M. Sehlmeyer: Geschichtsbilder für Pagane und Christen

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Titel
Geschichtsbilder für Pagane und Christen. Res Romanae in den spätantiken Breviarien


Autor(en)
Sehlmeyer, Markus
Reihe
Beiträge zur Altertumskunde 272
Erschienen
Berlin 2009: de Gruyter
Anzahl Seiten
VII, 375 S.
Preis
€ 109,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Raphael Brendel, Historisches Seminar, Ludwig-Maximilians-Universität München

Durch das verstärkte Interesse an der Spätantike ist in den letzten Jahrzehnten auch ihre Literatur in den Fokus der Forschung gerückt. Von diesem Aufschwung profitierten ebenfalls die lateinischen Breviarien, Kurzdarstellungen oft historischen Inhalts, die in der älteren Forschung meist nur im Rahmen text- und quellenkritischer Fragen untersucht wurden. Bislang existierte indes noch keine Studie, welche die Breviarien in ihrer Breite vergleichend betrachtet.1 Diese Lücke füllt nun die Rostocker Habilitationsschrift Sehlmeyers, welche die Breviarien von Aurelius Victor bis Orosius als Zeugnisse historiographischer Strömungen des 4. und frühen 5. Jahrhunderts analysiert. Im Gegensatz zu älteren Arbeiten werden hier aber Quellenfragen ausgeklammert.

Der erste Teil („Formen spätantiker Historiographie“) legt die Grundlagen zum Verständnis der Breviarien als Geschichtsdarstellungen. Sehlmeyer erarbeitet diese durch Bemerkungen zur Funktion von Geschichtsschreibung (Kapitel 1.1) und zu den spätantiken Geschichtstheorien (1.3). Die Klärung der Begriffe „Breviarium“ und „Epitome“ schafft die notwendigen definitorischen Voraussetzungen (1.4). Der Forschungsüberblick (1.2) setzt allerdings erst im Jahr 1971 ein, verzichtet also auf eine Auseinandersetzung mit älteren Werken. Das zentrale Buch zu den Breviarien von Rosario Soraci bleibt gänzlich unberücksichtigt.2

Der zweite Teil („Historisches Wissen und Geschichtsbilder“) analysiert die Vermittlung historischen Wissens und die jeweiligen Schwerpunkte der Autoren. In der Untersuchung zu den Darstellungen der römischen Frühzeit (2.1) kommt Sehlmeyer zu dem Ergebnis, dass es sich hierbei um antiquarisches Spezialwissen handelte, das nie der Ausweitung des Geschichtskanons dienen sollte. Die Studien zum Bild von Königszeit und Republik (2.2) bestätigen bestehende Forschungen: Ampelius bietet Schulwissen (S. 52), Eutrop und Festus sind vor allem außenpolitisch orientiert (S. 56 u. 64), und Orosius sammelt Niederlagen (S. 60). Ein zentrales und für die weiteren Kapitel wesentliches Ergebnis ist Sehlmeyers Erarbeitung eines Exempla-Kanons von ungefähr hundert in der Spätantike geläufigen Personen auf Basis der hohen Übereinstimmung insbesondere zwischen Ampelius und De viris illustribus (2.2.1). Auch Sehlmeyers Analyse der Aussagen zur Kaiserzeit bekräftigt vor allem bisherige Forschungsergebnisse (2.3): So ist die Erkenntnis, dass Heiden (2.3.3) wie Christen (2.3.6) die Kaiserherrschaft als unverzichtbar ansehen, bekannt. Etwas redundant erscheint das Kapitel zur Periodisierung (2.3.2), das im Wesentlichen das Fehlen verbindlicher Einteilungen in den Breviarien konstatiert und vor der Frage, ob die Einteilung der Kaiserzeit bei Aurelius Victor eine Schöpfung dieses Autors darstellt, kapitulieren muss (S. 79). Wertvoll sind dagegen Sehlmeyers Beobachtungen zum Kanonisierungsprozess in der Darstellung der einzelnen Kaiser (2.3.4). Seine Ausblendung der zeitgeschichtlichen Teile der Breviarien ignoriert allerdings einen wichtigen Aspekt in der Charakteristik früherer Kaiser. So lassen sich beispielsweise durch einen Vergleich zwischen dem vor dem umstrittenen Friedensvertrag von 363 entstandenen Breviarium des Aurelius Victor (bzw. der an diesem orientierten Epitome de Caesaribus) sowie den danach verfassten Schriften des Eutrop und Festus Unterschiede in der Charakterisierung einzelner Kaiser erkennen, die wohl auf eine veränderte Sicht nach dem Frieden zurückzuführen sind.3

