Cover
Titel
War Planning 1914.


Herausgeber
Hamilton, Richard F.; Herwig, Holger H.
Erschienen
Anzahl Seiten
IX, 269 Seiten
Preis
£ 50.-
Rezensiert für den Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung bei H-Soz-Kult von:
Holger Afflerbach, University of Leeds, School of History

Als die Rezensionsanfrage für Hamilton/Herwig, War Planning 1914, auf meinem Schreibtisch landete, war mein erster Gedanke: So ein Buch gibt es doch schon! Es wurde von Paul Kennedy herausgegeben, heißt „The War Plans of the Great Powers 1880-1914“, und ist 1979 erschienen.1 Das Buch ist vielbenutzt und weithin bekannt. In ihm ist übrigens auch ein Aufsatz von Holger Herwig über die Planungen der kaiserlichen und amerikanischen Marine enthalten.

Um so größer war mein Interesse zu sehen, inwieweit sich Hamilton/Herwigs Buch von Kennedys unterscheidet und was es Neues bietet. Um es vorweg zu sagen: Dieses Buch ist im Aufbau wesentlich anders, in den Erkenntnisinteressen aber sehr ähnlich. Einer der Hauptunterschiede ist, dass Kennedy eine Sammlung von verschiedenen Kriegsplänen vor 1914 präsentierte, teilweise auch Aufsätze über die militärische Bedeutung von Telegraphenverbindungen, während Hamilton/Herwigs Band sich durch systematische Gliederung, durch die Zuspitzung auf die Kriegspläne im Jahre 1914 und ihre praktische Umsetzung nach Kriegsausbruch auszeichnet. Er beginnt mit einer Einleitung von Richard Hamilton, dann folgen sechs Aufsätze über Kriegsplanungen in Deutschland, Österreich-Ungarn, Frankreich, Russland, Großbritannien und Italien, und schließt mit einer Zusammenfassung und abschließenden Betrachtung von Holger Herwig.

Richard Hamilton definiert in seiner Einleitung die Fragestellung, die er wie folgt zusammenfasst: „The development of those war plans and of the attendant pathologies are the subject of this book.“ (S. 7) Er legt auch dar, was bei den Planungen – deren stets veränderliche Natur er hervorhebt – noch alles hineinspielt, so die Elitenstruktur der Entscheidungsträger und die sehr kleine Gruppe von politischen und militärischen Führern, die 1914 über Krieg und Frieden berieten, sowie ihre Kriegsbilder, die Allianzsysteme und ihre Zwänge, und manches mehr.

Trotz der konzeptionellen Geschlossenheit der Vorgabe sind die Beiträge in ihrer Herangehensweise ans Thema sehr unterschiedlich – und das wohl zwangsläufig. Hier zeigt sich wieder einmal, dass Geschichte die Wissenschaft des Einzelfalls ist und sich hartnäckig der Generalisierung und Systematisierung entzieht. Die militärischen Planungen der sechs Großmächte gingen von so unterschiedlichen geopolitischen, finanziellen, politischen und sozialen Voraussetzungen aus, dass eine „lineare“ Herangehensweise und das Abhaken immer derselben Fragen vielleicht nicht einmal dann möglich oder sinnvoll gewesen wäre, wenn sich ein einzelner Autor an die Arbeit gemacht hätte, statt eines Autorenteams.

