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Titel
Wirtschaftskrisen. Geschichte und Gegenwart


Autor(en)
Plumpe, Werner
Reihe
Beck'sche Reihe 2701
Erschienen
München 2010: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
128 S.
Preis
€ 8,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Jochen Streb, Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften, Universität Hohenheim

Von einem nur 121 Textseiten umfassenden Überblick über die Ursachen und Verläufe zahlreicher Wirtschaftskrisen, von den Hunger- und Agrarkrisen der vorindustriellen Zeit bis hin zur gegenwärtigen Schuldenkrise Griechenlands, kann kein Leser eine ausführliche und datenbasierte wirtschaftshistorische Analyse erwarten. Stattdessen lässt der Verfasser Werner Plumpe auf ein scharfsinniges und originelles Essay hoffen, in dem landläufige Ansichten hinterfragt und neue Diskussionen entfacht werden. Diese Hoffnung wird nicht enttäuscht.

Bereits zu Beginn seiner Ausführungen legt Plumpe den Finger in die eigentliche Wunde der ökonomischen Wissenschaft. In enger Anlehnung an das mechanische Weltbild der Newtonschen Physik entstanden, konzentriert sich die Volkswirtschaftslehre von jeher auf die Analyse von Gleichgewichtszuständen, in denen aus mikroökonomischer Perspektive die Wirtschaftspläne aller Individuen erfüllt und die Märkte geräumt sind, aus makroökonomischer Perspektive Vollbeschäftigung und ein angemessenes Wirtschaftswachstum realisiert werden können. Diese Fixierung auf das Gleichgewicht führt dazu, dass Wirtschaftskrisen nicht als endogener Bestandteil kapitalistischen Wirtschaftens, sondern als seltener exogener Schock begriffen werden, die deshalb auch nicht dem Wirtschaftssystem als solchem anzulasten, sondern in aller Regel auf Politikversagen zurückzuführen sind. Auch Keynesianismus und Monetarismus eint daher die Vorstellung, dass Wirtschaftskrisen grundsätzlich "vermeidbare Phänomene" (S. 26) sind.

Im Gegensatz hierzu deutet Werner Plumpe Wirtschaftskrisen in der Tradition von Karl Marx und Joseph Alois Schumpeter als "Momente des kapitalistischen Strukturwandels" (S. 26) und damit als unverzichtbaren Bestandteil dynamisch wachsender Volkswirtschaften. Die "Hoffnung auf ein immerwährendes Gleichgewicht" (S. 118) ist nicht nur unberechtigt, sondern führt sogar gefährlich in die Irre, da kapitalistische Wirtschaften der Krise notwendigerweise bedürfen, um alte, eingefahrene Bahnen zu verlassen und Innovationen durchzusetzen. Carlota Perez hat diesen Gedanken in einem kürzlich erschienen Aufsatz zu den Ursachen von Spekulationskrisen weiterentwickelt.1 Ihrer Auffassung nach ist die volkswirtschaftliche Implementierung radikal neuer Technologien schwierig, da hierzu umfangreiche Anfangsinvestitionen notwendig sind, die erst in längerer Frist positive Renditen erwarten lassen und deshalb aus den etablierten Wirtschaftssektoren heraus selten unternommen werden. Es bedarf somit einer durch überbordenden Optimismus angetriebenen Spekulationsblase und den mit dieser zunächst einhergehenden kurzfristigen Profiten, um Finanzspekulanten dazu anzureizen, investives Kapital von den alten in die neuen Technologien zu verlagern. Diese Spekulationsblase mag platzen, aber oft hat sie bereits dann ihren eigentlichen Zweck, die Finanzierung der breitflächigen Durchsetzung von Basisinnovationen, erfüllt. Carlota Perez deutet unter anderem sowohl die britische Finanzkrise von 1847 (Basisinnovation: Eisenbahn), die Baring Krise von 1890-93 (Chemie und Elektrotechnik), den Börsenkrach von 1929 (Automobil und Öl) als auch die doppelte Blase von 2000 und 2007-08 (IT) als solche von neuen Technologien getriebenen Spekulationsblasen, die jeweils – bei der letzten prognostiziert sie es voller Zuversicht – eine lange Phase wirtschaftlichen Aufschwungs eingeleitet haben. In dieser Argumentation deutet sich eine ökonomische Krisentheorie zumindest an, die, wie von Plumpe eingefordert, Wirtschaftskrisen als einen gleichsam natürlichen und beständig wiederkehrenden Bestandteil moderner Marktwirtschaften erklärt.

Die aber immer noch in der Öffentlichkeit und auch in der ökonomischen Wissenschaft dominierende Einschätzung, dass Wirtschaftskrisen primär als politikinduzierte Gleichgewichtsstörungen zu verstehen sind, führt nach Werner Plumpe zu einem "eigentümlichen Handlungszwang" (S. 120) der Politik, die sich bereits beim ersten Anzeichen einer Krise sofort genötigt sieht, ihre augenscheinlichen Fehler der Vergangenheit durch neuen wirtschaftspolitischen Aktionismus wettzumachen. Als Beleg für diese These nennt Plumpe die aktuelle Krise. Seiner Meinung nach ähnelt diese aufgrund ihrer Vorgeschichte (hohe Liquidität, steigende Immobilienpreise und deregulierte Finanzmärkte) am ehesten noch dem Gründerkrach von 1873/74, doch hätte die Politik sie gleichsam reflexartig und fälschlicherweise als eine Wiederholung der Weltwirtschaftskrise von 1929 gedeutet und deshalb mit einer expansiven Geld- und Fiskalpolitik bekämpft, die vielleicht im Jahr 1929 angebracht gewesen wäre, gegenwärtig aber vor allem zur Schuldenkrise der südeuropäischen Staaten und Irlands geführt habe. Plumpe wünscht sich daher mehr politische Gelassenheit im Umgang mit den wiederkehrenden Wirtschaftskrisen. Auch seien Spekulanten nicht als deren habgierige Verursacher zu verdammen, da es ja, wie auch von Carlota Perez betont, gerade die Spekulanten sind, die durch ihre Aktivitäten die wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben. So gesehen sind Spekulationsblasen ärgerlich, aber der Preis, den wir für unseren stetig wachsenden Wohlstand zu bezahlen haben. Es gibt keine "gute" Spekulation ohne "schlechte" Spekulation.

Die bei Plumpe immer wieder implizit durchscheinende, geradezu klassische Auffassung, Wirtschaftskrisen seien als Reinigungskrisen beziehungsweise als Momente tiefgreifenden Strukturwandels passiv hinzunehmen oder gar zu begrüßen, muss man nicht teilen. Gerade die Weltwirtschaftskrise von 1929 hat uns gezeigt, dass sich Wirtschaftskrisen eben doch zu "existentiellen Bedrohungen auswachsen" (S. 121) können, weshalb wir sie mit den zur Verfügung stehenden Mitteln bekämpfen sollten – was weder eine sorgfältige Ursachenforschung noch eine Kosten-Nutzenanalyse der geplanten wirtschaftspolitischen Instrumente ausschließt. Werner Plumpe ist in seiner Einschätzung aber unbedingt zuzustimmen, dass Wirtschaftskrisen nicht auf Marktversagen oder Politikversagen reduziert werden dürfen, sondern, ich wiederhole mich, eher als natürliches Element wachsender und innovativer Marktwirtschaften verstanden werden müssen.

Anmerkung:
1 Vgl. Carlota Perez, The Double Bubble at the Turn of the Century: Technological Roots and Structural Implications, in: Cambridge Journal of Economics 33 (2009), S. 779-805.

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