Ch. Wentzlaff-Eggebert u.a. (Hgg.): Canon y Poder en America Latina

Titel
Canon y Poder en America Latina.


Herausgeber
Wentzlaff-Eggebert, Christian; Traine, Martin
Reihe
Kölner Beiträge zur Lateinamerika-Forschung
Anzahl Seiten
162 S.
Preis
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Burkhard Pohl, Seminar für Romanische Philologie, Georg-August-Universität Göttingen

Das Thema kultureller Kanonbildung stellt seit der Ideologiekritik der 1970er-Jahre und verstärkt im Gefolge der gender und postcolonial studies ein bevorzugtes Gebiet der Geisteswissenschaften dar.1 Die Wortmeldung von den ehemals geographischen und kulturellen Randbereichen der akademischen und curricularen Kanones ließ deren Öffnung oder Abschaffung zunehmend dringlicher erscheinen. Mit der Renaissance der Kultursoziologie wurde zudem in den 1990er-Jahren, etwa durch Guillory (1994) oder Casanova (1999), die Rolle der an international Kanonisierungsprozessen beteiligten Institutionen thematisiert. Harold Bloom trug mit seinem vielzitierten Western Canon (1994) zu einer weiteren Popularisierung der Debatte bis in die Öffentlichkeit der Kulturbeilagen bei. Trotz der in den 1990er-Jahren stark angewachsenen Sekundärliteratur hat allerdings "der Kanonbegriff bislang noch keine konsensfähige Bestimmung erhalten" (Worthmann 1998, S. 14), wie überhaupt die Kanonbildung immer noch als ein "wenig erforschter Vorgang" gilt (Grübel 1997, S. 18).

Der von Christian Wentzlaff-Eggebert und Martin Traine herausgegebene Band mit vier Beiträgen, die auf ein 1998 abgehaltenes Symposium der Universitäten Köln und Sevilla zurückgehen, widmet sich einem auch innerhalb der Kanonforschung weniger beachteten Bereich: dem Verhältnis von Kanonisierung und Macht in Literaturen und Gesellschaften Lateinamerikas und insbesondere Argentiniens. Er schließt damit an Fragestellungen an, die bereits von der lateinamerikanischen Literatursoziologie der 60er-Jahre (Rama, Viñas, u.a.) behandelt und vor allem im Südkegel fortgesetzt worden waren, wo sich früh eine Rezeption der britischen Cultural Studies und der Feldtheorie Bourdieus etablierte (Altamirano/Sarlo 1983). Gerade im Zusammentreffen von Nation- und Kanonbildung während des 19. Jahrhunderts bietet der spanisch-amerikanische Kontext ein prädestiniertes Untersuchungsgebiet, da im Zuge der Entkolonialisierung die Konstituierung literarischer Kanones als wesentlicher Beitrag zur Legitimation der nationalen Gemeinschaft galt (Anderson 1983, Sommer 1991, González Stephan 2002).

Drei Artikel befassen sich mit Kanonisierungsprozessen von Literatur. Zunächst nimmt Christian Wentzlaff-Eggebert (S. 8-32) einen Abriss historischer Kanondefinitionen vor. Überwogen beim Lektürekanon des Rhetorikers Quintilian die didaktische Absicht und geistige Offenheit (S. 19), so zeigt die spätantike Zusammenstellung des biblischen Kanons und die gleichzeitige Ausgrenzung apokrypher Texte bereits religiös motivierte Exklusionsmechanismen, die sich im Mittelalter fortsetzen. Mit der Bildung der Nationalstaaten und der Konkurrenz der Volkssprachen wird der einst lateinische Kanon in der Neuzeit fortwährend transformiert - beispielhaft im Spanien der Renaissance (S. 21) -, wobei die politische Instrumentalisierung der Literatur für den inneren Zusammenhalt der Nation ein wiederkehrendes Muster darstellt (S. 25). Apodiktisch bekräftigt Wentzlaff-Eggebert für die pluralen und globalisierten Gesellschaften der Gegenwart dagegen die Hinfälligkeit traditioneller Kanonmodelle. Neue Versuche zur Festschreibung eines "weißen" Kanons aufgrund individueller Geschmacksurteile, so heißt es mit Bezug auf Bloom (S. 31), seien in Ermangelung allgemeingültiger Legitimationsinstanzen zum Scheitern verurteilt.