Der dritte Teil („Orientierung durch römische Geschichte“) untersucht die Breviarien, die enthaltenen Exempla sowie Auftraggeber und Adressaten im Kontext des Bildungswesens der Spätantike. Sehlmeyer betont die stoffliche Nähe zwischen den Breviarien und der mit dem Schulunterricht verknüpften Literatur und arbeitet die Möglichkeiten der Verwendung der Breviarien als Quelle für Exempla heraus (3.1). Weiterhin stellt er Informationen zum Bildungsgrad der unterschiedlichen sozialen Schichten vom Kaiser über die Beamten, Senatoren, Soldaten und Kleriker bis zu den „einfache[n] Leute[n]“ in der Spätantike zusammen (3.2). Dieses Thema bedarf allerdings wohl einer eigenen Studie, um in angemessener Ausführlichkeit betrachtet zu werden, wohingegen Sehlmeyer sich auf die Erörterung einiger Fallbeispiele beschränkt. Daher wäre eine Zusammenfassung der umfangreichen Forschung zu diesem Thema sinnvoller gewesen, statt hauptsächlich die Quellenaussagen zu den meist positiv herausragenden Beispielen einzelner Gebildeter aufzulisten.

Sehlmeyers Behandlung der Auftraggeber und Adressaten (3.3) variiert in ihrer Qualität: Die Betrachtungen zum „Codex-Kalender“ von 354 (3.3.1) und zu Valens als Auftraggeber von Breviarien (3.3.3) sind solide Analysen. Auch das Kapitel zu Julian und Aurelius Victor (3.3.2) liefert einige interessante Gedanken, so etwa zum Ort der für Victor errichteten Statue; doch fehlt hier eine Auseinandersetzung mit den einschlägigen Aufsätzen von Nixon und Bird.4 Auch zu Augustinus und Orosius (3.3.5) wurden wichtige Arbeiten nicht berücksichtigt.5 Im Kapitel über Theodosius I., dem Autor der Epitome de Caesaribus und Paianios (3.3.4) suggeriert Sehlmeyer zu sehr eine Verbindung dieser drei allenfalls lose verknüpften Personen. Insgesamt wäre eine gründlichere Erörterung der Adressaten und Nutzer der Schriften von Vorteil gewesen. Die Untersuchung der Rolle der Exempla (3.4) ist dagegen gelungener. Nach der Begriffsklärung analysiert Sehlmeyer die Breite ihrer Orientierungsfunktionen in der spätantiken Literatur (3.4.1). Außerdem untersucht er über die Orientierungshilfe hinausgehende Intentionen wie beispielsweise die Verwendung als historisches Argument (3.4.2), die (vorbehaltlose) christliche Nutzung (3.4.3) und die dezidiert christlichen Exempla (3.4.4). Auch hier wäre ein neuerer Forschungsbeitrag nachzutragen.6

Der vierte Teil („Identitäten und Geschichtsbewusstsein im Wandel“) erörtert (Dis-)Kontinuitäten im Geschichtsbild des christlichen Imperiums, die damit verbundene kulturelle Identität und das Fortleben der Breviarienliteratur. Als Elemente der Kontinuität nennt Sehlmeyer die Fortsetzung der Exempla-Tradition durch christliche Autoren (4.1.1), ähnliche Kanonisierungsprozesse und biographisch orientierte Formen der Historiographie (4.1.2), die Einbindungsfähigkeit der Breviarien durch religiöse Neutralität (4.1.3) und die Tatsache, dass es sich bei der Konversion der Gebildeten zum Christentum um einen längeren Prozess handelte (4.1.4). Elemente der Diskontinuität bilden die Thematisierung der Christenverfolgungen (4.2.1), das Interesse an Heilsgeschichte (4.2.2) und das Desinteresse an den fortbestehenden Erinnerungsorten der Stadt Rom (4.2.3). Auf Basis der christlichen Identität (4.3.1) wird dann die christliche Breviarienrezeption untersucht (4.3.2). Zuletzt bietet er eine Zusammenfassung der Rezeption anhand der Handschriften und Benutzer sowie einen Abriss der weiteren Breviarien bis in die Frühe Neuzeit (4.4.1–2). Diese trotz ihrer Kürze die Werke treffend charakterisierende Sammlung ist positiv hervorzuheben.

Der fünfte Teil („Übersicht der Breviarien und anderer Texte zur älteren römischen Geschichte“) bietet eine insgesamt solide Einführung in die Gattungen der vornehmlich lateinischen Historiographie des 4. und frühen 5. Jahrhunderts, in der die grundlegenden Informationen zu Werken und Autoren in handbuchartiger Form für diejenigen zusammengestellt werden, „die noch nicht intensiver mit den Breviarien vertraut sind“ (S. 284). Sehlmeyer unterteilt in historische Breviarien (5.1), Epitomai mit historischem Inhalt (5.2), Universalgeschichte und Kaiserbiographie (5.3), Chroniken (5.4), zeithistorische Werke, die auch die ältere Geschichte behandeln (5.5), und andere Epitomai mit teilweise geschichtlichem Inhalt (5.6). Überschneidungen sind dabei ebenso wie zahlreiche Vereinfachungen wohl unvermeidlich. Ob allerdings der proconsul Asiae und „Heidenverfolger“ Festus aus Tridentum mit dem paganen Historiker Festus identisch ist (S. 287), darf bezweifelt werden.7 Die Einordnung des Ampelius in die Kategorie der Epitomai erscheint verfehlt; auch das Fehlen des Vegetius ist anzumerken.

