Schöning, Jörg; Roschlau, Johannes (Hrsg.): Film im Herzen Europas. Deutsch-Tschechische Filmbeziehungen im 20. Jahrhundert. Katalogbuch zu CineFest IV. Internationales Festival des deutschen Film-Erbes Hamburg – Berlin – Wien – Zürich. München 2007 : Edition Text + Kritik im Richard Boorberg Verlag, ISBN 978-3-88377-926-3 158 S. € 25,00

Roschlau, Johannes (Hrsg.): Zwischen Barrandov und Babelsberg. Deutsch-tschechische Filmbeziehungen im 20. Jahrhundert. München 2008 : Edition Text + Kritik im Richard Boorberg Verlag, ISBN 978-3-88377-949-2 208 S. € 21,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lars Jockheck, Hamburg

Das IV. CineFest und der es begleitende 20. Internationale Filmhistorische Kongress in Hamburg vom November 2007 widmeten sich den deutsch-tschechischen Filmbeziehungen im 20. Jahrhundert und damit einem Thema, das freiwillige und erzwungene Kooperation, Freundschaften und Konflikte umfasst. Die Veranstalter, das Hamburgische Centrum für Filmforschung CineGraph und seine Partner aus Deutschland, Österreich, der Schweiz und Tschechien verstehen „Filmbeziehungen als Gesamtheit aller Verbindungen und Bezüge zwischen den Institutionen, Organisationen und Personen, die mit der Filmproduktion und -distribution, den Filmen und dem Publikum zu tun haben“, so Johannes Roschlau im Vorwort zum Sammelband „Zwischen Barrandov und Babelsberg“ (S. 7). Es geht also in erster Linie um konkrete transnationale Berührungspunkte zwischen den benachbarten deutschen und tschechischen Filmkulturen, wobei trotz der titelgebenden Produktionsorte Prag-Barrandov und Potsdam-Babelsberg öfter auch die österreichisch-tschechischen Filmbeziehungen berücksichtigt werden. Der zeitliche Rahmen des 20. Jahrhunderts wird hingegen eng aufgefasst, nahezu ausgeblendet bleiben die Jahrzehnte vor 1918 und nach 1989.

Der Katalog zum IV. CineFest gliedert sich in drei Teile: Quellentexte aus den und über die 1920er- bis 1960er-Jahre, vorwiegend zeitgenössische und erinnernde Publizistik (S. 13-34), Filmographien von 38 während des CineFests gezeigten Filmen, die teils durch Ausschnitte zeitgenössischer Kritiken ergänzt werden (S. 36-143), sowie ein kurzer biografischer Anhang mit den Lebensläufen von zwölf Frauen und Männern, die an den gezeigten Filmen beteiligt waren bzw. mit einem Text im Katalog vertreten sind (S. 145-151). Hinzu kommt eine DVD, auf der sechs Filme und ein Filmfragment zusammengestellt wurden.

Die Auswahl der Text- und Filmquellen zeigt den Wandel deutscher Blicke auf ein imaginiertes oder tatsächliches Prag von der „Entdecker- zur Besatzerperspektive“ (S. 36), von den Anfängen vor dem Ersten bis zum Zweiten Weltkrieg. Drei Spielfilme aus den 1930er-Jahren stehen beispielhaft für das Engagement tschechischer Künstler in der deutschen Filmindustrie. Zur deutschen Okkupationsherrschaft und dem Zweiten Weltkrieg werden sowohl zeitgenössische, mehr oder weniger propagandistische Dokumentar-, Kurz- und Spielfilme aus der Tschechoslowakei, dem Protektorat und dem tschechischen Exil vorgestellt, als auch Nachkriegsfilme aus der Tschechoslowakei, der Bundesrepublik und der DDR, die an diese Zeit erinnerten. Je ein eigener Abschnitt befasst sich mit den Kooperationen und Koproduktionen zwischen deutschen und tschechischen Partnern von den 1930er- bis zu den 1970er-Jahren sowie mit deutschen Literaturverfilmungen böhmischer, Prager bzw. tschechischer Vorlagen. Hier wird besonders auf den Konflikt um die Verfilmung von Friedrich/Bedřich Smetanas Oper „Die verkaufte Braut/Prodaná nevěsta“ unter der Regie Max Ophüls im Jahr 1932 eingegangen. Die Einfuhr dieses Films, den das tschechoslowakische Handelsministerium 1933 als eine „Verballhornung der Nationaloper“ qualifizierte (S. 143), wurde durch eine nationalistische Pressekampagne in der Tschechoslowakei verhindert, die auch in Deutschland ein Echo fand (S. 128, S. 131-133, S. 140-143). Insgesamt bietet die Auswahl der Film- und Textquellen also nicht nur Anschauungsmaterial für konkrete filmische Beziehungen zwischen deutschen und tschechischen Institutionen und Personen, sondern auch für den je eigenen filmischen Blick auf den Anderen.

