M. Meier u.a.: August 410 – Ein Kampf um Rom

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Titel
August 410 – Ein Kampf um Rom.


Autor(en)
Meier, Mischa; Patzold, Steffen
Erschienen
Stuttgart 2010: Klett-Cotta
Anzahl Seiten
259 S.
Preis
€ 19,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Manuel Koch, Historisches Institut, Universität Paderborn

„Wer sich […] auf eine längere Darstellung der Ereignisse des Jahres 410 eingestellt hat, wird enttäuscht.“ (S. 149) So prognostizieren der Althistoriker Mischa Meier und der Mediävist Steffen Patzold die Gemütslage des Lesers bei der Lektüre des in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts vom italienischen Humanisten Flavio Biondo verfassten Geschichtswerks. Gleiches kann auch dem potentiellen Leser des Buches der beiden Autoren mit auf den Weg gegeben werden, denn ihr Anliegen ist es ausdrücklich nicht, zu erörtern, was genau vom 24. bis 27. August vor 1600 Jahren in Rom geschah. Um sich gewiss sein zu können, dass in dieser Hinsicht kein Erkenntnisgewinn zu erwarten steht, reicht die vergleichende Lektüre der drei wortgleichen ersten und letzten Sätze des Buches, mit denen Meier und Patzold das aus ihrer Sicht gesicherte Wissen um dieses Ereignis knapp zusammenfassen: „Am 24. August des Jahres 410 eroberte ein Heer unter der Führung eines Generals namens Alarich die Stadt Rom. Drei Tage lang plünderten Alarichs Soldaten die alte Hauptstadt des Römischen Imperium. Am 27. August zogen sie wieder ab.“ (S. 9 u. 240)

Womit aber füllen die beiden Tübinger Historiker die gut 230 Textseiten zwischen dieser Wiederholung? Ihr im Untertitel angesprochenes Thema ist nicht der in jenen Augusttagen mit Schwertern geführte Kampf um Rom, sondern die seitdem mit der Feder ausgetragenen Auseinandersetzungen um den Hergang, vor allem aber um die Deutung jenes Ereignisses. Sie verfolgen dabei das Ziel, an diesem Beispiel lebendig werden zu lassen, dass Geschichtswissenschaft nach modernem Verständnis nicht einzig als der Versuch einer möglichst realistischen Darstellung objektivierbarer Ereignisse beschrieben werden kann. Es handelt sich stattdessen um eine von Menschen konstruierte und somit stets subjektiv geprägte und fortwährend im Wandel begriffene Narration der Vergangenheit, für die trotz aller wissenschaftlichen Standards auch die Konstruktionsprinzipien einer Erzählung gelten.

Spätestens seit dem in den 1980er-Jahren in der Geschichtswissenschaft angekommenen „linguistic turn“ ist es freilich keine neue Erkenntnis mehr, dass „auch Klio dichtet“.1 Wer ihr bei dieser Arbeit als Dichterin einmal über die Schulter sehen möchte, findet in den von Meier und Patzold aus gut eineinhalb Jahrtausenden ausgewählten unterschiedlichen Interpretationen des gleichen Ereignisses großartiges Anschauungsmaterial und wird von diesem unblutigen Kampf um Rom sicher nicht enttäuscht werden. Der durch das ohne Anmerkungsapparat auskommende und mit einem basalen Literaturverzeichnis versehene Buch vor allem angesprochene breite Leserkreis erhält überdies einen Einblick in aktuelle Forschungsperspektiven auf die Transformation des Römischen Reiches zwischen Spätantike und Frühmittelalter.

Die beiden Verfasser teilen ihre Ausführungen in drei von einem kurzen Pro- und Epilog eingefasste Kapitel, denen sie die Titel „Zeitgenössische Deutungen“, „Historiographen“ und „Historiker“ geben. Diese an der zeitlichen Distanz zum Geschehen orientierte Gliederung fächert sich wiederum in jeweils fünf Unterkapitel auf, in denen einzelne Autoren sowie ihre mit dem Ereignis befassten Werke und Deutungen vorgestellt und untersucht werden. Im Zentrum steht dabei jeweils die Frage, welche Geschichte sie zu den Ereignissen der Augusttage des Jahres 410 verfassten und welche Einflüsse zu ihrer jeweiligen Darstellung und Sichtweise geführt haben.