Den meisten Thesen Sehlmeyers ist sicher zuzustimmen; dies gilt aber nicht für alle Aussagen: Der These, dass Orosius sich nicht auf religiöse Polemik stütze (S. 179), ist kaum zuzustimmen; dies zeigt etwa Orosius’ Erklärung des Phaetonmythos (1,10,19). Eutrop 8,9,1 bezeichnet nicht L. Verus (S. 186), sondern Marcus als Nachfahren Numas. Zur geringen Rezeption von Tacitus, Ammian und Aurelius Victor dürfte nicht nur ihre Zeitkritik (S. 277), sondern auch ihre sprachliche Kompliziertheit und ihr anspruchsvoller Stil beigetragen haben. Sehlmeyers irrtümliche Behauptung, Roger C. Blockley habe in seiner Edition „The Fragmentary Classicising Historians of the Later Roman Empire“ auch Dexippos herausgegeben (S. 278, Anm. 333), drängt die Frage auf, ob diese überhaupt eingesehen wurde. Die Charakterisierung der verlorenen Historien des Petros Patrikios und der Fragmente des von ihm abhängigen Anonymus post Dionem als Breviarien (S. 278) ist reine Spekulation. Den Wert der Untersuchung schmälern aber hauptsächlich formelle Mängel: Die Anmerkungen zeugen von großer Nachlässigkeit, so ist die Zahl der fehlerhaften Kurztitel extrem hoch.8

Insgesamt handelt es sich um ein solides Werk, das einen schnellen Überblick und umfassende Informationen zu den spätantiken Breviarien bietet. Seine Stärken liegen in der Erschließung wenig beachteter Quellen, in den insgesamt gelungenen Untersuchungen zur römischen Frühzeit, Königszeit und Republik sowie in der anfängergerechten Einführung am Schluss des Bandes. Negativ fallen dagegen die formalen Mängel und das Fehlen zentraler Forschungen ins Gewicht.

Anmerkungen:
1 Rosario Soraci, Interessi etico-politici nei Breviari storici del IV secolo, Catania 1971; Willem den Boer, Some minor Roman historians, Leiden 1972 behandeln jeden Autor für sich und beschränken sich jeweils auf vier Werke.
2 Vgl. Anm. 1.
3 Der Rezensent plant, demnächst eine entsprechende Studie zu veröffentlichen.
4 Charles E. V. Nixon, Aurelius Victor and Julian, in: Classical Philology 86 (1991), S. 113–125; Harold W. Bird, Julian and Aurelius Victor, in: Latomus 55 (1996), S. 870–874.
5 Fabio Martelli, Reazione antiagostiniana nelle Historiae di Orosio?, in: Rivista storica dell’Antichità 12 (1982), S. 217–239; Sabine Tanz, Orosius im Spannungsfeld zwischen Eusebius von Caesarea und Augustin, in: Klio 65 (1983), S. 337–346; Paul A. Onica, Orosius, Diss. Toronto 1987, S. 259–290.
6 Barbara Aland, Märtyrer als christliche Identifikationsfiguren. Stilisierung, Funktion, Wirkung, in: Barbara Aland / Johannes Hahn / Christian Ronning (Hrsg.), Literarische Konstituierung von Identifikationsfiguren in der Antike, Tübingen 2003, S. 51–70.
7 Ammian 29,2,22 nennt ihn Festus quidam Tridentinus (Festinus in der Handschrift), nicht „Rufinus Tridentinus“ (S. 287) oder „Rufius Tridentinus“ (S. 287, Anm. 23); „Gegner der Identifikation“ sind nicht nur den Boer und partiell Baldwin (S. 287, Anm. 23), sondern auch Adolf Lippold, Art. „Festus (4)“, in: Der kleine Pauly 2 (1967), 540f.; Marie-Pierre Arnaud-Lindet (Hrsg.), Festus, Abrégé des hauts faits du peuple romain, Paris 1994, S. XIV und nun Maria Luisa Fele (Hrsg.), Il Breviarium di Rufio Festo. Testo, traduzione e commento filologico con una introduzione sull’autore e l’opera, Hildesheim u.a. 2009, S. 43.
8 Insgesamt 68mal stimmen Jahreszahlen nicht dem Literaturverzeichnis überein; 30mal bestehen Inkonsequenzen; 19mal fehlt der Autorenname im Literaturverzeichnis; fünfmal wird auf den falschen Titel verwiesen (Bird 1996 statt 1994 in S. 57, Anm. 104, S. 58, Anm. 108 und 112 sowie S. 59, Anm. 114). Zudem fiel auf: S. 17, Anm. 94: Philologus statt Klio; S. 58, Anm. 111: Reichmann statt Reichwein; S. 256, Anm. 213: Reynolds statt Rynolds; S. 265, Anm. 267: Jensen statt Jessen.

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