Cover
Titel
1968-1978. Ein bewegtes Jahrzehnt in der Schweiz / Une décennie mouvementée en Suisse


Herausgeber
Schaufelbuehl, Janick Marina
Erschienen
Zürich 2009: Chronos Verlag
Anzahl Seiten
333 S.
Preis
€ 31,00
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Silke Mende, Seminar für Zeitgeschichte, Universität Tübingen

Die Erinnerungen und Zuschreibungen an das Jahr 1968 unterscheiden sich in der Schweiz von denen in anderen westeuropäischen Ländern: Zwar empfanden und empfinden Zeitgenossen wie Nachlebende das Jahr als markanten, wenn auch durchaus unterschiedlich konnotierten Einschnitt. Allerdings, so die Wahrnehmung, seien die Ereignisse vor allem von anderen Ländern ausgegangen und hätten weniger im eigenen Land stattgefunden. Mit diesem „weit verbreiteten Vorurteil“ (Zitat: Klappentext) möchte der vorliegende Band aufräumen. Es habe sehr wohl ein „1968“ in der Schweiz gegeben und ähnlich wie in anderen Ländern habe sich bereits zu Beginn der 1960er-Jahre ein „stilles Unbehagen an der Schweizer Normalität, eingezont zwischen Konformismus, Konservativismus und satter Selbstgefälligkeit“ (S. 10) bemerkbar gemacht. Doch anders als in Deutschland oder Frankreich, wo die 68er-Bewegung geschichtswissenschaftlich gut erforscht ist, steht die Schweiz in dieser Hinsicht noch am Anfang. Insofern kann der Band als Beitrag zu einer nachgeholten Historisierung des Schweizer „1968“ gelten, der in vielerlei Hinsicht Pionierarbeit leistet.

In Anlehnung an Pierre Bourdieu zeichnen Janick Marina Schaufelbuehl und Brigitte Studer in ihrer Einleitung die mit der Chiffre „1968“ belegten Ereignisse als „langes“ „kritisches Moment“ der Synchronisation von Krisen und Konflikten in verschiedenen gesellschaftlichen Feldern (S. 20). Als eigentlichen Untersuchungszeitraum nennen sie die Jahre von 1968 bis ca. 1973/75, wobei einzelne Beiträge des Bandes bis in die 1950er-Jahre zurückgehen und viele bis in die späten 1970er-Jahre reichen. Es geht also nicht bloß um die 68er-Bewegung im engeren Sinne, sondern um deren Einbettung in einen zeitlich weiter gespannten Protestzusammenhang. Leider wird das Konzept vom „kritischen Moment“, das in der deutschen 68er-Forschung etwa von Ingrid Gilcher-Holtey thematisiert worden ist,1 nur von wenigen Beiträgen explizit aufgegriffen.2

Ein Manko ist, dass der Sammelband keinerlei Informationen zu den in ihm versammelten Autoren bereithält und auch kaum Hinweise auf den Kontext seiner Entstehung gibt. Offenbar geht er auf eine im Mai 2008 an den Universitäten Bern und Lausanne veranstaltete Tagung zurück 3 und ist eng verzahnt mit einem an diesen beiden Orten laufenden Forschungsprojekt unter Leitung von Brigitte Studer und Jean Batou (S. 33). Neben der Einleitung sowie der ausführlichen und die Ergebnisse in einen größeren Kontext einordnenden Zusammenfassung von Jean Batou umfasst der Band 19 Aufsätze in deutscher und französischer Sprache, die sich in vier thematischen Sektionen wiederfinden: 1) Die schweizerische 68er Bewegung im Kontext der globalen Protestwelle, 2) die internationale Solidarität als politisches Engagement, 3) die Geschlechterbeziehungen im Fokus der 68er Bewegungen, 4) 68 in der Schweiz: Gegenkultur und Reaktion des Establishments. Die Beiträge, auf die hier nicht allesamt im Einzelnen eingegangen werden kann, beruhen größtenteils auf laufenden Projekten oder abgeschlossenen Lizenziatsarbeiten. Es handelt sich fast ausnahmslos um archivalisch gesättigte Fallstudien von großer empirischer Dichte. „Entsprechend der dezentralen Struktur des Landes und den zentrifugalen transnationalen Orientierungen“ (S. 9) gehen sie häufig von der lokalen Ebene aus.

Die Verschränkung von lokalen und regionalen Besonderheiten auf der einen sowie einer globalen Perspektive auf der anderen Seite macht denn auch eine der Stärken des Bandes aus. So werden die regionalen Unterschiede deutlich, wenn etwa Sarah Kiani in ihrem Beitrag zur Neuen Frauenbewegung auf die Schwierigkeiten hinweist, welche die Schweizer Multiregionalität für eine nationale Koordinierung der Aktivitäten mit sich brachte. Allerdings fällt eine starke Konzentration des Bandes auf die deutsch- und französischsprachige Schweiz auf. Das Tessin wird zwar in einigen Aufsätzen am Rande thematisiert, einen eigenen Beitrag dazu sucht man jedoch vergebens. Auf der anderen Seite ist sehr vielen Beiträgen ein geweiteter internationaler Blick gemein, der die Schweizer Ereignisse und Entwicklungen mit der Situation in anderen Ländern vergleicht, sowie transnationale Themen, Kontakte und Netzwerke sichtbar macht. Das gilt vor allem für die erste Sektion, bei der man allenfalls einen eigenen Beitrag zur atlantischen Perspektive sowie den vielfältigen Ideologie- und Praxistransfers zwischen den USA und Westeuropa vermisst.4 Allein qua Gegenstand international präsentiert sich auch die zweite Sektion, die sich vor allem mit der „Dritte-Welt“-Bewegung sowie den Solidaritätsbewegungen für Vietnam und Portugal beschäftigt. Dort zeigt etwa Konrad Kuhn am Beispiel der „Erklärung von Bern“ (EvB) das Zusammengehen von unterschiedlich geprägten Akteuren in der Schweizer „Dritte-Welt“-Bewegung und rekonstruiert ihren im Rahmen eines transnationalen Netzwerks stattfindenden Protest gegen ein portugiesisches Staudammprojekt in Mosambik. Marc Griesshammer wiederum unterstreicht in seinem Beitrag zur Vietnam-Solidarität, „wie sehr die Studierenden ihre Kritik an den Missständen zuhause in denselben Kontext wie die Unterdrückung in Vietnam“ (S. 128) stellten. Denselben Mechanismus entdeckt Nicole Peter im gesamten schweizerischen Drittweltdiskurs der 1960er-Jahre. Wenn etwa im Konflikt um die verwaltungsmäßige Zugehörigkeit des Jura in Anlehnung an Che Guevara „Schafft zwei, drei, viele Jura“ (S. 144) skandiert wurde, dann verdeutlicht diese Episode, wie sehr die „Dritte Welt“ für die Protestbewegten nicht zuletzt eine Projektionsfläche für die eigenen Schweizer Anliegen war. Doch auch über diese beiden per se international angelegten Sektionen hinaus, steht die transnationale Dimension von 1968 erfreulicherweise im Vordergrund vieler Beiträge. So untersucht beispielsweise Ariane Tanner die Kooperation von österreichischen und Schweizer Linken, die gemeinsam die Aussteigerkommune Longo maï in der Provence ins Leben riefen. Monica Kalt wiederum widmet sich der so genannten „Babymilch-Kontroverse“ (S. 26) um den Lebensmittelkonzern Nestlé, die vor Gericht endete und in der sich die internationale Debatte über den Konnex zwischen zunehmender Verbreitung von Flaschenmilch und steigender Säuglingssterblichkeit in der „Dritten Welt“ verdichtete. Gleichzeitig zeigt die Autorin die für den Protestzusammenhang der 1960er- und 1970er-Jahre so charakteristische Verknüpfung von Themen und Bewegungen auf, in ihrem Beispiel der Frauen- und der „Dritte Welt“-Bewegung.

