G. Ammerer u.a. (Hrsg.): Armut auf dem Lande

Titel
Armut auf dem Lande. Mitteleuropa vom Spätmittelalter bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts


Herausgeber
Ammerer, Gerhard; Schlenkrich, Elke; Veits-Falk, Sabine; Weiß, Alfred Stefan
Erschienen
Anzahl Seiten
227 S.
Preis
€ 35,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Inga Brandes, Fachbereich III – Neuere und Neueste Geschichte, Universität Trier

Die Mehrheit derjenigen, die heute in extremer Armut – mit weniger als einem Dollar pro Tag – überleben müssen, findet sich in ländlichen Gesellschaften.1 Doch wie sich in solchen Gesellschaften die Armutsdynamiken entwickelt haben, welche sozialen Beziehungen sich unter Armutsgefährdung auflösen, welche Rolle etwa Landreformen, Infrastrukturprojekte oder die Struktur der lokalen Gesellschaft bei der Bekämpfung dieser ländlichen Armut spielen, das wurde bislang kaum empirisch untersucht. Kurz: Ausmaß und Bedeutung der ländlichen Armut in globaler Perspektive stehen in einem krassen Missverhältnis zu deren Erforschung – auch in der Geschichtswissenschaft. Für Historiker/innen hält die Armutsforschung zudem besondere Herausforderungen bereit: Je näher die Fragestellung an das soziale Milieu, den Alltag und die Familien der Armen heranrückt, desto schwieriger gestaltet sich das Aufspüren und Erschließen geeigneter Quellenbestände. Existierten solche Dokumente, so wurden sie oft nur durch glückliche Zufälle oder engagierte Einzelpersonen überliefert.2 Umso begrüßenswerter ist der thematische Fokus des zu besprechenden Bandes: Seine neun Beiträge explorieren das Bedingungsgefüge, in dem während der Frühen Neuzeit Krankheit, Mittellosigkeit und Gewalt von verschiedenen Typen von Armen auf dem Land subjektiv erfahren wurde. Es handelt sich um eine Sammlung von kontextsensiblen Beobachtungen zu einer empirisch gestützten Erfahrungsgeschichte von Armut. Vielschichtige soziale Exklusionen und Ungleichheit in ländlichen Gesellschaften werden erhellt. Die Beiträger/innen sehen sich nicht nur Gesetze, Verordnungen und Herrscher-Nachlässe an, sondern wenden sich der historischen Rekonstruktion der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Lebenswelt verschiedener Gruppen von Armen zu.

Helmut Bräuer, dem der Band gewidmet ist, eröffnet mit einem programmatischen Beitrag zur Mentalitätsgeschichte der Armut in der Frühen Neuzeit, der mit der Arbeitshypothese schließt, während der Frühen Neuzeit habe sich eine spezifische „Landarmenmentalität“ (S. 30) herausgebildet. Diese Überlegung wird von den folgenden Beiträgen nur insofern aufgegriffen als mit den mobilen, den weiblichen, den alten und kranken Armen jeweils spezifische Gruppen ins Zentrum der historischen Fallstudien gerückt werden.

Gerhard Ammerer beschäftigt sich in einem sehr instruktiven Aufsatz in vergleichender Perspektive mit der Raumkonzeption und den Zeitökonomien von Vagierenden im 18. Jahrhundert. Klug schließt er sperriges Quellenmaterial auf, um die individuelle Handhabung der vielzitierten Ökonomie des Notbehelfs zu rekonstruieren. So folgten etwa umherziehende Bettler festen Routen, deponierten Besitztümer an den von ihnen begangenen Strecken, hielten sich während des Bettelns an etablierte Kommunikationsmuster und pflegten regelmäßig Austausch mit den Sesshaften. Der Autor widerlegt schlüssig die These, dass Fahrende in Habsburg heimatlose und entwurzelte Individuen gewesen seien. Mit dem Sozialprofil von aktenkundig gewordenen Bettlern und Vaganten, ihren Einkommensmöglichkeiten und Überlebensstrategien befasst sich auch Sebastian Schmidt am Beispiel der englischen Grafschaft Essex. Im kursorischen Vergleich mit Fürsorgepolitiken in Territorien des Alten Reichs zeigt er überzeugend auf, dass die Fürsorgepraktiken im frühneuzeitlichen Essex als „relativ großzügig“ (S. 138) gelten können. Sein Beitrag lenkt den Blick besonders auf das Potenzial des problemorientierten historischen Vergleichs für die historische Armutsforschung. Die Konzentration auf Personen und soziale Gruppen, so Schmidt, eröffne der historisch vergleichenden Wirtschafts-, Sozial- und Kulturgeschichte neue Forschungsfelder wie zum Beispiel Praktiken der Mobilität und Vernetzung, der Raumwahrnehmung, der Ernährung, der Zeitökonomie oder der Transfer lokalen Wissens.

Die Beiträge von Otto Ulbricht, Sabine Veits-Falk und Elke Schlenkrich beleuchten jeweils das Spannungsfeld zwischen vielfachen Exklusionen, denen bettelnde, arme oder armutsgefährdete Frauen ausgesetzt waren, und partiellen Inklusionschancen, etwa durch Gelegenheitsarbeiten.

