D. Sanders: Life, travels, and sufferings of Thomas W. Smith

Titel
A narrative of the life, travels, and sufferings of Thomas W. Smith. Comprising an account of his early life, his travels during eighteen voyages to various parts of the world


Herausgeber
Sanders, Damien
Erschienen
Dinan 2009: Nunatak Press
Anzahl Seiten
213 S.
Preis
€ 22,00
Rezensiert für 'Connections' und H-Soz-Kult von:
Felix Schürmann, Exzellenzcluster „Die Herausbildung normative Ordnungen“, Goethe-Universität Frankfurt am Main

Die 1844 erschienenen Lebenserinnerungen des britischen Seemanns Thomas W. Smith, die hier erstmals in einer Neuausgabe vorliegen, sind ein wenig beachteter Text aus einem einst populären Zweig der amerikanischen Literatur: Reiseberichte und Memoiren einfacher Seeleute zogen erhebliches Interesse auf sich, nachdem der Jurist Richard Henry Dana Jr. 1840 mit spektakulärem Erfolg einen Report über seine Jahre als Matrose auf einem Handelsschiff veröffentlicht hatte. In bis dato ungekannter Deutlichkeit schilderte Dana die brutalen Alltagshärten und drakonischen Strafen auf See.1 Das dadurch angefachte Publikumsinteresse an sozialrealistischen Erlebnisberichten über die Seefahrt eröffnete auch Männern vom unteren Ende der Schiffshierarchie Publikationsmöglichkeiten. So entstand bis Ende des 19. Jahrhunderts ein beachtlicher Korpus an Schilderungen des Lebens und Leidens auf Handels-, Walfang- und Marineschiffen, die überwiegend von gewöhnlichen Matrosen verfasst wurden.

Für die sozial- und kulturgeschichtlich orientierte Forschung zu maritimen Themen scheinen diese als „voices from the forecastle“ bzw. „Stimmen vom Vordeck“ bekannt gewordenen Texte zunächst von großem Wert. Immerhin können sie Auskunft über Erfahrungsweisen und Handlungsstrategien von Menschen geben, die ansonsten weitgehend von diskursiver Selbstrepräsentation ausgeschlossen waren. Eine nähere Betrachtung weckt jedoch Zweifel am Erkenntniswert dieser Überlieferungen: Viele Autoren orientierten sich in Form und Inhalt so eng an konventionalisierten Mustern, dass die Frage gestellt werden muss, inwieweit auch durch erfundene Elemente Zugeständnisse an angenommene Publikumserwartungen gemacht wurden. Allerdings können einzelne Aussagen in der Mehrzahl der Fälle kaum überprüft werden.

Besonders die Texte, die unter dem unmittelbaren Eindruck von Danas Erfolg erschienen, sind deutlich an dem von diesem etablierten Rahmen orientiert. Auch die Memoiren von Smith sind dieser Gruppe zuzuordnen. Der Text umspannt jedoch nicht nur einige Jahre auf See, sondern ein ganzes Leben: Smith wurde um 1801 im Umland von London geboren. Nach dem frühen Tod seines Vaters musste er ab seinem siebten Lebensjahr verschiedenen Lohnarbeiten nachgehen, unter anderem in einer Spinnerei. Wegen Misshandlungen riss er aus und ging als Schiffsjunge auf einen Kohlenfrachter, der vor Ostengland auf Grund lief, woraufhin Smith von einem Transporter aufgenommen wurde. Dieser stellte sich als Teil eines Konvois der Royal Navy heraus und führte Smith auf die mittelmeerischen Schauplätze der Napoleonischen Kriege: Er wurde Zeuge der Kämpfe um die Kontrolle der Iberischen Halbinsel, geriet kurzzeitig in französische Gefangenschaft und diente einige Monate auf dem Linienschiff HMS Hindostan. 1815 verließ er die Navy und heuerte in den folgenden Jahren bei verschiedenen Robbenfängern an, auf denen er Fahrten nach Südgeorgien, zu den Südlichen Sandwichinseln und auf die Falkland-Inseln unternahm. Ab 1821 arbeitete Smith auf diversen Frachtschiffen und Walfängern, die ihn in den Pazifik, den Südatlantik und den Indischen Ozean führten. Vor der Küste Perus wurde er 1823/24 in den Wirren des Unabhängigkeitskriegs von einem spanischen Kaperfahrer zwangsrekrutiert. Während einer sechswöchigen Ankerung in der neuseeländischen Bay of Islands wurde er 1830 Zeuge der Ngāpuhi-Kriege. 1831 musste er einige Wochen als Schiffbrüchiger an der Küste Moçambiques ausharren. Auf einem Walfänger im Südatlantik wurde er 1832 von einem Ölfass überrollt und erlitt mehrere Knochenbrüche und einen bleibenden Lungenschaden. Für körperliche Arbeit nicht mehr zu gebrauchen, wurde Smith beim nächsten Halt in New Bedford zurückgelassen. Dort konnte er sich mühsam als Schuhmacher über Wasser halten und besuchte zeitweilig eine unitarische Lehranstalt, mit deren Hilfe er sich das Lesen und Schreiben aneignete und den vorliegenden Lebensbericht verfasste.

