E. Gunzburger Makas u.a. (Hrsg.): Capital Cities

Titel
Capital Cities in the Aftermath of Empires. Planning in Central and Southeastern Europe


Herausgeber
Gunzburger Makas, Emily; Damljanovic Conley, Tanja
Reihe
Planning, History and Environment Series
Erschienen
London 2009: Routledge
Anzahl Seiten
286 S.
Preis
£ 65.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tim Buchen, Zentrum für Antisemitismusforschung, Technische Universität Berlin

Im Zeitalter des Nationalismus wurden aus vielen Provinzstädten Europas neue Hauptstädte. So wie die meisten Nationalstaaten und Nationen aus Imperien hervorgingen, sind auch deren kulturelle und politische Zentren vielfach mit der Geschichte der übernationalen Reiche Mittel-, Südost- und Osteuropas verwoben. Der vorliegende Band geht der Frage nach, wie sich nationale, imperiale und urbane Konzepte in Architektur und Planung der wachsenden Städte und Metropolen im Herrschaftsgebiet von Osmanischem und Habsburgischen Reich niederschlugen. Mit der Verbindung von Stadtgeschichte und imperialer Geschichte ist das Buch in einem der lebendigsten Forschungsgebiete der letzten Jahre angesiedelt. Aufgrund des intendierten Vergleichs von Mittel- mit Südosteuropa füllt es zugleich eine Forschungslücke, da zu den Städten der Balkanhalbinsel nur sehr wenige Studien vorliegen.

Im ersten Teil stellen neun Autorinnen sieben Städte Südosteuropas auf jeweils 16 Seiten vor: Athen (Eleni Bastéa), Belgrad (Tanja Damljović Conley), Bukarest (Maria Raluca Popa und Emily Gunzburger Makaš), Cetinje (Maria Dragićević und Rachel Rossner), Sofia (Eltiza Stanoeva), Tirana (Gentiana Kera) und Ankara (Zeynep Kezer). Im zweiten Teil untersuchen sieben Autorinnen und Autoren Hauptstädte Mitteleuropas: Budapest (Robert Nemes), Prag (Cathleen M. Giustino), Bratislava (Henrieta Moravčiková), Krakau und Warschau (Patrice M. Dabrowski), Zagreb (Sarah A. Kent), Ljubljana (Jörg Stabenow) und Sarajevo (Emily Gunzburger Makaš).

Die Einführung der Herausgeberinnen ist zugleich eine Zusammenschau der Ergebnisse der folgenden Aufsätze und unternimmt einen Vergleich Mittel- und Südosteuropäischer Hauptstädte. Die Anordnung folgt der Chronologie, nach der die Städte im Laufe des 19. und 20. Jahrhunderts zu politischen Hauptstädten wurden. Mit der urbanen Umstrukturierung und der betonten Abkehr vom imperialen Peripheriestatus hin zu einem nationalen Zentrum war die Hoffnung verbunden, in den Kreis der europäischen, „zivilisierten“ Nationen einzutreten. Hierin unterschied sich die erste Welle der Nationalstaatswerdung vor dem Ersten Weltkrieg nur wenig von jener nach dem Kalten Krieg, in der auch Bratislava, Zagreb und Sarajevo zu politischen Hauptstädten ihrer Nationen wurden. Unter Nationalisierung der neuen Hauptstädte konnte die Suche nach einem typischen, nationalen Baustil verstanden werden, häufiger ging es jedoch darum, im internationalen Vergleich der Metropolen Europas ein würdiges Bild abzugeben. Die Capitale wurde zur Visitenkarte der Nation und kritisch auf nationale Repräsentation, aber auch auf sanitäre Bedingungen, Wohnkomfort und Infrastruktur hinterfragt.