Die Herausgeber haben eine Gruppe ausgezeichneter Spezialisten gewinnen können, die ihnen die jeweiligen Kapitel geschrieben haben. Annika Mombauer, die Biographin von Moltke dem Jüngeren, schreibt über die deutschen Planungen. In sympathischer Selbstironie meint sie, dass sie das Unglück habe, den Schlieffen-Moltkeplan darstellen zu müssen, dessen Grundzüge anders als die anderen Kriegspläne zum Allgemeinwissen gehören. Mombauer gehörte auch zu den Mitdiskutanten in der sogenannten Zuber-Kontroverse, die sie hier aber nur knapp erwähnt. Sie verweist den Leser auf den dieses Problem zusammenfassend bewertenden Band des MGFA.2 Kennerschaft zeichnet auch Günther Kronenbitters Aufsatz über die österreichisch-ungarischen Kriegspläne aus, in denen er auf sein Buch über die österreichischen Kriegsvorbereitungen vor 1914, und besonders Conrad von Hötzendorfs Kriegsplanungen zurückgreifen konnte.3 Bruce Menning schildert dann die russischen Kriegspläne zwischen 1873 und 1914; genauer müsste man sagen, das Geflecht politisch-militärischer Planungen und Heeresreformen, bis in die ersten Monate des Krieges hinein. Dieses Kapitel ist besonders informativ, da es quellennah und sehr kenntnisreich diese in Westeuropa schon aus sprachlichen Gründen weniger gut bekannten russischen Vorgänge analysiert. Robert Doughty analysiert die französischen Kriegsplanungen, vor allem den Einfluss von Joffres desaströsen Ideen, sehr eingängig und informativ. Besonders elegant und gut lesbar geschrieben ist Keith Neilsons Beitrag über Großbritannien, wenn man auch seinem Statement, dass es keinen britischen Kriegsplan gegeben habe, nicht folgen muss und sehr wohl Parallelen zwischen den britischen Plänen und denen der anderen Staaten ziehen könnte. Schließlich schildert John Gooch, der über seine ganze Laufbahn hinweg immer wieder zur Geschichte der italienischen Streitkräfte von der Einigung bis zum Ende des Faschismus geforscht und zuletzt ein umfängliches Werk über „Mussolini’s Generals“ vorgelegt hat, in einem hochinformativen Kapitel die Kriegsplanungen des Dreibundpartners Italien.

Holger Herwig arbeitet in seiner abschließenden Zusammenfassung die Gemeinsamkeiten der Fallstudien heraus. Einer davon ist das erstaunliche Nebeneinander von militärischer und politischer Planung vor 1914, das bei manchen Mächten auf einem strukturellen, verfassungsmäßig zu erklärendem Defizit beruhte – wie im Deutschen Reich – oder aber auf der Machtlosigkeit der strategischen Koordinierungsinstanzen – wie etwa in Großbritannien, wo das Committee of Imperial Defense die Entscheidungsvorgänge nicht in seiner Hand bündeln konnte.

Eine weitere Herausforderung war der wahrscheinliche Zweifrontenkrieg, dem sich das Deutsche Reich, Österreich-Ungarn und Russland gegenübersahen. Das Dilemma suchten diese Mächte entweder durch eine riskante Blitzkriegsstrategie und die Konzentration fast aller Kräfte an einer Front zu lösen (Schlieffenplan, Deutsches Reich) oder durch eine bewusst bewegliche Planung, wie im österreichisch-ungarischen Fall, wo die Streitkräfte in drei Gruppen aufgeteilt wurden, um dann bei Bedarf Schwerpunkte auf dem Balkan oder an der Russlandfront bilden zu können. Auch in Russland konnten sich die Generäle nicht wirklich entscheiden, ob sie den Schwerpunkt gegen Deutschland oder gegen Österreich legen sollten.

In allen Mächten hatten die Befürworter der Offensive die Oberhand. So war es auch in Frankreich, wo Joffres Angriffsplanungen zu einem schweren Desaster führen sollte, und das, obwohl die Grundzüge des deutschen Kriegsplans in Frankreich bekannt waren. Herwig stellt fest, dass alle Kriegspläne vor allem eines gemeinsam hatten, nämlich ihr Scheitern nach Kriegsausbruch. Dem kann man beipflichten, aber doch mit einer Einschränkung: Wie bereits erwähnt, hatte Großbritannien nach Ansicht von Keith Neilson keinen Kriegsplan. Wenn man trotzdem an einen solchen glaubt: Die britischen militärischen Planungen – weite Blockade, Entsendung eines Expeditionskorps nach Frankreich – , sind nicht gescheitert. Die Strategie Großbritanniens war im Jahre 1914 insgesamt wohl die erfolgreichste, wenn es denn mitmachen wollte. Dies könnte man, wie es Niall Ferguson tut, ja auch als kapitalen Fehler interpretieren – aber dann eben als politischen Fehler.

