A. M. Widmann: Kontrafaktische Geschichtsdarstellung

Titel
Kontrafaktische Geschichtsdarstellung. Untersuchungen an Romanen von Günter Grass, Thomas Pynchon, Thomas Brussig, Michael Kleeberg, Philip Roth und Christoph Ransmayr


Autor(en)
Widmann, Andreas Martin
Erschienen
Anzahl Seiten
398 S.
Preis
€ 42,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Julia Ilgner, Historisches Seminar, Universität Freiburg

Wir schreiben das Jahr 1940. Europa befindet sich nach dem deutschen Angriff auf Polen im Ausnahmezustand. Großbritannien und Frankreich erklären Deutschland den Krieg. Doch die alliierte Intervention vermag den Westfeldzug, die Okkupation Dänemarks, Norwegens, den Einmarsch in die Niederlande, Belgien und Luxemburg nicht zu stoppen. Noch wahren die USA formal die Neutralität. Die Präsidentschaftswahlen im eigenen Land stehen kurz bevor. Neben dem Demokraten und bisherigen Präsidenten Franklin D. Roosevelt lässt sich auch Charles S. Lindbergh für die Kandidatur aufstellen. Als Fliegerheld und nationale Galionsfigur gewinnt Lindbergh, der auch im nationalsozialistischen Deutschland verehrt wird und mit den Achsenmächten sympathisiert, die Wahl. Unter Lindbergh verändert sich die Atmosphäre im Land. Die Regierung propagiert einen antisemitischen Kurs, New Yorker Juden wird der Zutritt zu öffentlichen Einrichtungen verwehrt, Auswanderungen nach Kanada mehren sich…

Die Geschichte, wie sie Philipp Roth in seinem Roman „The Plot Against America“ (2004, dt. „Die Verschwörung gegen Amerika“, 2005) präsentiert, ist, Gott sei Dank, eines nicht, geschichtlich: geschichtlich im Sinne eines historisch verifizierten Ereignisgangs. Vielmehr handelt es sich um eine markante Abweichung vom tatsächlichen Verlauf der Weltgeschichte. Der Historiker spricht von Fälschung, der Philologe von Kontrafaktur. „Kontrafaktische Geschichtsdarstellung“, so das titelgebende Sujet der Dissertation des Anglisten und Neugermanisten Andreas Martin Widmann, bezeichnet in literaturwissenschaftlicher Perspektive primär ein spezifisches erzählerisches Verfahren, das vor allem den (Historischen) Roman der Postmoderne charakterisiert. Obschon dieser sich aufgrund seiner ästhetischen und semantischen Komplexität einer Klassifikation nach konventionellen Gattungsvorstellungen entzieht, bedarf er doch eines Arsenals poetischer Raffinessen wie der Intertextualität, der Autoreferentialität oder der Metafiktionalität, mit denen schon der moderne Geschichtsroman operiert. Historisch ist er insofern, als die präsentierte Welt (die Diegese) vor einer explizit oder implizit evozierten Episode der Vergangenheit angelegt ist. Realitätssignale und Geschichtsreferenzen im Text garantieren die Übereinstimmung mit einem enzyklopädischen Faktenwissen. In kontrafaktischen Historischen Romanen weicht hingegen die Fabel von der faktischen Vorlage in evidenter Weise ab (deviation), indem sie diese Vorlage mit einer literarischen Darstellung im Sinne eines variierten Plots (alternative story) überschreibt. Die Plausibilisierung des kontrafaktischen Ereignisverlaufs ist dabei möglich, allerdings nicht verbindlich. Indem die realen Begebenheiten durch eine Alternativgeschichte ersetzt werden, rutscht die Faktualgeschichte in die Fiktion. Damit sind kontrafaktische Propositionen nicht nur genuine Spielarten postmodernen Erzählens, sondern als „fiktionale Aussagen besonderer Art“ (S. 36) Markierungen, die eine Interpretation herausfordern. Dies löst die „deviierenden historischen Romane“, wie Widmann die Subform bezeichnet, aus dem alleinigen philologischen Kontext und öffnet sie auch für Fragen und Erkenntnisinteressen anderer Disziplinen. So liegt, wenn beispielsweise ein literarischer Text mehrstimmig (polyphon) komponiert ist, was symbolisch häufig für einen pluralistischen Geschichtsdiskurs steht, nicht nur ein erzählerischer Kunstgriff vor. Vielmehr ist ein derartiger fiktionaler Entwurf immer auch Kritik an der begrenzten Perspektive der offiziellen Geschichtsschreibung. Somit kann eine narratologisch angelegte Untersuchung wie diejenige Widmanns einen hermeneutischen Mehrwert für ein interdisziplinäres Forschungsfeld erzielen, das sich mit Formen und Funktionen der Aneignung und Deutung von Vergangenheit befasst.