Paris und Wien dienten in beiden Subregionen als Vorbilder für die Nationalisierung und Modernisierung der jungen Hauptstädte obgleich die Voraussetzungen durch die Herrschafts- und Urbanisierungspraxis der beiden in den Blick genommenen Imperien gänzlich verschieden waren. Die Städte des Osmanischen Reiches verfügten über keine Tradition städtischer oder bürgerlicher Selbstverwaltung. Der städtische Raum war hier nicht markant von seinem Umland unterschieden, weil es keine mittelalterliche Stadtmauer gab. Gerade diese jedoch führte zu der Dichte mitteleuropäischer Städte, die wiederum zu einer Voraussetzung für urbanes Leben in der Moderne wurde. Mit dem Bevölkerungswachstum im 19. Jahrhundert griffen die mitteleuropäischen Städte über ihre alten Grenzen hinaus. Das Eingemeinden des Umlandes, die Einrichtung von Verkehrswegen, Elektrizität und Kanalisierung verlangten ebenso nach Stadtplanung, wie durch das Schleifen der Stadtmauern exklusiver Raum für neue Architektur entstand. Die Wiener Ringstraße setzte Politik, bürgerliche Hochkultur und Reichtum in eine sinnstiftende Beziehung. Auch die Besucher und Bewohner Zagrebs, Krakaus, Prags und anderer Städte sollten den Zusammenhang erfahren, wenn sie aus der Straßenbahn oder beim Flanieren die repräsentativen Ensembles bestaunten, die als Symbole nationaler Kultur und Staatlichkeit beschrieben und verstanden werden sollten. Die meisten dieser in historisierenden Stilen gehaltenen Gebäude waren in Mitteleuropa noch unter imperialer Herrschaft gebaut und später umfunktioniert worden. Zwar waren auch die Städte im Osmanischen Reich, mit Ausnahme von Ankara, regionale Verwaltungssitze gewesen; aufgrund seiner Schlankheit aber hatte der Staat jedoch so gut wie keine Architektur hinterlassen. Das Beispiel Sarajevo verdeutlicht den Unterschied an architektonischer und bürokratischer Präsenz der beiden Imperien am Besten, denn die bosnische Metropole war zunächst der osmanischen, ab 1878 der habsburgischen Herrschaft unterworfen: Bei Übernahme der Verwaltung von Bosnien und der Herzegowina durch die Habsburger befanden sich lediglich 120 Vertreter des osmanischen Staates in der gesamten Provinz. Drei Jahre später waren allein in Sarajevo 600 Beamten der Doppelmonarchie tätig, zum Zeitpunkt der Annexion 1908 wirkten bereits 10 000 Staatsrepräsentanten in der gesamten Provinz.

Durchweg sahen sich die in Westeuropa graduierten Stadtplaner der südosteuropäischen Hauptstädte mit dem Problem konfrontiert, aufgrund bescheidener Bevölkerungszahlen und loser Besiedlung keine prachtvollen Boulevards errichten zu können, die seit Georges-Eugène Haussmanns Umgestaltung von Paris zur Vorstellung von einer europäischen Moderne gehörte. In der Zwischenkriegszeit reichte die Einwohnerzahl Ankaras nicht aus, um die Zitadelle durch einen durchgängig bebauten Prachtboulevard mit dem Bahnhof zu verbinden. Hinzu kam häufig der Widerstand der Einwohner gegen Eingriffe in die gewachsene Struktur der Städte. Die Bürger der bulgarischen Hauptstadt Sofia, die bei Staatsgründung 1878 gerade einmal 16000 zählten, fürchteten, dass mit der Neuordnung der Stadt durch Boulevards die soziale und ökonomische Hierarchie innerhalb der einzelnen Stadtviertel verloren ginge.

Keineswegs bedeutete die Europäisierung der Hauptstädte eine reine Imitation der westeuropäischen Metropolen, sondern meist eher eine lose Adaption, etwa des Wiener Ringstraßenmodells, an bestehende Möglichkeiten, wie die „planty“ in Krakau oder das „grüne Hufeisen“ in Zagreb beweisen. Im Laufe des 20. Jahrhunderts mehrten sich nationale Akademien und Universitäten, die eigene Stadtplaner und Architekten ausbildeten. Jože Plečnik in Ljubljana und Ödon Lechner in Budapest entwickelten eigenständige Formensprachen. Ihre Profession verblieb selbstverständlich im übernationalen Wissenschaftszusammenhang, auch wenn etwa in Krakau, Budapest und Prag Abgrenzungsversuche gegenüber Westeuropa und die Suche nach einer nationalen Architektur zu beobachten waren.

In Südosteuropa bedeutete die Nationalisierung und Europäisierung vor allem die Distanzierung von der osmanischen Vergangenheit, die oftmals mit der muslimischen Architektur gleichgesetzt wurde. Moscheen wurden abgerissen und Kathedralen errichtet. Nationalisierung äußerte sich hier in einer Christianisierung des Stadtbildes. Imperiale Architektur hingegen entstand vielfach sogar neu. In Bukarest, Sofia und Athen gelangten Staatsoberhäupter aus deutschen Adelshäusern auf den Thron. König Otto aus Bayern sorgte dafür, dass mit Leo von Klenze und Karl Friedrich Schinkel Architekten das Stadtbild der griechischen Hauptstadt mitprägten, in dem sie ironischerweise den deutschen Klassizismus zu seinem Vorbild, das heißt nach Athen trugen.