Unter dem Begriffspaar "Canon y corpus" betrachtet Maria Caballero Wangüemert (S. 33-77) die Interdependenzen zwischen Kanonbildung und diskursiver Identitätskonstruktion in Spanischamerika seit der Kolonialzeit. Ausgangsthese ist die Rede von der spanischamerikanischen Literatur als einem "fluktuierenden Kanon" (canon fluctuyante, S. 37) infolge historisch wechselnder Prozesse von Ausgrenzung und Hereinnahme.

Nach einem ausführlichen, aber punktuellen Überblick über Diskurse kultureller Identität seit 1492 - ein Ereignis, das Caballero euphemistisch als "Feld von kultureller Begegnung, Kontakt und Konflikt" (campo de encuentro, contacto y conflicto cultural, S. 38) interpretiert -, diskutiert die Autorin die Entwicklungen seit der nationalen Unabhängigkeit. Der "koloniale Kanon ", d.h. die Tradition einer verschriftlichten, an Spanien orientierten und von Weißen verfassten Literatur (S. 56), sei im Laufe des 19. Jahrhunderts zum Konzept einer "spanischen, in Amerika geschriebenen" (S. 56) Literatur erweitert worden. Mit der "literarischen Unabhängigkeitserklärung" (Henríquez Ureña) seitens des Amerikanismus habe sich dann ein zwischen Europäismus und Essentialismus changierender nationaler Kanon konstituiert, der mit der Historiografie des frühen 20. Jahrhunderts autochthone kulturelle Ausprägungen der Oralität und des Regionalismus integriert. Ähnlich äußert sich Wentzlaff-Eggebert, demzufolge in Argentinien zwei konkurrierende, "parallele" Kanones existiert hätten (S. 24): eine Tradition des als autochthon Definierten (Gaucho-Literatur) sowie ein universalistisch ausgerichteter Kanon im Sinne des Selbstbildes einer europäischen Nation weißer Rasse.2

Caballero konstatiert für das ausgehende 20. Jahrhunderts die Revision und partielle Aufhebung dieser Kanones durch neue Tendenzen lateinamerikanistischer Literaturtheorie. Vordringlich erscheint mir ihre leider nur zum Schluss aufgeworfene Frage nach institutionellen Bedingungsfaktoren des Kanons ("Quién y en virtud de qué poder lo [el canon, B.P.] crea?", S. 74). Im Verweis auf die kanonisierende Funktion der Literaturhistoriografie, von Zeitschriften und Schriftstellern werden Aspekte der Affiliation und Positionsnahme im literarischen Feld angesprochen, die für die Gegenwart noch längst nicht erschöpfend analysiert sind. Anstatt vornehmlich von der Vereinnahmung der Literatur durch eine anonyme (politische) Macht auszugehen, wie es nicht nur Caballero zuweilen suggeriert, wäre die von Autoren wie den hier erwähnten Octavio Paz, Carlos Fuentes oder Mario Vargas Llosa praktizierte Literaturkritik auch als eigener politischer Akt zu bewerten. 3

Unter einer solch kultursoziologischen Perspektivierung fokussiert David Lagmanovich (S. 78-103) zentrale Aspekte der literarischen Kanonbildung am Beispiel der Auseinandersetzung zwischen Kanon und Avantgarde im Argentinien der Jahre 1915-30. Nach einer präzisen Begriffsdiskussion wird einmal mehr die institutionelle Etablierung eines nationalen Kanons in Argentinien des 19. Jahrhunderts umrissen. Der erst zwischen 1900 und 1930 mit der Eingliederung der Gaucho-Literatur in die nationale Tradition und der Einrichtung erster Lehrstühle für argentinische Literatur entstandene autochthone Kanon integriert Werke der Kolonialzeit sowie zeitgenössische Ausprägungen der (liberalen) Essayistik und der costumbristischen bzw. regionalistischen Literatur.