Was ist von diesen Schilderungen zu halten? Der Herausgeber Damien Sanders hat keine Mühen gescheut um einzelne Beobachtungen und Aussagen zu überprüfen und unter anderem Logbücher, Mannschaftslisten, Zeitungen und Kirchenregister durchgesehen. Die relevanten Informationen diskutiert Sanders im ausführlichen Fußnotenapparat, und das Ergebnis ist widersprüchlich: Viele der von Smith geschilderten Ereignisse sind durch Querverweise nachprüfbar und lassen seine unmittelbare Beteiligung glaubhaft erscheinen. So erwähnt er etwa Namen von Seeleuten oder Ereignisse wie Desertionen, die durch Seefahrtsbücher bestätigt werden (S. 84). Zugleich enthält der Text aber insbesondere in der Chronologie von Ereigniszusammenhängen und bei Orts-, Schiffs- und Personennamen offenkundige Fehler. Ein irritierendes Problem, dass auch Sanders nicht auflösen kann, ist, dass der Name von Smith lediglich in einer der herangezogenen Quellen auftaucht. Sanders vermutet, dass Smith unter verschiedenen Namen auf Schiffen angeheuert und sein Buch unter einem Pseudonym veröffentlicht hat. Eine mögliche, aber spekulative Erklärung dafür wäre, dass der Autor den Namen Smith (und womöglich auch die Arbeit als Seemann) gewählt hat, um durch Anonymität Schutz vor einer Bedrohung zu suchen, die er im Text verschweigt (S. 4).

Für andere Inkohärenzen gibt es plausiblere Erklärungsmöglichkeiten: Dass einige Ereignisse nicht in anderen Quellen nachgewiesen werden können, ist angesichts der fragmentarischen Überlieferungslage zur maritimen Geschichte jener Zeit nicht verwunderlich. Insbesondere die Aktivitäten britischer Walfang- und Robbenfangschiffe in Meeren südlich des Äquators sind notorisch schlecht dokumentiert.2 Einige Widersprüche können wohl als Irrtümer verbucht werden, denn anders als die meisten von Seeleuten verfassten Reiseberichte und Memoiren beruht Smiths Text nicht auf an Bord verfassten Aufzeichnungen, sondern auf Erinnerungen. Fehler bei Eigennamen ließen sich darauf zurückführen, dass Smith – der während seiner Jahrzehnte auf See Analphabet war – die Worte phonetisch aus seinem Gedächtnis rekonstruierte (S. 86, 112, 135). Ein Indiz für die Glaubhaftigkeit sind die mäßigen sprachlichen und narrativen Qualitäten des Textes, die es wenig plausibel erscheinen lassen, dass hier ein Fälscher mit Bereicherungsmotiv am Werk war.

Neben Annotationen zur Plausibilität einzelner Aussagen hat Sanders viele klärende oder veranschaulichende Kommentare beigefügt. Zudem hat er eine Chronologie und Indexe erstellt sowie Karten und ornamentalische Illustrationen eingefügt. Überdies finden sich im Anhang einige Hintergrundinformationen zu größeren historischen Zusammenhängen, in die Smith involviert war. An einigen Stellen, an denen Smith offenkundig die zeitliche Abfolge von Ereignissen durcheinander bringt, hat Sanders Textpassagen an die chronologisch „richtige“ Position verschoben. Das sind starke und aus historiographischer Perspektive zweifelhafte editorische Eingriffe, die aber entsprechend markiert sind, so dass die Möglichkeit erhalten bleibt, den Text in der ursprünglichen Anordnung zu lesen. Was Sanders nicht leistet, ist eine Kommentierung unter literarischen bzw. literaturgeschichtlichen Gesichtspunkten, die hilfreich gewesen wäre, um besser zu verstehen, welche zeitgenössischen Konventionen den Text prägen und wo der Autor ihnen folgt bzw. mit ihnen bricht. 3

Der Befund, der sich aus dem Gesamteindruck des Textes ergibt, lässt sich auf die meisten „Stimmen des Vordecks“ übertragen: Während einzelnen Tatsachenbehauptungen nicht zu viel Vertrauen geschenkt werden sollte, sind die Einblicke in Orientierungen und lebenspraktische Strategien der Seeleute von großem Wert. Um diesen Wert für historisch-empirische Forschungen besser nutzen zu können wäre zu wünschen, dass die minutiöse Recherchearbeit, die Sanders hier investiert hat, für weitere Texte aus diesem Kontext geleistet würde.

Anmerkungen:
1 Dana, Richard Henry, Two Years Before the Mast. A Personal Narrative of Life at Sea, New York 1840.
2 Chatwin, Dale, „A Trade so Uncontrollably Uncertain“. A Study of the English Southern Whale Fishery from 1815 to 1860, MA-Thesis, Australian National University, Canberra 1997, S. 5–11.
3 Zum literaturgeschichtlichen Kontext vgl. Foulke, Robert C., Art, Voyage Narratives, in: Gidmark, Jill B. (Hrsg.), Encyclopedia of American Literature of the Sea and Great Lakes, Westport 2001, S. 461–4; Philbrick, Thomas, James Fenimore Cooper and the Development of American Sea Fiction, Cambridge 1961.

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Diese Rezension entstand im Rahmen des Fachforums 'Connections'. http://www.connections.clio-online.net/
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