Ein weiterer wichtiger Punkt waren die Koordinationsdefizite zwischen politischen und militärischen Führern bei allen Mächten, die letztlich die Erarbeitung einer Strategie, die politische Ziele und militärische Möglichkeiten in Einklang zu bringen hatte, ganz unmöglich machten. Die Herausgeber weisen darauf hin, dass der Krieg nicht ausbrach, weil eine oder mehrere Mächte die politische Landkarte Europas verändern wollten (diese Aussage ist übrigens ein großer Unterschied zu Paul Kennedys Band, der noch ganz im Schatten der Thesen Fritz Fischers, und zwar der verschärften Version aus „Krieg der Illusionen“ stand). Die Kriegsziele seien erst während des Krieges entstanden. Auch aus Geheimhaltungsgründen waren die Kriegspläne nur einer winzigen Personengruppe bekannt. Allerdings waren die Zivilisten nicht weniger zugeknöpft: Joffre wurde beispielsweise ein von ihm verlangtes politisches Briefing verweigert (S. 13f.). Auch Pollio, der italienische Generalstabschef, tappte im Dunkeln über die Absichten und Ziele der italienischen Führung, und sein Nachfolger Cadorna ebenso.

Hier wäre noch festzustellen, was allerdings in diesem Band nicht systematisch thematisiert wird, dass die militärischen Führer ja auch vor dem großen Krieg hätten warnen können, statt abenteuerliche Strategien für eine ungewinnbare Auseinandersetzung zu entwickeln – und darauf liefen diese Kriegsplanungen sämtlich hinaus. Doch ist es ohnehin klar, dass eine solche Einstellung dem Selbstverständnis aller beteiligten Militärs nicht entsprochen hätte. Sie glaubten, es sei ohnehin unmöglich, dem Kampf ausweichen zu können, und entwarfen deshalb ihre waghalsigen Siegeskonzepte.

Es ist zu bedauern, dass hier die kleineren Mächte fehlen: Es wäre interessant gewesen, etwas über die militärischen Kriegsplanungen des Osmanischen Reiches zu erfahren, das schließlich im November 1914, zwei Monate nach der Marneschlacht, in den Krieg eingetreten war. Hier können wir außerdem auf eine wachsende Literatur zurückgreifen, die mit dem allmählich verfügbar werdenden türkischen Archivmaterial operiert.4 Auch die Kriegsplanung Serbiens oder Belgiens wären eine nicht unwesentliche Ergänzung gewesen. Ein kurzes Fazit: Dieser Band wird im Seminarbetrieb in allen Kursen zum Kriegsbeginn 1914 und zur Geschichte des Ersten Weltkriegs sehr nützliche Dienste leisten.

Anmerkungen:
1 Paul Kennedy (Hrsg.), The War Plans of the Great Powers, 1880-1914, London 1979; siehe auch: John H. Maurer, The Outbreak of the First World War. Strategic Planning, Crisis Decision Making, and Deterrence Failure, Westport, 1995. Auf beide Titel wird auch in Hamilton/Herwig auf S. 3 ausdrücklich hingewiesen.
2 Hans Ehlert / Michael Epkenhans / Gerhard P. Groß, Der Schlieffenplan. Analysen und Dokumente, Paderborn 2006.
3 Günther Kronenbitter, „Krieg im Frieden“. Die Führung der k.u.k. Armee und die Großmachtpolitik Österreich-Ungarns 1906-1914, München 2003.
4 Siehe z.B. Edward Erickson, Ottoman Army Effectiveness in World War I. A Comparative Study, London 2007.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit dem Arbeitskreis Historische Friedens- und Konfliktforschung. (Redaktionelle Betreuung: Jan Hansen, Alexander Korb und Christoph Laucht) http://www.akhf.de/
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