W. Mende: Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur

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Titel
Musik und Kunst in der sowjetischen Revolutionskultur.


Autor(en)
Mende, Wolfgang
Erschienen
Köln 2009: Böhlau Verlag
Anzahl Seiten
644 S.
Preis
€ 79,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Boris Belge, Institut für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde Tübingen, Universität Tübingen

Musikhistoriker fasziniert die „neue“ Musik in der Sowjetunion der 1920er-Jahre seit Detlef Gojowy in den 1980er-Jahren diese Phase experimenteller und aufregender Neuerungen aus ihrer historischen Vergessenheit geborgen hat.1 Die monumentalen „Dampfpfeifen“-Symphonien von Arseni Awraamow oder das dirigentenlose Orchester „Persimfans“ stehen für eine musikalische Moderne, wie sie in Zeiten des verordneten Sozialistischen Realismus nicht mehr vorstellbar war. Darstellungen der damaligen Musikwelt kommen kaum ohne vermeintlich eindeutige Zuordnungen und Dichotomien aus: Da stehen die „avantgardistische“ Assoziation zeitgenössischer Musik (ASM) gegen die rohe Kraft des Proletkult und Konservative gegen Progressivisten.

Wolfgang Mende hinterfragt in seiner Monographie diese Zuschreibungen, indem er einer rein musikgeschichtlichen Zentrierung ausweicht. Ihm geht es um die Bestimmung des Ortes der avancierten Musik in der „Gesamtkultur der Revolutionsära“ (S. 15). Gefragt wird, ob und inwieweit Musik an der durch Literatur, Kunst und Theater dominierten kulturrevolutionären Strömung der „Linken Front der Künste“ (LEF) partizipierte. Mende macht interessante Beobachtungen: „Avantgardismus“ fand ihm zufolge vor allem in den Randgebieten der Musik (in Schauspiel, Film, Massenfest und Laienkunst) statt. Zugrunde liegt dabei ein erweitertes Avantgardeverständnis, das sich an Peter Bürgers Studien anlehnt.2 Avantgarde ist demnach „die Aufhebung der Grenzen zwischen Kunst und Leben“ (S. 13) oder, negativ gesprochen: Avancierte Kompositionstechniken machen noch keine Avantgarde.

Im ersten Kapitel analysiert Mende die Vorgeschichte der frühsowjetischen Musikkultur in der ausgehenden Zarenzeit. Die spezifisch russische Lesart des Futurismus, die den Mythos einer „unzivilisiert-vitalen Urkultur des Ostens“ (S. 58) hervorhob, fand auch in der Musik ihren Niederschlag. Am Beispiel der Oper „Sieg über die Sonne“ macht Mende aber auch deutlich, dass die anarchische, transrationale Autonomie dieser Werke nach der Oktoberrevolution keine Rolle mehr spielte.

Stattdessen dominierten unter dem Einfluss von Alexander Bogdanows Organisationslehre nun utilitäre Kunstkonzepte: Die Bewegungslehren des Konstruktivismus sollten nicht mehr isolierte Kunst, sondern „Muster für die physische Erziehung des Menschen“ (S. 84) sein. Diesem Anspruch hatte sich auch die Musik unterzuordnen. Der russische Komponist Artur Lure, der unmittelbar nach der Oktoberrevolution die musikalische Abteilung des Volkskommissariats für Bildungswesen (Narkompros) übernommen hatte, kam dadurch in Schwierigkeiten. Sein Ideal einer zweiten, „kosmischen“ künstlerischen Revolution fand bald keinen Platz mehr im Kunstkanon. Lures Emigration 1922 interpretiert Mende als Beleg für den „Ausstieg der Musik aus dem System der linken Kunst“ (S. 92). Die Folgen waren weitreichend.

Der Sammelbewegung LEF, die seit 1922/23 mit dem Anspruch auftrat, alles Kunstschaffen spartenübergreifend zu koordinieren, wollten die Musikschaffenden nicht als aktiver Teil beitreten. „Linke“ Musik geriet damit zunehmend in eine isolierte Position. Die LEF stand für die Kunstrichtung des Konstruktivismus, der vor allem als Technik des Lebensaufbaus (schisnestroenie) Wirkmächtigkeit erzielte: Körperkultur und Biomechanik spielten fortan insbesondere im Theater eine große Rolle. Der Konstruktivismus wurde Mitte der 1920er-Jahre von der Faktographie abgelöst, in der die Montage von „Fakten“ (authentischem Material wie Dokumentationen) eine bewusstseinsaktivierende Rolle spielen sollte. Bei der Suche nach einem musikalischen Niederschlag dieser ästhetischen Forderungen stößt Mende nur auf vereinzelte Postulate aus den Randbereichen des Musikschaffens. Rhythmus, Motorik, Geräusch und Alltagsmusik sollten anstelle von Melodik und Harmonik in den Vordergrund treten. Es waren jedoch nicht die Musiker und Komponisten, die solche Forderungen praktisch umsetzten, sondern eher Theaterregisseure wie Wsewolod Meierchold oder Kinomacher wie Sergei Eisenstein und Dsiga Wertow.