Ausgehend von einer Definition des Kanons als Ausdruck gesellschaftlicher Machtverhältnisse, werden anschließend die Positionsnahmen literarischer Gruppen in avantgardistischen (Martín Fierro) und arrivierten (La Nación) Periodika der 1920er-Jahre nachgezeichnet, in deren Ergebnis die Ablösung früherer Hegemonieautoren (Leopoldo Lugones) durch die Avantgarde um Jorge Luis Borges, Ricardo Güiraldes oder Leopoldo Marechal stand. In ihren literarischen Strategien erscheinen diese Autoren als geschickte Newcomer und ,Vatermörder', die schließlich selbst die Normen des nationalen Kanons akzeptieren: "la veneración de la pampa, el conservadurismo político, el hispanismo formal" (S. 101). Die durch die Person Borges bestimmte Entwicklung des argentinischen Kanons zeitigt für Lagmanovich eine unzulässige Verkürzung auf männliche Schriftsteller der Metropole Buenos Aires. Er plädiert indes nicht für eine Abschaffung, sondern für eine Erweiterung des Kanons um mindestens vier Autorengruppen: Frauen, Binnenland, Politische Dissidenz, experimentelle Avantgarde.

Aus soziologischem Blickwinkel untersucht Martin Traine (S. 104-62) schließlich die historische Entwicklung eines symbolisch-politischen Kanons in Argentinien und dessen Veränderungen seit 1983. Den überwiegenden Teil der Darstellung nimmt allerdings eine forschungsgeschichtliche Diskussion ein. Unter Rekurs auf Morris, Parsons, Habermas, Edelman und andere stellt Traine verschiedene Dimensionen des Komplexes politischer Symbolik dar (S. 108-38); weitere Abschnitte behandeln das Verhältnis von symbolischer Politik und Institutionen (S. 139-49) beispielsweise von Kommunikation und Manipulation (S. 150-54). Als ein Teilaspekt symbolischer Politik stelle der symbolische Kanon die "Gesamtheit politischer Symbole" (conjunto de símbolos políticos, S. 147) dar, welche wiederum als institutionalisierte, kollektiv-vereinbarte Normen definiert sind. Die Gesellschaften der Gegenwart sieht Traine erstens durch eine Neudefinition der symbolischen Kanones charakterisiert, zweitens durch einen Wandel in den "Mechanismen der Kanonisierung" (S. 156) hin zu einer "Dezentrierung der Autoritäten" (S. 157).

Dies gelte auch für Argentinien, dessen Fallbeispiel auf lediglich vier von 58 Seiten zur Sprache kommt. Das Ende der Diktatur und der Übergang zur Demokratie deuten für Traine auf einen Umbruch im politisch-symbolischen Kanon - d.h. in der Machtlegimitation ("fuentes de autoridad", S. 161) - sowie in den politischen Umgangsformen ("patrones de conducta", S. 161) - hin. Die Desavouierung der Staatsnation unter Alfonsín und Menem zugunsten einer "Ökonomisierung" des politischen Diskurses habe dazu geführt, dass nicht mehr Parteien, Politiker oder Militärs, sondern Personen des öffentlichen Lebens - Unternehmer, Fussballer, Fernsehstars - gesellschaftlichen Einfluss nähmen. Die Massenmedien als neue Machtfaktoren begünstigten die Wahrnehmung von Politik über symbolische Handlungen und damit einen neuen Stil politischer Kommunikation; gleichzeitig tragen sie zur Monopolisierung der Politikvermittlung bei. Mit anderen Worten: Die Demokratisierung und das Ende repressiver Sanktionen hatte sowohl einen Anstieg direkter Partizipation zur Folge als auch eine Ausweitung der indirekten gesellschaftlichen Kontrolle (S. 162). Literarischer und politischer Kanon in Lateinamerika, so ließe sich folgern, zeigen sich heute von ähnlichen Tendenzen der Entnationalisierung und Pluralität einerseits, der Rekanonisierung und neuen Machtkonzentration andererseits charakterisiert.

Angesichts des von Traine bemängelten Forschungsdefizits zu Argentinien ist die Kürze der diesbezüglichen Ausführungen bedauerlich: Weder die "cánones políticos hasta entonces establecidos" (S. 160) noch der "neue symbolische Kanon" der Demokratie werden deutlich profiliert. Der wichtige Aspekt einer Entdemokratisierung im Zuge der Verlagerung vom Politischen zum Ökonomischen wird nur angerissen. So weckt der Artikel das Interesse an einer weiteren Beschäftigung mit der Materie, um beispielsweise die These einer in sich stabilisierten Demokratie und eines Vertrauensverlustes der politischen Parteien (S. 161) vor dem Hintergrund der aktuellen Krise zu überprüfen.