Die imposante Nevskji-Kathedrale von Sofia wurde von russischen Architekten geplant, die nach der Oktoberrevolution von 1917 ihr Land verlassen mussten. Ihr know-how war auch im orthodoxen Belgrad gefragt, wo sich das neu entstandene Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen imperiale Repräsentationsbauten zulegte, deren Formen im russischen Zarenreich beliebt gewesen waren. Die Gründung des ab 1929 offiziell Jugoslawien genannten Staates rückte die Hauptstädte der Slowenen, Bosnier und Kroaten erneut in die zweite Reihe eines übernationalen Verbundes. Das gleiche galt für die Hauptstadt der Slowakei, die nicht aus dem Schatten Prags als Hauptstadt der Tschechoslowakei heraus trat. Anders als das ebenfalls als politische Hauptstadt zur Diskussion stehende Martin, musste Bratislava zunächst noch zu einer slowakischen Stadt werden. Erst im Jahr 1919 erhielt die aus habsburgischer Zeit entweder als Pozsony oder Pressburg bekannte Stadt ihren heutigen Namen.

In Prag überlagerten sich Diskussionen um den tschechischen Charakter der Hauptstadt mit der tschechoslowakischen Staatsidee, so wie es vor dem Weltkrieg im rasant wachsenden Budapest im ungarischen Staat zu beobachten war. Leider folgen nicht alle Aufsätze den kurz angerissenen Diskursen und Interpretationen des Wandels im Stadtbild so präzise wie Robert Nemes über Budapest oder Cathleen M. Giustino in ihrem Beitrag über Prag. Einige Beiträge werten bereits die Umbenennung von Straßen und Plätzen nach dem Wechsel der Staatlichkeit als Ausdruck eines Identitätswandels, ohne die Wirkung einer solchen Umbenennung zu hinterfragen.

Nathaniel Wood konstatiert in seinem Schlusswort unter dem programmatischen Titel: „Not Just the National: Modernity and the Myth of Europe in the Capital Cities“, dass die Unterscheidung zwischen nationalen und modernisierenden, „europäischen“ Argumenten meistens schwer zu treffen sind, da beide Mythen eine große Strahlkraft auf die Vorstellungen und Ambitionen der Stadtplaner sowie der Bewohner der wachsenden Metropolen hatten. Die Vorstellung von einer Nation barg seiner Meinung nach kein größeres Identifikationspotential als die Idee von der europäischen Metropole, die durch eine Vielzahl an Praktiken und urbanen Erfahrungen Gemeinschaft stiftete. Sein Appell, nicht nur den Stadtplanern und Politikern zuzuhören, die über die Gegenwart und Zukunft ihrer Städte sprachen, sondern auch den Bewohnern, reagiert darauf, dass die meisten Aufsätze letzteres genau nicht behandeln. Die offenbar strikten Platzvorgaben der Herausgeberinnen waren in diesem Zusammenhang sicher eher hinderlich. Insgesamt aber überwiegen die Vorteile der knappen und im positiven Sinne homogenen Beiträge. Sie zeigen Probleme, Akteure und Ergebnisse der Stadtplanung auf und belegen diese mit zahlreichen Abbildungen. Die mit fünfzehn Städten große Zahl an Beispielen repräsentiert die Ähnlichkeiten von Herausforderungen durch und Unterschiede in den Antworten auf die Urbanisierung in Europa. Zu loben ist der großzügige Zuschnitt des Untersuchungszeitraums. Durch sie gewinnt auch jener Leser, der sich nicht primär für Architekturgeschichte oder Stadtplanung interessiert, Zugang zu den imperialen und nationalen Geschichten Europas im gesamten 19. und 20. Jahrhundert. Das mit Wien und Istanbul den beiden wichtigsten Hauptstädten der Imperien keine Kapitel gewidmet sind, ist mit der bestehenden reichen Literatur zu entschuldigen. Die hervorragende Einleitung und das anregende Schlusswort machen „Capital Cities in the Aftermath of Empires“ zu einem gelungenen und empfehlenswerten Sammelband.

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