Widmann untergliedert seine Studie in drei Abschnitte. Auf einen ausführlichen Methoden- und Theorieabschnitt folgt ein analytischer Parcours durch die internationale Postmoderne. Sechs Gegenwartsromane, beginnend mit Thomas Pynchons „Gravity´s Rainbow“ (1973, dt. „Die Enden der Parabel“) und Günter Grass’ „Der Butt“ (1977) bis zu Philip Roth’ Alternate History „The Plot Against America“ (2004), formieren das Korpus. Der vom Verfasser bewusst gewählte vergleichsweise lange Untersuchungszeitraum und die unterschiedliche Provenienz der Autoren erweisen sich im Verlauf der Untersuchung als fruchtbar. So wird Grass als Exponent der westdeutschen Nachkriegsliteratur von den beinahe um zwei Generationen jüngeren Autoren Michael Kleeberg („Ein Garten im Norden“, 1998) und Thomas Brussig („Helden wie wir“, 1995) flankiert. Letztere teilen mit ihm zwar den dezidiert politischen Duktus, perspektivieren die deutsche Geschichte jedoch vor anderen Erfahrungshorizonten: Brussig etwa, aufgewachsen im Ost-Berlin der 1970er-Jahre steht repräsentativ für die Autoren der ehemaligen DDR. Ergänzt wird der Reigen der deutschsprachigen Literaten durch ein Lieblingskind der theorieaffinen Germanistik, den Österreicher Christoph Ransmayr („Morbus Kitahara“, 1995). Dass mit Pynchon und Roth zwei kanonische Autoren der amerikanischen Literatur hinzugezogen wurden, ist dem paradigmatischem Wert ihrer Romane geschuldet. Erst die vergleichende Betrachtung wird dem Anspruch gerecht, das deviierende historische Erzählen im Variantenreichtum seiner Formationen zu erfassen. Insofern die Studie von „einer vielschichtige[n] und variable[n] Poetik des Kontrafaktischen“ (S. 94) ausgeht, ist ihr Erkenntnisinteresse dezidiert ästhetischer Natur.

Der dritte Teil des Bandes hat eine synthetisierende Funktion, in dem er die unterschiedlichen Deutungsmuster für Geschichte, wie sie in den Einzelanalysen herausgearbeitet werden, paraphrasiert und sie im Rückgriff auf die methodischen Prämissen des Eingangskapitels in ein Modell historischen Erzählens integriert. Am Ende der Studie steht damit ein knapper „Entwurf einer Typologie des deviierenden historischen Romans und seiner Aussageweisen“ (Kapitel 12), der die vergleichende Betrachtung der Romane überhaupt erst ermöglicht und mit seinem Anspruch auf Allgemeingültigkeit anschlussfähig für nachfolgende Forschungen ist.