Wie es um das Verhältnis der 68er-Bewegung zu ihren Nachfolgeerscheinungen bestellt ist, wird in dem Band vor allem aus der Perspektive der Kontinuitäten behandelt. Zwar widerspricht Marica Tolomelli in ihrem vergleichenden Beitrag über die Bundesrepublik und Italien der populären Deutung, wonach „der Linksterrorismus der 1970er Jahre aus einem kontinuierlichen und unaufhaltsamen Radikalisierungsprozess innerhalb der Protestbewegungen entstanden sei“ (S. 80). Anders als der Terrorismus wird ein Großteil der Neuen Sozialen Bewegungen, als dem vielleicht langfristig wirkmächtigsten Folgeprodukt von „1968“, jedoch als Verlängerung der Revolte interpretiert. Mögliche Veränderungen, etwa hinsichtlich der Utopiefähigkeit und des Aktions- und Reflexionsradius‘ der Akteure, werden eher am Rande thematisiert. Dies verstellt jedoch den Blick auf Protestbewegungen der 1970er-Jahre, die zwar in der Kontinuität zu 1968 standen, aber auch Brüche, beispielsweise zu deren fortschritts- und modernisierungsoptimistischem Grundton, aufwiesen. Damit fallen wichtige Bewegungen wie die Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung weitgehend heraus, was umso bedauerlicher ist, als doch die Schweiz traditionell über einen produktiven umweltgeschichtlichen Forschungszweig verfügt. Wie sehr eine solche Perspektive den Blick auf vorhandene Kontinuitäten ergänzen kann, machen allerdings einige Beiträge deutlich. Neben dem bereits erwähnten Aufsatz von Monica Kalt, unterstreicht dies vor allem der Beitrag von Stefan Bittner, der sich mit der Aussteigergruppe Bärglütli beschäftigt und von einer „romantischen Wende nach 1968“ spricht. Dabei bezieht er die am Übergang zu den 1970er-Jahren aufscheinende ökologische Perspektive explizit mit ein: „In der Wahrnehmung vieler ohnehin schon entfremdungssensibler junger Menschen“, so Bittner, „lieferten ökologische Katastrophenmeldungen […] noch den entscheidenden letzten Beweis für die Überzeugung, vom Glücksversprechen der Moderne fundamental betrogen worden zu sein.“ (S. 242) In eine ähnliche Richtung weist der Artikel von Gioia Dal Molin über die Zürcher Produzentengalerie Produga, für deren Arbeit im Laufe der 1970er-Jahre zunehmend Themen der Umwelt- und Anti-AKW-Bewegung eine wichtige Rolle spielten.

Insgesamt entfaltet der Sammelband ein weit gespanntes Panorama an Themen und Akteuren, das die 1960er- und 1970er-Jahre auch in der Schweiz zu „bewegten Jahrzehnten“ machte und ihre Eingebundenheit in inter- und transnationale Protestzusammenhänge aufzeigt. Viele der Beiträge machen gespannt auf die daraus sicherlich in Kürze resultierenden Einzelstudien.

Anmerkungen:
1 Z.B. Ingrid Gilcher-Holtey, „Kritische Ereignisse“ und „kritischer Moment“. Pierre Bourdieus Modell der Vermittlung von Ereignis und Struktur, in: Andreas Suter (Hrsg.), Struktur und Ereignis, Göttingen 2001, S. 120–137.
2 Eine Ausnahme bildet der Beitrag von Bernard Pudal, der den „moment 68 en France“ aus drei unterschiedlichen Perspektiven einzukreisen sucht.
3 Vgl. <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/termine/id=8942> (08.03.2011).
4 Vgl. dazu etwa die jüngst erschienene Studie von Martin Klimke, The Other Alliance. Student Protest in West Germany and the United States in the Global Sixties, Princeton 2010.

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Die Rezension ist hervorgegangen aus der Kooperation mit infoclio.ch (Redaktionelle Betreuung: Eliane Kurmann und Philippe Rogger). http://www.infoclio.ch/
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