Der Sammelband zum 20. Internationalen Filmhistorischen Kongress unternimmt den Versuch einer diachronen Betrachtung der deutsch-tschechischen „Film-Beziehungskurve“ (S. 8). Den Rahmen dafür steckt Peter Becher in seinem einleitenden, allgemein gehaltenen Überblick zur deutschen und tschechischen Kultur in der Tschechoslowakei ab, wobei er sich auf die Zeit von Beginn des 20. Jahrhunderts bis zur Vertreibung und Zwangsaussiedlung der Deutschen nach dem Zweiten Weltkrieg konzentriert, weil danach die kulturellen Beziehungen zwischen Deutschen und Tschechen „in erster Linie Ausdruck der bilateralen Beziehungen“ zwischen der Tschechoslowakei und den deutschen Staaten gewesen seien (S. 18), die zuvor intensiven transnationalen Verflechtungen also weitgehend gekappt worden seien.

Es folgen in chronologischer Ordnung weitere 16 Beiträge, die den Zeitraum von der Zwischenkriegszeit bis zur Überwindung der Nachkriegsordnung um 1990 behandeln. Die Aufsätze von Jan-Christopher Horak, Gernot Heiss, Petr Szczepanik und Horst Claus befassen sich mit produktions-, technik- und wirtschaftsgeschichtlichen Aspekten der tschechischen bzw. tschechisch-deutsch-österreichischen Filmproduktion und -distribution der 1920er- und 1930er-Jahre. Übereinstimmend stellen sie fest, dass die tschechische Filmindustrie sich in diesen Jahrzehnten mit ihren Produktionen ökonomisch wie kulturell vor allem auf den Binnenmarkt und die eigene nationale Identität konzentriert hat, so dass bei den Beziehungen zu deutschen und österreichischen Partnern das Geschäft im Vordergrund stand. Diesen Befund bestätigt auch der folgende Beitrag von Kevin B. Johnson über tschechisch-deutsche Mehrsprachenfilme aus den Jahren 1930 bis 1938. Johnson stellt fest, die etwa 30 Produktionen in deutscher und tschechischer Fassung in diesem Zeitraum seien jeweils ausdrücklich als „rein“ deutsche bzw. tschechische Filme angelegt und beworben worden, obschon sie zugleich Zeugnis ablegten von der alltäglichen Berührung deutscher und tschechischer Kultur in den vormaligen österreichischen Kronländern Böhmen und Mähren.

Die Aufsätze von Tereza Dvořáková, Petr Bednařík und Hans-Joachim Schlegel nehmen die Verhältnisse in der Kinematografie im Protektorat Böhmen und Mährend während der deutschen Besatzungsherrschaft in den Blick und stellen heraus, dass das Bild einer nach außen hin nahezu totalen deutschen Dominanz sich durch Konflikte innerhalb der NS-Polykratie sowie durch offizielle und inoffizielle Einflüsse tschechischer Institutionen und Personen vielschichtiger und widersprüchlicher darstellt, als bisher vielfach angenommen. Besatzer und Besetzte interagierten nicht nur auf der Ebene von Befehl und Gehorsam oder Widerstand, sondern das Verhältnis musste trotz des deutlichen Machtgefälles auch immer wieder ausgehandelt werden.