Die insgesamt stark strukturelle und systematisierende Anlage der Untersuchung, die biographische und soziokulturelle Faktoren weniger intensiv berücksichtigt, ist der Tradition geschuldet, in die Widmann sich stellt. Zwar setzt der Verfasser sich mit den relevanten gattungshistorischen Arbeiten von Hugo Aust, Walter Schiffels, Hans Vilmar Geppert und Harro Müller auseinander 1, doch stellt er zu Recht die Operationalisierbarkeit dieser Ansätze für den postmodernen Roman in Frage. Der ästhetischen Idiosynkrasie des Korpus eher angemessen scheinen ihm narratologische Konzepte der Anglistik und Amerikanistik. Neben David Cowart, Christoph Rodieck, Jörg Helbig und Ina Schabert 2 sind dies vornehmlich die Arbeiten Ansgar Nünnings, der sich gegen eine stofforientierte Gattungsbestimmung (zum Beispiel nach bestimmten historischen Epochen oder Ereignissen) wendet und stattdessen für ein strukturelles Muster – das Verfahren der Mehrebenenklassifikation – argumentiert.3 Widmanns Anspruch, mit einer Typologie des deviierenden historischen Erzählens zu einer Ausdifferenzierung der von Nünning gesetzten Kategorie der so genannten revisionistischen historischen Romane beizutragen, geht auf. Über die rein taxonomische Verortung innerhalb eines bestehenden Modells behält sich Widmann jedoch insbesondere in den analytischen Kapiteln die Offenheit vor, an konkurrierende Konzepte wie dasjenige des parahistorischen Romans (Helbig) oder das der Invented Tradition bzw. der erfundenen Vergangenheit (Rodieck) anzuknüpfen: Systematik bei gleichzeitiger Berücksichtigung der textuellen Eigendynamik.

Dass letztere ausgesprochen hoch ist, macht den eigentlich Wert der Arbeit aus. Die im Schwerpunkt neugermanistisch ausgerichtete Untersuchung hinsichtlich der literarischen Quellen und der theoretischen Fundierung an Fremdphilologien anzugliedern, entspricht dem Konzept einer interkulturellen Literaturwissenschaft, die die engen Grenzen der Nationalliteraturen hinter sich lässt. Damit leistet Widmann nicht zuletzt einen Beitrag zur Poetik einer als international begriffenen Postmoderne. Diese schreibt sich fort, indem sie die Verfahren im Dienste der Entgrenzung von Text und Wirklichkeit kontinuierlich modifiziert und neu austariert – die Kontrafaktur ist eines davon.

Anmerkungen:
1 Hugo Aust, Der historische Roman, Stuttgart 1994; Hans Vilmar Geppert, Der »andere« historische Roman. Theorie und Strukturen einer diskontinuierlichen Gattung, Tübingen 1976; Harro Müller, Zwischen Kairos und Katastrophe. Historische Romane im 20. Jahrhundert, Frankfurt am Main 1988; Walter Schiffels, Geschichte(n) erzählen. Über Geschichte, Funktionen und Formen des historischen Erzählens, Kronberg im Taunus 1975; Die jüngste Studie von Geppert findet noch keine Berücksichtigung: Hans Vilmar Geppert: Der Historische Roman. Geschichte umerzählt – von Walter Scott bis zur Gegenwart, Tübingen 2009.
2 David Cowart, History and the Contemporary Novel, Carbonsdale 1989; Jörg Helbig, Der parahistorische Roman. Ein literaturhistorischer und gattungstypologischer Beitrag zur Allotopieforschung, Frankfurt am Main 1998; Christoph Rodiek, Erfundene Vergangenheit. Kontrafaktische Geschichtsdarstellung (Uchronie) in der Literatur, Frankfurt am Main 1997; Ina Schabert, Der historische Roman in England und Amerika, Darmstadt 1981.
3 Vgl. insbesondere Ansgar Nünning, Von historischer Fiktion zu historiographischer Metafiktion, 2 Bde, Bd. 1: Theorie, Typologie und Poetik des historischen Romans, Bd. 2: Erscheinungsformen und Entwicklungstendenzen des historischen Romans in England seit 1950, Trier 1995.

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