M. S. Roy: Gender and Radical Politics in India

Cover
Titel
Gender and Radical Politics in India. Magic Moments of Naxalbari (1967-1975)


Autor(en)
Sinha Roy, Mallarika
Reihe
Routledge Studies in South Asian History 10
Erschienen
London 2011: Routledge
Anzahl Seiten
210 S.
Preis
£ 80.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Melitta Waligora, Institut für Asien- und Afrikawissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Die Autorin des vorliegenden Buches widmet sich einem speziellen Aspekt einer radikalen politischen Bewegung in Südasien, von deren gegenwärtigen Ausläufern der Premierminister Indiens Manmohan Singh als die größte Bedrohung für das Land sprach. Er schätzte diese Bedrohung offensichtlich größer ein als die Gefahr, die von islamischen Terrorbewegungen ausgeht, von denen im Westen soviel die Rede ist. Von den Naxaliten hingegen hat kaum jemand hier gehört oder gelesen, obwohl bereits eine Reihe fundierter Literatur in englischer Sprache dazu vorliegt.

Naxalbari, ein abgelegener Ort im Norden des indischen Bundesstaates Westbengalen, gab den Namen für eine politische Bewegung, die seit den 1950er-Jahren darum kämpfte, den Bauern, Landarbeitern und Adivasis Recht auf Land und damit eine Existenz zu sichern. Zunächst geführt von Mitgliedern der Kommunistischen Partei Indiens (CPI), übernahm nach deren Spaltung 1964 die CPI (Marxist) die Organisation des Klassenkampfes gegen die Landbesitzer. Dieser ging dann ab 1967 in einen bewaffneten Kampf über, der ab 1969 von der CPI (Marxist-Leninist), einer Abspaltung der CPI (Marxist), geführt wurde. Die Regierung in Kalkutta, eine Koalition von CPI, CPI (M) sowie der Kongresspartei ging mit der Staatsgewalt gegen die Bauernaufstände vor. Doch die unzufriedene studentische Jugend (schlechte Ausbildung, geringe Berufschancen, Korruption an den Universitäten) solidarisierte sich mit der aufständischen Landbevölkerung. Im Kopf die Schriften Maos, gingen viele der Studenten in die Dörfer, im dort den politischen und bewaffneten Kampf gegen Landlords und Staatsgewalt zu organisieren. Auch Kalkutta selbst wurde von Studentenunruhen geprägt, vergleichbar der Situation in Paris oder Berlin. Akteure der Bewegung sind Bauern, Landlose, Adivasis und Studenten. Die Führung der Naxaliten hatte, wie Roy schreibt, „no formal space for women“ (S. 53).

Aufbauend auf einem vorhandenen Korpus von Literatur zu den Naxaliten, kann sich die Autorin dem gender-Aspekt zuwenden, wobei sie klar macht, dass gender nicht Frauen meint und es nicht einfach um „a compensatory women’s history of this movement“ (S. 13) geht. Ziel des Buches ist es, die Teilnahme von Frauen an der Naxalitenbewegung in Westbengalen unter drei Gesichtspunkten zu beleuchten: 1. Die Unterdrückung von Frauen in dieser Bewegung und den Widerstand der Frauen dagegen erfassen; 2. Die Erfahrungen der Frauen und ihr Verständnis der Bewegung beschreiben und analysieren; 3. Gender als analytische Kategorie zum Verständnis dieser Bewegung einsetzen (S. 2).

Das Buch gliedert sich in sieben Kapitel, die eng miteinander verwoben sind. Daher erschließt es sich eher, indem man versucht, den prinzipiellen Ansatzpunkt ausfindig zu machen, an dem sich der Text orientiert. Die Rezensentin glaubt, diesen auf Seite 73 gefunden zu haben. Dort spricht sie von der zentralen Bedeutung der „urban middle-class sensibilities in Naxalite ideology“. An anderer Stelle hebt sie die Affinität zwischen der tendenziell repressiven sexuellen Moral der bhadralok und den Naxaliten hervor (S. 69). Mit dem Begriff „bhadralok“ wird eine sich im 19. Jahrhundert in Bengalen herausbildende Mittelklasse bezeichnet, deren Existenz weitgehend durch die Kolonialherrschaft bedingt und auch lange Zeit von ihr abhängig blieb. Sie zeichnet sich durch Bildung und einen eigenen Lebensstil aus, der zum Teil westlich geprägt war. Es ist aber auch die Klasse, in der zuerst ein politisches und nationales Bewusstsein entstand und der anti-koloniale Kampf seinen Anfang nahm. Frau Sinha Roy findet in der Geschichte der bengalischen Bhadralok zwei Besonderheiten, die Einfluss auf die Naxaliten hatten. Dies ist zum einen eine militante Maskulinität, zum anderen die Idee von einem sogenannten wohlwollenden Patriarchat. Zusammen genommen bedeutet dies für die gender Perspektive der Naxaliten die Übernahme des „bhadralok ideals of benevolent, protective masculinity as a communist virtue.“ (S. 118)

Im Kern zeigt das Buch die Wirkungsweise dieses Ideals auf die beteiligten Aktivisten. Um diese aufzuspüren nutzt die Autorin Schriften der Naxaliten, Erinnerungen und Autobiographien, fiktionale und historische Texte sowie Filme. Die interessanteste Quelle der Autorin sind allerdings Interviews, die sie überwiegend selbst mit Männern und Frauen aus der Bewegung geführt hat. In diesen Interviews, aber auch durch die anderen Quellen, bestätigt sich die Dominanz des patriarchalischen Diskurses bei den männlichen Aktivisten. Frauen werden nicht als eigenständige Akteure der Bewegung verstanden und die sexuelle Ausbeutung von Frauen ignoriert. Dies kann, wenn auch nicht entschuldigend, als Zeitgeist verstanden werden, den nahezu idealtypisch eine der interviewten Frauen auf den Punkt bringt: „… when women‘s issues were raised we were told that it was not the right time to discuss such issues … once the revolution is over we would think about that …“ (S. 114). Diese oder ähnliche Worte haben Frauen in revolutionären Bewegungen wohl in der ganzen Welt zu hören bekommen. Überraschend ist, dass kaum einer der befragten Männer mehr als dreißig Jahre danach seine gender-Perspektive geändert zu haben scheint. Auch in der Rückschau wird der Beitrag der Frauen zum Teil verächtlich, zum Teil trivialisierend als lediglich unterstützend, politisch unreif, geleitet von romantischen Motiven darstellt. Nur wenige Stimmen kann die Autorin ausmachen, die schon damals oder heute sich um eine neue Sicht auf die beteiligten Frauen bemühen, darunter immerhin die eine des bedeutenden Führers Kanu Sanyal. Aber, und dies ist eine ihrer Thesen, bleiben diese Stimmen in der Geschichtsschreibung und in der Konstruktion von Erinnerung marginalisiert (S. 85).

Im Zentrum stehen die Erfahrungen und Erinnerungen der Frauen. Obwohl die Aktivistinnen aus sehr verschiedenen sozialen Verhältnissen kommen – Adivasis, Bäuerinnen, Arbeiterinnen sowie aus der städtischen Mittelschicht und sehr unterschiedliche Erfahrungen machen, scheinen sie doch die „magic moments“ zu teilen. Anders als es die interviewten Männer darstellen, schließen sie sich der Bewegung an, damit alle Formen der Unterdrückung beseitigt werden können. Sie brechen soziale Tabus und widerstehen patriarchalischer Herrschaft, zum Beispiel indem sie gegen prügelnde und das Familieneinkommen vertrinkende Ehemänner auftreten. Sie sind Organisatorinnen und Führerinnen, sie setzen ihr Leben im Untergrund ein und kämpfen mit der Waffe gegen die zunehmende Staatsgewalt. Sie protestieren vehement gegen das bhadralok-Ideal von Weiblichkeit, das sie in der Bewegung wiederfinden, wenn sie lediglich für das Servieren von Tee oder Kopieren von Schriften der Führer eingesetzt werden. Sinha Roy vermag es in diesen Abschnitten ihres Buches, ein sehr lebendiges und differenziertes Bild weiblicher Motive und Aktivitäten zu zeichnen.

Ein spezielles Kapitel widmet die Autorin dem Thema der Gewalt. Dazu gehört das Problem der Legitimierung von Gewalt in revolutionären Bewegungen sowie die Teilnahme von Frauen an der Ausübung von Gewalt, also die Rolle von Frauen als Gewalttäterinnen. Das ist ein spannender Aspekt, gerade weil die kulturellen Traditionen Indiens wie Bengalens Muster von starken bis gewalttätigen weiblichen Figuren in Mythologie, Literatur und Religion bereithalten. Diese scheinen aber eher noch in den ländlichen Gegenden und unter Adivasis und Bauern verbreitet gewesen zu sein. Manch Naxalit war erstaunt über Eigenständigkeit und Mut der Frauen aus diesen Schichten. Doch nur kurz diskutiert die Autorin die Konzepte von Shakti (weibliche Energie/Kraft) und Virangana (Kriegerin) und hat offensichtlich ihre Interviewpartnerinnen nicht nach Vorbildern und Einflüssen aus diesem Bereich gefragt. Die Frauen der städtischen Mittelschicht waren hingegen eher dem Diktat des bhadralok-Ideals von Weiblichkeit unterworfen und sollten sich jeder Gewalt enthalten.

Das Buch enthält eine Fülle von Informationen und bemüht eine Vielzahl von Hinweisen auf Diskurse aus der postkolonialen Theorie. Beides, da zum Teil wenig strukturiert, erschwert die Lektüre. Man erkennt die Herkunft aus einer Dissertation, die hätte überarbeitet werden müssen. Das spannende Zeitzeugenmaterial pickt der Leser begierig auf und kann sich nicht sicher sein, ob es der Autorin als Ausgangspunkt von Fragestellungen diente oder zur Illustration von Thesen.