Mit Blick auf die „zeitgenössische[n] Deutungen“ (S. 13–82) stellen Meier und Patzold heraus, dass die Eroberung der alten Hauptstadt als Katastrophe empfunden wurde, die Erschütterung und Irritation hervorrief. Dies übte auf die noch junge christliche Kirche jener Zeit einen hohen Druck aus, sahen die Anhänger des traditionellen Polytheismus – wie sie im Buch durch den aus der gallischen Hocharistokratie stammenden Rutilius Namatianus vertreten werden – in der Plünderung Roms doch ein Zeichen dafür, dass das Reich zu seinem alten Glauben zurückfinden müsse. Zur zentralen Frage der christlichen Autoren wird daher, wie Gott dieses furchtbare Ereignis habe geschehen lassen können. Hieronymus und Augustinus geben darauf zur Antwort, dass die Plünderung als ein strafender Aufruf zu verstehen sei, mit dem Gott die Christen auf den rechten Weg führen wolle. Orosius hingegen wählt eine andere Perspektive, indem er trotz aller Schrecken bei seiner Schilderung hervorhebt, wie vergleichsweise milde die Barbaren sich gezeigt hätten, und dies als hoffnungsvolles Zeichen einer durch die Christianisierung bewirkten Entwicklung wertet.

Kam den Plünderern in den zeitgenössischen Schriften noch die Rolle gesichtsloser und an sich bedeutungsloser Werkzeuge göttlichen Wirkens zu, so ist die Perspektive von „Historiographen“ (S. 83–164) wie Jordanes und Isidor von Sevilla auf Grundlage ihrer Gegenwartserfahrungen eine andere. Etwa eineinhalb Jahrhunderte nach der Plünderung Roms war das westliche Kaisertum bereits erloschen und wo sich einst Kerngebiete des Weltreiches befunden hatten, regierten nun gotische Könige. Wie hatte es geschehen können, dass ein vergangenheits- und kulturloses Völkergemisch sich in der Auseinandersetzung mit dem Imperium nicht nur behaupten, sondern schließlich sogar dessen Nachfolge hatte antreten können? Die von Jordanes in der Mitte des 6. Jahrhunderts verfasste (bzw. aus dem Werk Cassiodors kompilierte) Geschichte von „Ursprung und Taten der Geten“ antwortet darauf mit einem neuen Erklärungsschema: Sie verlieh den Goten ex post eine bis in die Urzeit zurückreichende und ruhmvolle Vorgeschichte. Der Sieg von 410 war somit nicht von einem schwer fassbaren Völkergemisch errungen worden, das sich aus pragmatischen Erwägungen unter einem erfolgreichen Anführer zusammengeschlossen hatte, sondern von einem starken und uralten Volk. In Übereinstimmung mit neueren Forschungen stellen die beiden Autoren heraus, dass erst Jordanes’ Erklärungs- und Ordnungsmuster eine gotische Frühgeschichte erschufen, die bis ins 20. Jahrhundert von Wissenschaftlern nacherzählt wurde.

Die veränderte Perspektive auf die Goten spiegelt sich auch im zu Beginn des 7. Jahrhunderts im spanischen Westgotenreich verfassten historiographischen Werk Isidors von Sevilla wider. Hier erscheinen die Goten als die legitimen Herrscher über die Hispania und die verdienten Erben Roms. Die Eroberung Roms im Jahre 410 markiert für ihn dabei den Wendepunkt. Isidors gut 500 Jahre später schreibender Freisinger Amtskollege Otto liefert vor dem Hintergrund der tiefgreifenden kirchlichen Entwicklungen in Folge des Investiturstreits erneut eine heilsgeschichtliche Deutung der Ereignisse, die aber für die am Ausgang des Mittelalters schreibenden Autoren Flavio Biondo, Franciscus Irenicus und Johannes Magnus von keinem Interesse mehr ist. Für Biondo stellt das Jahr 410 eine Zäsur in der Geschichte der italienischen Halbinsel dar; und wie sich in seiner eingangs bereits zitierten Schrift die Entwicklung einer nationalen Geschichtsschreibung andeutet, so weist die bei den beiden anderen Historiographen festzustellende Identifikation mit den Goten bereits den Weg zu einem zentralen Deutungsaspekt der im dritten Kapitel behandelten „Historiker“ (S. 165–234).