Christina Vanja, Alfred Stefan Weiß und Martin Scheutz widmen sich der Gruppe der kranken und alten Armen. Alfred Stefan Weiß geht es um eine Sozialgeschichte der armen Insassen von Hospitälern in der Steiermark und Kärnten im langen Zeitraum zwischen 1350 und 1920. Er zeichnet die Versorgung von einzelnen Armen in Institutionen verschiedener Größe nach und setzt die Versorgungsleistung immer wieder ins Verhältnis zur sozioökonomischen Umgebung der Spitäler. Weiß betont, dass es wechselnde Regime und Praktiken im Umgang mit Armen und Kranken gab, gleichzeitig aber eine Kontinuität der genutzten Gebäude. Daran schließt er Fragen nach der historischen Prägekraft dieser Stein gewordenen Form und Funktion an. Erneut wird die lückenhafte Überlieferungssituation zum Ausgangspunkt für Überlegungen, wie die Geschichte einer Fürsorgekultur in Kärnten und der Steiermark, die die Praktiken der Armen und der Bevölkerung über einen langen Zeitraum hinweg berücksichtigt, zu schreiben sei. Martin Scheutz nimmt am Beispiel Wiens die Praxis der Deportation alter Armer aufs Land in den Blick. Die Stadt Wien betrieb zur Versorgung ihrer würdigen Armen ein räumlich weit gefächertes Netz von Versorgungshausanstalten. Das damit verbundene System der Deportation von alten Armen auf das Land diente unter anderem dazu, die Armut in der Residenzstadt unsichtbar zu machen.

Dass der Band schwerpunktmäßig die Geschichte der Armen und der Armut in ländlichen Gesellschaften thematisiert, und gleichzeitig die historische Kategorie Raum stärker berücksichtigt, ist zu begrüßen. Allerdings überzeugt Helmut Bräuers Hypothese, dass sich zwischen dem 15. und 19. Jahrhundert eine spezifische Landarmenmentalität herausgebildet habe, auch nach der Lektüre der Beiträge nicht. Zu blass bleiben in seinen einleitenden Erwägungen insbesondere die agrarhistorischen Bezüge und Begriffe. Die umfassenden konzeptionellen Probleme, die eine diachron und europäisch vergleichende Sozialgeschichte subjektiver Armutserfahrungen in Europa aufwirft, sind zudem andernorts bereits systematischer und ausführlicher dargelegt worden.3 Richtig bleibt der Appell an die deutschsprachige Forschung der frühneuzeitlichen Soziabilität und den in ihr herrschenden vielfältigen Reziprozitätsbeziehungen noch stärkere Beachtung zu schenken.

Indem die vergangenen Lebenswelten von Armen präzise und differenziert rekonstruiert werden, widerlegen sowohl die einzelnen Beiträge als auch die Beiträge in ihrer Summe sehr überzeugend die in Handbüchern und Synthesen der deutschen und österreichischen Geschichtswissenschaft noch immer weit verbreitete These, dass Arme, Bettler und Vaganten in der Vergangenheit nur als sozial isolierte Randexistenzen analytisch zu fassen seien.4

Die konsequente kultur- und sozialhistorische Akteurszentrierung der Fragestellungen stellt eine Stärke des Bandes dar, weil sie die Erschließung neuer Quellengruppen sowie die Entwicklung innovativer Auswertungsmethoden ermöglicht. Die Konzentration auf Personen und soziale Gruppen erweist sich heuristisch unter anderem deshalb als fruchtbar, weil sie die historische Armutsforschung für die Fragen und Konzepte der Gesellschaftsgeschichte weiter öffnet. Anstatt allein die Vorgeschichten heutiger Sozialstaatlichkeit und Sozialpolitik zu untersuchen, schärfen die Beiträge den Blick für die historische Vielfalt der Überlebensstrategien von Armen und Armutsgefährdeten.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu <http://www.un.org/en/globalissues/briefingpapers/ruralpov/developingworld.shtml> (06.08.2012).
2 Das bekannteste Beispiel bietet die englische Grafschaft Essex, in der ein Archivar für die Erhaltung eines umfangreichen Konvoluts von Armenbriefen sorgte. Ausgewählte Briefe sind publiziert in: Thomas Sokoll (Hrsg.), Essex Pauper Letters 1731–1837 (=Records of Social and Economic History, New Series 30), Oxford 2001.
3 Vgl. etwa Robert Jütte, Poverty and Deviance in Early Modern Europe (=New Approaches to European History), Cambridge 1994; Andreas Gestrich / Lutz Raphael / Herbert Uerlings (Hrsg.), Strangers and Poor People. Changing Patterns of Inclusion and Exclusion in Europe and the Mediterranean World from Classical Antiquity to the Present Day (=Inklusion/Exklusion. Studien zu Fremdheit und Armut von der Antike bis zur Gegenwart 13), Frankfurt am Main u.a. 2009.
4 Instabile Beschäftigungsverhältnisse betrafen im 19. Jahrhundert und 20. Jahrhundert einen großen Teil der habsburgischen bzw. österreichischen Bevölkerung. Auch die Forschergruppe der Wiener Historikerin Sigrid Wadauer zeigt, dass es nicht sachgerecht ist, wenn die geschichtswissenschaftliche Forschung von Verarmung und Armut betroffene Personen a priori als Randexistenzen betrachtet. Vgl. ausführlicher dazu „The Production of Work. Welfare, Labour-market and the Disputed Boundaries of Labour (1880–1938)“ <http://pow.univie.ac.at/> (05.10.2012).