Zwei Beiträge widmen sich dem Bild der deutschen Besatzungsherrschaft im Spielfilm. Während Petr Mareš die Stereotypisierung von brutalen Besatzern, hinterhältigen Verrätern und aufrechten Tschechen am Beispiel des Umgangs mit der englischen, deutschen und tschechischen Sprache im US-amerikanischen Kriegsdrama „Hangmen Also Die!“ (1943, Regie: Fritz Lang) zeigt, gibt Petr Koura einen Überblick zum Deutschenbild im tschechischen „Okkupationsfilm“ von 1946 bis 2005, wobei er neben der Dauerhaftigkeit des Stereotyps der grausamen Besatzer und verräterischen „Sudetendeutschen“ auch auf einige bemerkenswerte Ausnahmen verweisen kann, die vor allem das positive Bild einzelner deutscher, mehr noch österreichischer Wehrmachtssoldaten und Angehöriger der Besatzungsverwaltung betreffen.

Die Aufsätze von Stefan Zwicker und Elke Schieber befassen sich mit je einem der seltenen Beispiele für die filmische Behandlung der Problematik von Flucht und Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei: der westdeutschen Tragikomödie „Mamitschka“ (1955, Regie: Rolf Thiele) sowie der DDR-Filmerzählung „Hilde, das Dienstmädchen“ (1985/86, Regie: Günther Rücker / Jürgen Brauer). Zwicker stellt heraus, dass „Mamitschka“ ein weit verbreitetes Vorurteil der westdeutschen Bevölkerung aufgriff, die Flüchtlinge aus dem Osten seien keine „richtige[n] Deutschen“, es aber durch die Wendung ins Komische und die positive Darstellung einer Flüchtlingsfamilie zugleich brach (S. 144). Im Unterschied zu „Mamitschka“, der die Übernahme der NS-Ideologie durch große Teile der Deutschen wie auch durch manche Tschechen lediglich im Vorspann erwähnt, konzentriert sich „Hilde, das Dienstmädchen“, so Schieber, gemäß der antifaschistischen Tradition der DEFA ganz auf diese Vorgeschichte von Flucht und Vertreibung, in deren Verlauf sich die Deutschen am Land Böhmen „schrecklich vergangen“ hätten (S. 154) – und somit letztlich den späteren Verlust ihrer Heimat selbst verschuldeten.

Den Sammelband beschließen Beiträge von Thomas Ballhausen, Rudolf Jürschik, Ralf Forster und Volker Petzold sowie Helena Srubar über österreichische, DDR- und westdeutsche Beziehungen zur tschechoslowakischen Kinematografie von den 1960er- bis zu den 1980er-Jahren. Sie erwähnen eine Vielzahl von Transfers nicht nur zwischen den realsozialistischen Partnern, sondern auch über die Blockgrenzen hinweg – allerdings vorwiegend auf dem vermeintlich unpolitischen Feld der Avantgarde-, Animations- und Kinderfilme. Besonders Srubar betont am Beispiel der mit dem WDR koproduzierten tschechischen Kinderfilmserien, vor allem „Pan Tau“ (1969-1988), dass diese Transfers keinesfalls einseitig von West nach Ost stattfanden, sondern im Gegenteil die tschechischen Serien „als entscheidender Kulturimpuls für die Profilierung des westdeutschen Kinderfernsehens anzusehen“ seien (S. 194).

Der Gang durch ein knappes Jahrhundert deutsch-tschechischer Filmbeziehungen macht die bislang wenig beachtete Vielfalt und Ambivalenz dieser Verbindungen deutlich. Darüber hinaus werben beide Publikationen auch allgemein dafür, den engen Blickwinkel nationaler Filmgeschichtsschreibung aufzubrechen zugunsten einer erweiterten Perspektive auf die zahllosen transnationalen Bezüge, die „Film als Kollektivkunst“ (Rudolf Harms) fast zwangsläufig aufweist.

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