Meier und Patzold zeigen dabei auf, wie die deutsche Historiographie im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Alarich als aufrechten germanischen Helden für sich vereinnahmte, der sein Volk vermeintlich auf der Suche nach Lebensraum in den Kampf gegen dekadente Romanen führte. Auch diese Lesart wird durch den Bezug zu den jeweiligen zeitgenössischen Bedingungen und Bedürfnissen verständlich gemacht. Zurecht stellen die beiden Autoren in diesem Zusammenhang den im Untertitel ihres Buches zitierten Felix Dahn als zentrale Figur für die breite Verankerung einer gemeinsamen germanisch-deutschen Identität im 19. Jahrhundert heraus, die ihre Basis in der Vorstellung von Völkern als überzeitliche und organische Einheiten fand. Der Übergang von der germanischen Identitätssuche im Zuge der Entstehung und inneren Festigung eines deutschen Nationalstaates zu den „völkisch“ begründeten Machtphantasien und Lebensraumideologien der „Alldeutschen“ und schließlich der Nationalsozialisten wird am Beispiel Wilhelm Capelles aufgezeigt.

In ihrem letzten Unterkapitel stellen Meier und Patzold heraus, wie die maßgeblich von Herwig Wolfram am Beispiel der Goten entwickelte Theorie der Ethnogenese seit den ausgehenden 1970er-Jahren für die deutschsprachige Forschung eine neue und sich von biologistischen Erklärungsmustern befreiende Perspektive eröffnet hat. Bestritten werde diese Einschätzung allerdings von Teilen der amerikanisch-kanadischen Forschung, welche die Ethnogeneseforschung stattdessen als eine notdürftig ummantelte Fortsetzung der traditionellen „germanischen Altertumskunde“ verstehe. Namentlich lassen Meier und Patzold in diesem Zusammenhang den Historiker Michael Kulikowski zu Wort kommen. In seiner Sicht hatten die Goten keine gemeinsame Vorgeschichte als Volk, sondern wuchsen erst in und durch die Auseinandersetzung mit Rom zu einer Gemeinschaft zusammen, die sich als gotisch verstand, weil sie von ihren römischen Gegner so beschrieben wurde. Demnach war es ein selbstgemachter Feind, der dem Imperium an jenen Augusttagen des Jahres 410 eine vor allem symbolisch empfindliche Niederlage zufügte. Meier und Patzold weisen abschließend darauf hin, dass diese Geschichte vor dem Hintergrund der Erfahrungen seit dem 11. September 2001 insbesondere US-amerikanischen Leser nachvollziehbar erscheinen müsse.

Mit dieser Verbindung sind die beiden Autoren in der Gegenwart angekommen und zugleich im Kern ihres Themas. Wer Geschichte nicht nur als lose Aneinanderreihung von Einzelheiten darstellen möchte, so ihr Fazit, muss diese zu einer aufschlussreichen und plausiblen Geschichte verbinden. Was freilich als glaubhaft gelten kann, entscheidet sich stets vor dem gesellschaftlichen und biographischen Hintergrund der Historiographen und ihrer Leserschaft. Die damit verbundene Dynamik und die daraus erwachsenden, mitunter erheblich differierenden Deutung der Vergangenheit haben Meier und Patzold anhand der 1600-jährigen Interpretationsgeschichte der Plünderung Roms durch Alarich einem breiten Leserkreis beispielhaft vor Augen geführt.

Anmerkung:
1 Hayden White, Auch Klio dichtet oder Die Fiktion des Faktischen, 2. Aufl., Stuttgart 1991.

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