M. Ash (Hrsg.): Psychoanalyse in totalitären und autoritären Regimen

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Titel
Psychoanalyse in totalitären und autoritären Regimen.


Herausgeber
Ash, Mitchell G.
Erschienen
Frankfurt am Main 2010: Brandes & Apsel Verlag
Anzahl Seiten
343 S.
Preis
€ 32,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gudrun Brockhaus, Brockhausstiftung, München

Die deutschsprachige Psychoanalyse der Nachkriegszeit fand die Geschichte ihrer Profession in der Nazi-Zeit jahrzehntelang treffend in der Freud-Biographie von Ernest Jones, dem langjährigen Vorsitzenden der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung (IPV) beschrieben: Jones sprach darin von der „‚Liquidierung‘ der Psychoanalyse im Deutschen Reich, eine der wenigen Taten, die Hitler vollständig gelungen sind“ (Jones 1984, S. 222). Wie wichtig der Status des Opfers nationalsozialistischen Terrors für die PsychoanalytikerInnen war, machte die emotionale Intensität der Kontroversen deutlich, die der Aufdeckung der Korrumpierbarkeit der Psychoanalyse im Nazi-Regime folgte. In einem Prozess der Selbstgleichschaltung waren ab 1933 in Berlin, am damals weltweit größten psychoanalytischen Institut, der jüdische Vorstand und Teile des Lehrkörpers zum Rücktritt, 1935 alle jüdischen Mitglieder zum Austritt aus der Deutschen Psychoanalytischen Gesellschaft (DPG) gedrängt worden. Programmatische Schriften der neuen „arischen“ Führung der DPG suchten die Nützlichkeit der Psychoanalyse für die Gesundung der Volksgemeinschaft nachzuweisen. Die freudianisch ausgerichtet Gruppe wurde ab 1936 in das von einem Vetter Hermann Görings geleitete „Reichsinstitut für psychologische Forschung und Psychotherapie“ integriert, das großzügige finanzielle Zuwendungen erhielt. Die institutionelle Absicherung garantierte auch den psychoanalytischen TherapeutInnen gute Arbeitsmöglichkeiten (vgl. die Pionierarbeit zur Professionsgeschichte von Cocks1). Dieser Prozess wurde von der IPV und ihrem Präsidenten Jones in den ersten Jahren unterstützt und befördert, die jüdischen Mitglieder wurden aufgefordert, Opfer zu bringen, um die Psychoanalyse als Institution in Deutschland zu erhalten.

Zwar waren diese Tatsachen bekannt, doch erst seit 1980 entbrannte in der psychoanalytischen Zunft ein heftiger Streit um die moralische Bewertung des regimekonformen Verhaltens der nichtjüdischen deutschen Psychoanalytiker. Viele hielten die These der ‚Liquidation‘ aufrecht: Die Psychoanalyse, emphatisch begriffen als aufklärerisches Projekt der Wahrheitssuche, sei durch die Unterwerfung unter Zensur und Terror in ihrem Kern beschädigt worden.

Die Kontroverse um die ‚Rettung‘ oder ‚Liquidierung‘ der Psychoanalyse während des Nationalsozialismus bildet den Hintergrund für den von Mitchell Ash herausgegebenen Band zu der Frage, ob und wie die Psychoanalyse in Diktaturen überlebte und welche Spuren die Regime in Theorie und Praxis der Psychoanalyse hinterließen.2 Die Geschichte der Psychoanalyse im und nach dem Nationalsozialismus steht dabei im Zentrum: 10 der 15 Texte befassen sich damit.

Der Band basiert auf Vorträgen einer Tagung in Wien, die 2008 an die Gründung der Psychoanalytischen Gesellschaft durch Sigmund Freud im Jahr 1908 erinnerte. Die Heterogenität und zum Teil Gegensätzlichkeit der fünfzehn Texte ist sicher auch Resultat der unterschiedlichen Theoriesprachen der AutorInnen aus der Psychoanalyse, den Geschichts- und Sozialwissenschaften. In einigen Texten dominiert das kulturkritische Feuilleton, bei anderen eine trockene Ereignisgeschichte, und nur einige Texte verbinden Geschichtsdarstellung mit einer theoretischen These.