Mehr Gehör fanden die Komponisten bei den Organen des Proletkult. Im „Staatlichen Institut für Musikwissenschaft“ (GIMN), das auf eine technisch-szientistische Revolution der musikalischen Materialbasis zielte, konnten sie sich eine institutionelle Basis schaffen. Das GIMN war laut Mende „die weltweit erste eigenständige Forschungseinrichtung für Systematische Musikwissenschaft“ (S. 255). Am konsequentesten verfolgte der Experimentalmusiker Arseni Awraamow die im GIMN entwickelten Ideen, pflegte allerdings eine „eigenwillige Mischung aus Avantgardismus und Folklore“ (S. 263). So scheute sich Awraamow nicht, in seinen Dampfpfeifensinfonien, die ganze Städte und Fabriken zu monumentalen Freilichtorchestern werden ließen, klischeehafte Revolutionsgesänge zu integrieren.

Um wieder Anschluss an allgemeine Entwicklungen der Kunst zu erlangen, gründeten Neutöner und gemäßigte Modernisten wie Nikolai Roslawez oder Dmitri Schostakowitsch die „Assoziation zeitgenössischer Musik“ (ASM), die moderne sowjetische Musik fördern und Kontakt mit der neuen Musikkultur des Westens aufnehmen sollte. Ausführlich arbeitet Mende anhand zentraler Musikkonzeptionen aus dem ASM-Kreis heraus, dass es sich bei der Assoziation entgegen diffamierender Parolen vom „Linksradikalismus“ nicht um eine „Avantgardegruppierung im Sinne Peter Bürgers“ gehandelt habe (S. 365). Stattdessen betonte der Moskauer ASM-Kreis vor allem den „künstlerischen Wert“ neuartiger Kompositionen und trennte so scharf „Kunst“ von „Alltag“. Nach Mende waren seine Protagonisten, mit wenigen Ausnahmen, „konservative Revolutionäre“ (S. 369).

Die letzten Kapitel des Buches thematisieren drei herausragende Komponisten der damaligen Zeit: Nikolai Roslawez (1880–1944), Wladimir Deschewow (1889–1955) und Alexander Mosolow (1900–1973). In ausführlichen Werkanalysen beschäftigt sich Mende mit musikalischen Ausprägungen von Konstruktivismus und Faktographie. Hier sind vor allem Deschewows Schauspielmusik „Gleise“ aus dem Jahr 1926 oder Mosolows Balettnummer „Fabrik“ hervorzuheben, die sich durch eine forcierte Motorik sowie Montage- und Ostinatoverfahren auszeichnen. Inspiration hierfür war Arthur Honeggers Werk „Pacific 123“, das eine Welle der Begeisterung für symphonische Lokomotivmusik in Russland auslöste. Mosolows „Staudamm“ (Plotina) sollte die Begeisterung für den im ersten Fünfjahresplan vorgesehenen Dneproges-Bau wecken. Die konstruktivistische Formensprache stand jedoch der einsetzenden Kulturrevolution entgegen, so dass eine Aufführung undenkbar wurde. Mende interpretiert Plotina daher als das Werk eines bereits „korrumpierten Konstruktivismus“ (S. 533).

Der Autor plädiert dafür, die Randstellung der "neuen" Musik der 1920er-Jahre im heutigen musikhistorischen Bewusstsein nicht ausschließlich an ihrer kulturpolitischen Verdrängung in der Kulturrevolution festzumachen. Statt eine Kolonisierung der Kultur durch die Politik herbeizuschreiben, erkennt er ein „zeitgenössisches Rezeptionsdefizit“, das in einem „wenig ausgeprägte[n] kulturrevolutionäre[n] Engagement“ der Komponisten begründet gewesen sei (S. 567). Damit bürstet er so manche musikhistorische Darstellung gehörig gegen den Strich und lenkt das Auge des Betrachters auf scheinbare „Randerscheinungen“ wie Film- und Theatermusik, in denen das Avantgarde-Konzept im Sinne Peter Bürgers viel stärker zum Ausdruck gekommen sei.

Die Monographie ist das Ergebnis einer inhaltlich wie konzeptionell überzeugenden Auseinandersetzung mit der sowjetischen Revolutionskultur. Sie löst ihren Anspruch ein, Neues zum Thema beizutragen. Insbesondere die dichte Verklammerung von Musik, Kunst, Theater und Literatur trägt zu einem tieferen Verständnis des Gefüges der Kunstgattungen bei. Die Werkanalysen im hinteren Teil des Buches bestechen durch ihre Präzision, die nie den Blick für die übergeordneten Fragestellungen vermissen lässt. Nach der Lektüre von Mendes Buch wird überdeutlich, dass die Geschichte der musikalischen sowjetischen Revolutionskultur mit anderen Akzenten geschrieben werden sollte.

Anmerkungen:
1 Detlef Gojowy, Neue sowjetische Musik der 1920er Jahre, Laaber 1980.
2 Peter Bürger, Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main 1974.

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