politisch links stehende Zeitungen massiv gegen die neue Regelung protestierten, fand sie in der konservativen und rechten tschechoslowakischen Presse Unterstützung. Die Flüchtlingshilfsorganisationen aus dem In- und Ausland und vor allem linke Organisationen bedrängten das Innenministerium, den Ministerpräsidenten und den Präsidenten mit Protestschreiben. Obwohl diese Neuregelung niemals offiziell aufgehoben wurde, mussten die Behörden dem massiven öffentlichen Druck nachgeben und sie aussetzten. Im Innenministerium begannen trotz dieses Rückschlags im Herbst 1937 Planungen zur Errichtung eines Internierungslagers für Flüchtlinge im südmährischen Svatobořice (Swatoborschitz) bei Kyjov (Gaja). Zu einer Belegung des Lagers sollte es aufgrund der „Sudetenkrise“ nicht mehr kommen.

Die strikte Politik gegenüber Ausländern und besonders ausländischen Juden zeigte sich besonders exemplarisch in der Nacht des 11. März 1938, einen Tag vor dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Österreich, als tschechoslowakische Grenzbeamte in Břeclav (Lundenburg) allen österreichischen Reisenden des mit Flüchtlingen überfüllten Nachtzugs Wien-Prag die Einreise verweigerten und sie nach Österreich zurückgeschickten. Die Behörden an der Grenze zur neu entstandenen „Ostmark“ befürchteten in den folgenden Monaten einen weiteren Zustrom österreichischer Flüchtlinge. Inhaber eines alten österreichischen oder eines nach dem „Anschluss“ in Österreich ausgestellten Passes mussten deshalb beim tschechoslowakischen Konsulat in Wien um eine „Empfehlung“ ersuchen. Jüdischen Antragstellern wurde diese meist verwehrt.

Diese Beispiele, die Čapková und Frankl detailliert schildern, dokumentieren eine massive Verschärfung der Stimmung in der Tschechoslowakei gegenüber jüdischen Flüchtlingen. Die Autoren weisen aber auch darauf hin, dass Maßnahmen wie die Einführung der Visapflicht für Inhaber eines österreichischen Passes im Sommer 1938 oder die Internierung von Flüchtlingen aus Deutschland in Lagern, besonders nach der Massenflucht in Folge der „Reichspogromnacht“, europäische Phänomene waren: So führte die Schweiz am 1. April 1938 die Visapflicht für Österreicher ein, Großbritannien am 2. Mai 1938. Das später von den Nationalsozialisten für die Judenvernichtung genutzte niederländische Durchgangslager Westerbork war im Oktober 1939 als Internierungslager für Flüchtlinge aus Deutschland eröffnet worden.

Čapková und Frankl haben in ihrer Studie das verklärte Bild von der Ersten Tschechoslowakischen Republik im Hinblick auf die Flüchtlingsfrage relativiert. Die Tschechoslowakei empfing bei weitem nicht alle Flüchtlinge vor dem Hitler-Regime mit offenen Armen, sondern unterschied sehr genau zwischen erwünschten und unerwünschten. Es ist auf den ersten Blick überraschend, wie strikt sich der Staat gegen Juden aus Deutschland und Österreich wehrte. Der immer größer werdende Druck auf alle Flüchtlinge im Lande führt 1937/1938 zu einer Auswanderungswelle aus der ČSR. Čapková und Frankl zeigen sehr deutlich das Eigenleben und die Machtposition einzelner lokaler Behörden in diesem Prozess angesichts der unklaren Gesetzgebung in der jüdischen Flüchtlingsfrage. Antisemitismus als dominierendes Erklärungsmuster für das Verhalten der Behörden gegenüber den jüdischen Flüchtlingen zu sehen, ist jedoch zu monokausal. Die stärkste Seite des Buches stellt die Schilderung des Alltags der Flüchtlinge und ihrer Probleme bei der Suche nach Unterkunft, Verpflegung, Arbeit und einer möglichen Ausreise aus der „immer prekäreren Fluchtstation“ (Peter Heumos) Tschechoslowakei dar. In den Text eingestreute Kurzbiografien vermitteln ein sehr anschauliches Bild von einzelnen Flüchtlingsschicksalen.

Anmerkungen:
1 Vicky Caron, Uneasy Asylum. France and the Jewish Refugee Crisis, 1933–1942, Stanford 1999.
2 Exil v Praze a Československu 1918–1938 [Exile in Prague and Czechoslovakia 1918–1938], Praha 2005; Peter Becher / Peter Heumos (Hrsg.), Drehscheibe Prag. Zur deutschen Emigration in der Tschechoslowakei 1933–1939, München 1992; Peter Heumos, Die Emigration aus der Tschechoslowakei nach Westeuropa und dem Nahen Osten 1938–1945. Politisch-soziale Struktur, Organisation und Asylbedingungen der tschechischen, jüdischen, deutschen und slowakischen Flüchtlinge während des Nationalsozialismus. Darstellung und Dokumentation, München 1989.

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