„Die Psychoanalyse kann nur dort gedeihen, wo die Freiheit des Gedankens herrscht“ – so zitiert Ash (S. 14) in seiner Einführung (S. 12–34) Anna Freud. Der Wissenschaftshistoriker kritisiert jedoch diese jahrzehntelang gängige Aufspaltung in eine gute, demokratische Wissenschaft und eine „‚rassistische‘ bzw. ‚ideologisch kontaminierte‘ Pseudowissenschaft“ (S. 12), die von charakterlich fragwürdigen Gestalten betrieben worden sei. Ash hält zwar an dem problematischen Begriff des Totalitarismus fest, zentral erscheint ihm jedoch, dass der Anspruch auf totale Gleichschaltung nirgends durchsetzbar war, und die Realität der Regime von Polykratie, Linienwechseln und Willkür der Politik geprägt war. Diese Komplexität muss die Geschichtsschreibung berücksichtigen, sie kann nicht die nachträglich mögliche Eindeutigkeit des Urteils den historischen Akteuren überstülpen.

Nur einige der AutorInnen folgen Ash in dieser Aufforderung zu historischer Differenzierung. Aus historisierender Perspektive zeigt Michael Schröter (S. 152–165), ein führender Spezialist für die Geschichte der Psychoanalyse, dass zwischen 1933 und 1936 die Psychoanalyse zwar ideologisch angegriffen wurde, die Verfolgung und Bedrohung der PsychoanalytikerInnen jedoch aufgrund ihres Jüdisch-Seins und/oder ihrer Zugehörigkeit zur politischen Linken erfolgte. Schröter beschreibt, wie die nicht-jüdischen Vorstandsmitglieder eine „Arisierung“ und politische Säuberung der DPG betrieben, wie sie durch positive Therapie-Berichte von Parteiangehörigen die NS-Führung von der ertüchtigenden Wirkung der Psychoanalyse zu überzeugen suchten, oder wie pikiert sie waren über den Mangel an Opferbereitschaft bei den jüdischen Kollegen.3

Geoffrey Cocks radikalisiert Ashs Kritik an der Behauptung eines totalen Bruchs in der Geschichte – auch der Psychoanalyse – durch den Sieg des Nationalsozialismus (S. 35–57). Er betont in seinem anregenden Text die Kontinuitätslinien. Nicht die ideologische Anpassung der Psychoanalyse oder ihre – geringfügige – Beteiligung an Selektions- und Vernichtungspraktiken seien entscheidend. Das „häufigste moralische Vergehen“ (S. 52) resultiere vielmehr aus der Funktionalisierung der psychoanalytischen Therapeutik durch den NS-Staat. Diese Entwicklung sieht er als Teil eines internationalen Trends, dem „Interesse moderner Staaten an Behandlungstechniken, die Leiden lindern und das produktive Glück der Bevölkerung zu tolerierbaren Kosten herstellen können“ (ebd.).

Die Psychoanalytikerin Elisabeth Brainin hält hingegen an der Auffassung des Nationalsozialismus als eines Systems der realen Allgegenwart totaler Kontrolle fest. Sie meint, in Träumen der NS-Zeit eine „unmittelbare Wirkung totaler Herrschaft auf den einzelnen Beherrschten“, den „Umbau der Persönlichkeit“ (S. 58) nachweisen zu können. Die Ideologie sei an die Stelle der Realitätsprüfung getreten und habe den Individuen eine „Lustprämie“ (S. 69) garantiert. Diese in der Psychoanalyse häufig vertretene These einer zentralen Rolle der NS-Ideologie im psychischen Haushalt basiert auf der unhaltbaren Annahme einer totalen soziopsychischen Gleichschaltung. Vermutlich wird an ihr festgehalten, weil sie ein eindeutiges moralisches Urteilen gestattet.

Informativ, jedoch wahrscheinlich nur für Insider interessant, sind die Berichte über spezifische Aspekte der Psychoanalysegeschichte, wie etwa zur Situation der Psychoanalyse zwischen 1938 und 1945 in Österreich, Belgien und Norwegen. Hier erweisen sich große Unterschiede im Umgang mit dem NS-Regime. Ganz anders als in Deutschland stand die norwegische Psychoanalyse im Widerstand gegen das NS-Regime, aber auch gegen das psychoanalytische Establishment mit seinem Anpassungskurs und der Verfemung sozialistischer Psychoanalytiker wie Wilhelm Reich.

Igor M. Kadyrow gibt in seinem Beitrag (S. 211–234) einen Einblick in die Geschichte der Psychoanalyse in Osteuropa und speziell der UdSSR. Er diagnostiziert einen fortdauernden „Mangel an Raum für Gedanken und Gefühle und der Mangel an Lebensraum im metaphorischen wie im wörtlichen Sinne“ (S. 228), der die analytische Arbeit nach wie vor erschwere.

Höchst provokant und der Repressionserfahrung in Osteuropa entgegengesetzt ist die von Hans Füchtner beschriebene brasilianische Geschichte (S. 235–248). Im Brasilien der Militärdiktaturen ab 1964 erlebte die Psychoanalyse „einen unerhörten Boom und erfreute sich höchsten gesellschaftlichen Ansehens“ (S. 235). Dies führt Füchtner auf das Bedürfnis der neu entstandenen Mittelklasse zurück, sich auf ihre privaten Probleme zu konzentrieren und von der gesellschaftlichen Alltagsrealität abzuwenden (S. 238). Dem entsprach die konservative und elitäre Haltung der Psychoanalytiker-Kaste, die sich in der Tradition Melanie Kleins auf das Unbewusste des Individuums konzentrierte. Wie in der Nazi-Zeit warnte man vor der Gefahr einer Kontamination der Psychoanalyse mit politischen Gehalten. Diese Indifferenz gegenüber der Diktatur ermöglichte einigen Psychoanalytikern sogar, sich an politischer Unterdrückung und an Folterungen zu beteiligen.

Werner Bohleber stellt in seinem Beitrag (S. 293-315) einen Zusammenhang zwischen psychoanalytischer Theorieentwicklung und Gruppenidentität im Nachkriegsdeutschland her. Inhalte und Rezeption der psychoanalytischen Theoriebildung zeigen sich von den emotionalen Problemen im Umgang mit der nationalsozialistischen Verbrechensgeschichte beeinflusst. Zum Beispiel habe man sich in einer Gegenidentifizierung vor der eigenen deutschen Geschichte in eine rigide Idealisierung von Sigmund und Anna Freud gerettet, später in die kritiklose Übernahme der Konzepte jüdischer Emigranten.

Während der Sammelband auch Beispiele für die Schwierigkeiten der Integration von Geschichtswissenschaft und Psychoanalyse enthält, zeigt dieser hoch interessante Beitrag, wie die Wissenschaftsgeschichte durch psychoanalytische Fragen nach unbewussten Motiven bereichert werden kann.

Anmerkungen:
1 Geoffrey Cocks, Psychotherapy in the Third Reich. The Göring Institute, New York 1985; Ernest Jones, Sigmund Freud. Leben und Werk, Band 3, München 1984 (Orig. 1957).
2 Allerdings vermisst man wichtige ProtagonistInnen der damaligen Kontroversen wie zum Beispiel Regine Lockot (1985) oder den damaligen leitenden Redakteur der Zeitschrift ‚Psyche‘ (1984), Helmut Dahmer. Vgl. Regine Lockot, Erinnern und Durcharbeiten. Zur Geschichte der Psychoanalyse und Psychotherapie im Nationalsozialismus, Frankfurt am Main 1985. Redaktion der Zeitschrift Psyche (Hrsg.), Psychoanalyse unter Hitler. Dokumentation einer Kontroverse, Frankfurt am Main 1984.
3 Eine ausführlichere Fassung dieses Textes erschien in der Zeitschrift ‚Psyche‘ 2009: Michael Schröter, Hier läuft alles zur Zufriedenheit, abgesehen von den Verlusten…“. Die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933-1936, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 63 (2009), S. 1085-1130. Schröters Beschreibungen der zeitgenössischen Selbstwahrnehmung lösten heftige Reaktionen aus. Ihm wurde vorgeworfen, aus Gründen der Selbst-Viktimisierung und der Schuldentlastung die Perspektive der Nazi-Kollaborateure übernommen zu haben. Vgl. David Becker, Historisierung des Nationalsozialismus auf dem Vormarsch. Anmerkungen zu dem Artikel über die Deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933-1936 von Michael Schröter, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 64 (2010), S. 258-261; Elisabeth Brainin, Samy Teicher, Kommentar zu „Die deutsche Psychoanalytische Gesellschaft 1933-1936“ von Michael Schröter, in: Psyche. Zeitschrift für Psychoanalyse und ihre Anwendungen 64 (2010), S. 353-357. Das erstaunliche Ausmaß dieser Vorwürfe, in ihrem Gewicht verstärkt durch den Abdruck in der renommiertesten deutschsprachigen psychoanalytischen Fachzeitschrift, belegt die fortlebende Brisanz des Schuldthemas im Umgang mit der NS-Geschichte.

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