Insgesamt stehen die Beiträge des Bandes in ihren unterschiedlichen Akzentuierungen komplementär zueinander, wobei Lagmanovich am überzeugendsten die diachronische und synchronische Darstellung kombiniert. Einige inhaltliche Redundanzen hätten vermieden werden sollen. Blooms Western Canon erhält durchweg große Aufmerksamkeit und wird allein im ersten Beitrag auf sieben von 24 Seiten behandelt. Hier zeigt sich eine Kanonisierung auch des wissenschaftlichen Diskurses, der an den provokanten Thesen eines US-amerikanischen Literaturkritikers nicht vorbei kommt, aber z.B. nicht den Namen Pierre Bourdieus erwähnt. Ferner werden die im Buchtitel vermerkten Wechselwirkungen von Kanon und Macht zwar vorausgesetzt - "todo canon cristaliza o aspira a institucionalizar interacciones de poder en la sociedad" ("Introducción", S. 4) -, selten aber am konkreten Fall illustriert. Dies gilt gerade für die Kanondebatten der Gegenwart, in deren Kontext beispielsweise zu fragen wäre, in welcher Weise die Auflösung vormals nationaler Kanones in viele "canones marginales" (S. 32) im Einklang mit Diskursen politischer und anderer Machtinstanzen steht. Damit wäre die für die Kanonforschung relevante "Frage nach den institutionellen und lebensweltlichen Kontexten von Literatur" (Assmann 1998, S. 50) aufgeworfen, die auch das akademische Feld als einen Schauplatz von Exklusionsmechanismen thematisiert. 4

Trotz dieser Einschränkungen leisten die vier Aufsätze eine informative Einführung in das komplexe Themengebiet des literarischen Kanons. Anregend sind insbesondere der interdisziplinäre Blickwinkel bei gleichzeitiger Beschränkung auf den geographischen Gegenstandsbereich Argentinien. Somit bildet der Band eine sinnvolle Ergänzung zur hierzulande wenig praktizierten Kanonforschung über Lateinamerika.

Literaturverzeichnis:
Altamirano, Carlos; Beatriz Sarlo, Literatura Sociedad, Buenos Aires 1983.
Amícola, José, Las razones de Contorno, in: Paatz , Annette; Pohl, Burkhard (Hgg.), Texto social. Estudios pragmáticos sobre literatura y cine, Berlin 2003, S. 453-59.
Anderson, Benedict, Imagined Communities. Reflections on the Origin and Spread of Nationalism, Urbana 1987.
Assmann, Aleida, Kanonforschung als Provokation der Literaturwissenschaft, in: Heydebrand 1998, S. 47-59.
Casanova, Pascale, La république internationale des lettres, Paris 1999.
González Stephan, Beatriz, Fundaciones: canon, historia y cultura nacional. La historiografía literaria del liberalismo hispanoamericano del siglo XIX, Madrid 2002.
Grübel, Rainer, Wert, Kanon und Zensur, in: Arnold, Heinz-Ludwig; Detering, Heinrich (Hgg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, 4. Aufl. 2001, S. 601-22.
Guillory, John, Cultural Capital. The Problem of Literary Canon Formation, Chicago 1993.
Heydebrand, Renate von (Hg.), Kanon-Macht-Kultur. Theoretische, historische und soziale Aspekte ästhetischer Kanonbildungen, Stuttgart 1998.
Quijada, Mónica; Bernand, Carmen; Schneider, Arnd, Homogeneidad y nación. Madrid 2000.
Sommer, Doris, Foundational Fictions. The National Romances of Latin America, Berkeley 1991.
Winko, Simone, Literarische Wertung und Kanonbildung, in: Arnold, Detering (Hgg.), Grundzüge der Literaturwissenschaft, 4. Aufl. 2001, S. 585-600.
Worthmann, Friederike, Literarische Kanones als Lektüremacht. Systematische Überlegungen zum Verhältnis von Kanon(inisierung) und Wert(ung), in: Heydebrand 1998, S. 9-29.

Anmerkungen:
1 Vgl. die Bestandsaufnahmen bei Heydebrand 1998; Winko 1997.
2 Zur Entwicklung dieses Konzepts vgl. Quijada et al. 2000.
3 Vgl. Amícola 2003, S. 455: "[E]l trabajo crítico es también un operativo político".
4 Vgl. hierzu Guillory 1993, S. 15f.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension