H. Böhringer u.a. (Hrsg.): Gestalten des 19. Jahrhunderts

Titel
Gestalten des 19. Jahrhunderts. Von Lou Andreas-Salomé bis Leopold von Sacher-Masoch


Herausgeber
Böhringer, Hannes; Zerbst, Arne
Reihe
Schriften der deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 19. Jahrhunderts 2
Erschienen
Paderborn 2010: Wilhelm Fink Verlag
Anzahl Seiten
242 S.
Preis
€ 32,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Werner Telesko, Kommission für Kunstgeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Die Erforschung des 19. Jahrhunderts besitzt in vieler Hinsicht wieder eine auffällige Konjunktur. Dies spiegelt sich nicht nur in zahlreichen Einführungen zu Themen der politischen Geschichte, sondern auch in einer Renaissance personenzentrierter Darstellungen, die Hauptwerke einer früheren Zeit in das Gedächtnis ruft. Neben einem berühmten Werk von Theodor Heuss1 ist in diesem Zusammenhang vor allem auf Wolfgang J. Mommsen2 zu verweisen. In der gegenwärtigen Forschung ist eine Verwendung der Biographie vor allem mit der Zielsetzung zu konstatieren, mittels Personen paradigmatisch auf grundlegende geistesgeschichtliche Entwicklungen zu verweisen.3

Der vorliegende Band, der auf eine Vortragsreihe mit dem Titel „Paradigmatische Gestalten des 19. Jahrhunderts“ (Hochschule für bildende Künste in Braunschweig) zurückgeht, versucht, anhand der Präsentation ausgewählter Persönlichkeiten die „Bedeutsamkeit“ des 19. Jahrhunderts „für die Gegenwart“ zu veranschaulichen (Umschlagtext), um solcherart auf die „Modernität und Gegenwärtigkeit“ (S. 7) dieser Epoche zu verweisen. Diese Relevanz des 19. Jahrhunderts als „Speerspitze der Moderne“ (S. 7), die auch hinsichtlich mediengeschichtlicher Entwicklungen ein Thema gegenwärtiger Forschungen ist 4, soll in besonderer Weise in Bezug auf die Leistungen der für den Band ausgewählten Personen zur Geltung kommen. Die Herausgeber haben sich für eine Mischung aus bildenden Künstlern, Reisenden, Naturwissenschaftlern, Städteplanern, Musikern und Schriftstellern entschieden, wobei die Auswahl von der Romantik (Caspar David Friedrich) bis weit in das 20. Jahrhundert (Stefan George) reicht. Auffällig ist dabei eine deutlich kontinentaleuropäische Fixierung, Südeuropäer und Engländer sucht man hingegen vergeblich. Die inhaltliche Herausforderung für die Herausgeber des Bandes war auch aufgrund methodischer Gesichtspunkten nicht unbeträchtlich, da einige der Beiträger sehr wohl versuchten, die von ihnen beschriebenen Persönlichkeiten zu Trägern allgemeiner Erscheinungen des 19. Jahrhunderts zu machen (etwa Christian Scholl bei Caspar David Friedrich), andere Autoren aber stärker biographischen bzw. rein fachwissenschaftlichen Gesichtspunkten folgen (beispielsweise Rainer Wilke bei Cèsar Franck).

Christian Scholl stellt anhand des Werkes des Malers Caspar David Friedrich die Idee, dass man „vom Kunstwerk unmittelbar auf den Künstler und seine Persönlichkeit rückschließen könne“ (S. 17), als ein wichtiges Element im 19. und 20. Jahrhundert vor. Die „Reiselust“ des 19. Jahrhunderts sowie die Analyse entsprechender Reiseberichte unter Gesichtspunkten der Frauenemanzipation macht Elke Niewöhner am Beispiel der Wienerin Ida Pfeiffer, die 1842 zu ihrer ersten größeren Reise in den Orient aufbrach, zum Thema, wobei – über den Anlassfall hinaus – eine stärkere Einbindung in die aktuelle Forschung zur Apodemik nützlich gewesen wäre. Eva-Marie Felschow nimmt mit Justus Liebig einen jener Naturwissenschaftler ins Visier, die durch die kongeniale Verbindung von Wissenschaft und „Wissenschaftspopularisierung“5 einen zentralen Aspekt moderner Wissenswelten verkörpern. Mit der dabei zu konstatierenden „Vernetzung von Naturwissenschaft, Gesellschaft und Wirtschaft“ (S. 53) wird zugleich das für das 19. Jahrhundert grundlegende Phänomen miteinander verbundener Systeme angesprochen.

Cord-Friedrich Berghahn bezeichnet in seinem instruktiven Beitrag zum Städteplaner und Schöpfer von „Neu-Paris“, Georges-Eugène Haussmann, diesen bereits im ersten Satz als „paradigmatische Gestalt“ (S. 65). Der 1853 von Kaiser Napoleon III. eingesetzte Präfekt der Seine transformierte durch die mächtigen in die Stadt geschlagenen Schneisen das alte Paris zur modernen Metropole. Berghahn nimmt diese Tatsache als Ausgangspunkt für die Thematisierung der urbanen Ästhetik, die visuell und funktionell auf Einrichtungen des öffentlichen Lebens ausgerichtet war, und stellt mit diesem exemplarischen Fall ein noch heute gültiges „Modell der Stadt“ (S. 88) vor, dessen beträchtliche Wirkung auf Kunst und Literatur er vor dem Hintergrund der „Tableaux Parisiens“ Baudelaires beschreibt. Mit dem sich im Stadtleben erfahrenden Subjekt der Moderne (siehe S. 91) wird der Bogen zu Hans-Joachim Krenzkes Beitrag zu Søren Kierkegaards Bedeutung für die Moderne geschlagen, die am Beginn seines Artikels mit „Die Macht, die das Selbst setzt“ (S. 97) umschrieben wird.

Über Rainer Wilkes streng musikwissenschaftliche Analyse des Œuvres Cèsar Francks, die abschließend den Musiker im Sinne eines Rückgriffs auf die klassischen Muster am Beginn des Jahrhunderts als „ausgewiesenen Vertreter dieser Zeit“ (des 19. Jahrhunderts, W.T.) (S. 130) bezeichnet, wird mit Xenia Fischer-Loocks Analyse des Werkes des Malers Édouard Manet im Kontext einer „Ästhetik des modernen Lebens“ (S. 135) dagegen ein großer Revolutionär der Kunst ins Zentrum gerückt. Hinsichtlich der Charakterisierung des Werkes dieses Pioniers im Sinne des „moderne[n] Lebens als Produkt einer künstlichen Kultur“ (S. 140) wäre über die Einbeziehung der Textzeugnisse Baudelaires und Flauberts eine stärkere Berücksichtigung der Forschungsliteratur zu den zentralen Themen der Moderne wie Instabilität, Subjektivität und Zerstreuung, wie sie seit Benjamin und Kracauer zu konstatieren ist, nützlich gewesen. In Fischer-Loocks Artikel erfolgt mit dem Verweis auf die urbanistischen Veränderungen Haussmanns ein Hinweis (S. 143-145) auf Phänomene, wie sie Berghahn in seinem Beitrag vorstellt. Diese Art inhaltlicher Vernetzung stellt allerdings eine Ausnahme in vorliegendem Band dar.

Über Marion Kobelt-Grochs Beitrag zu Leopold von Sacher-Masoch, dessen auffällige literarische Vielseitigkeit eine gute Gelegenheit geboten hätte, die Frage der im 19. Jahrhundert in ein neues Stadium tretenden Geschlechterbeziehungen mit anderen Beiträgen (etwa zu Lou Andreas-Salomé) in Beziehung zu setzen, verläuft das Panorama zu Friedrich Nietzsche (mit einem Artikel von Claus-Artur Scheier), dessen fundamentale Bedeutung für die Geisteswelt des 19. und 20. Jahrhunderts wohl eine eigene Kategorie darstellt. Scheier macht auf der Basis eigener Studien Nietzsches „produktiven Menschen“, der den „reproduktiven“ überwunden habe (S. 195), zu einem zentralen Thema seiner Ausführungen. In biographischer Hinsicht schließt hier sinnvoll Ursula Welschs Artikel zu Lou Andreas-Salomé an, deren Persönlichkeit einerseits unter dem zentralen Aspekt der Frauenemanzipation steht und andererseits den Bogen zur Psychoanalyse schlägt.

Mit Arne Zerbsts Beitrag zu Stefan George, dem „absolute[n] Dandy“ (S. 221), wird der Band abgerundet und mit dem diesem Dichter eigenen „Ästhetizismus“ (S. 223), der auch in den Fotografien des Schriftstellers markant ins Auge sticht, wiederum ein Zentralbegriff des Jahrhunderts ins Zentrum gestellt. Allerdings tragen Georges Kult des Handwerks (wie auch jener der englischen „Arts and Crafts“-Bewegung) sowie seine Vorbehalte gegenüber maschineller Produktion dezidiert modernitätsfeindliche Züge. Georges „Modernität“, von Zerbst mit der eigenartigen Formulierung einer ver- und überfeinerten „Übersteigerung des Bestehenden“ (S. 234) charakterisiert, ist somit von jener der (klassischen) Avantgarde zu differenzieren, was einmal mehr die methodische Notwendigkeit einer Pluralisierung des Begriffs „Moderne“ in der Zeit um 1900 unterstreicht.

Die Zielsetzung des vorliegenden Bandes, anhand wichtiger Persönlichkeiten Schlaglichter auf die vielschichtige Modernität des 19. Jahrhunderts zu werfen, kann als gelungen bezeichnet werden. Allerdings ergibt sich zugleich auch die Frage nach der methodischen Treffsicherheit einer solchen Vorgehensweise sowie das prinzipielle Problem, ab welcher Kategorie geistesgeschichtlicher Relevanz herausragender Persönlichkeiten nicht automatisch von „paradigmatischen“ Figuren die Rede sein muss. Das 19. Jahrhundert mit seinem auch literarisch reflektierten (Carlyle, Burckhardt) „Kult“ bedeutsamer Personen hat der Konzeption der vorliegenden Publikation in gewissem Sinne Vorschub geleistet und dadurch die notwendige Problematisierung einer dezidiert personenzentrierten Sichtweise leider zurücktreten lassen.

Anmerkungen:
1 Theodor Heuss, Deutsche Gestalten. Studien zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1947.
2 Wolfgang J. Mommsen, 100 zeitgenössische Biographien berühmter Personen des 19. Jahrhunderts, Mannheim 1981.
3 Wolf Lepenies, Auguste Comte. Die Macht der Zeichen, München 2010.
4 Werner Telesko, Das 19. Jahrhundert. Eine Epoche und ihre Medien, Wien 2010.
5 Andreas Daum, Wissenschaftspopularisierung im 19. Jahrhundert. Bürgerliche Kultur, naturwissenschaftliche Bildung und die deutsche Öffentlichkeit, 1848-1914, 2. Aufl., München 2002.