P. Burke: Die europäische Renaissance

Titel
Die europäische Renaissance. Zentren und Peripherien


Autor(en)
Burke, Peter
Reihe
Europa bauen
Erschienen
München 1998: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
344 S. mit Abb.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christine Tauber, Historisches Seminar der Rheiischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn

Am Anfang jedes Buches, das sich mit der Renaissance befaßt, wird Jacob Burckhardts "Cultur der Renaissance in Italien" evoziert. Das von Burckhardt bereitgestellte Reibungspotential, das seit 1860 nichts von seiner Wirkmächtigkeit eingebüßt hat, sagt mehr als jede Eloge über die Bedeutung dieses kanonisch zu nennenden Textes. Folgerichtig beginnt auch Peter Burkes Untersuchung mit der Evokation des großen Vorbildes, von dem er sich sogleich - comme il faut - in einigen Punkten distanziert. So setzt er die von nationaler Staatsbildung gefärbte Brille des 19. Jahrhunderts ab, durch die sich die Renaissance als eine Zivilisation präsentierte, "welche als nächste Mutter der unsrigen noch jetzt fortwirkt". Burke möchte "die Renaissance von der Moderne unterscheiden" (S. 14) und sie aus dem Blickwinkel des ausgehenden 20. Jahrhunderts als gesamteuropäisches Phänomen von ihrer Eingrenzung auf die Appeninhalbinsel befreien - schließlich heißt die Reihe, in der sein Buch erschienen ist, "Europa bauen".

In einer konzentrierten Einleitung reflektiert Burke seine Vorgehensweise. Sein Blick will ein "anthropologischer" sein - auch hierin Burckhardt nicht unverwandt, dessen Historiographie bekanntlich den "duldenden, strebenden und handelnden Menschen" zum Ausgangspunkt nahm und sich als "gewissermaßen pathologisch" verstand. Burke möchte durch seine fast ethnographisch zu nennende Betrachtungsweise die Andersheit der Renaissance betonen, die für den Leser zu einer "halb-fremdartigen Kultur" (S. 16) werden soll. Hiermit will er der Gefahr begegnen, vorschnell Ähnlichkeiten zwischen der Vergangenheit und der eigenen Gegenwart zu identifizieren, Brüche zu kitten und Fremdartiges im flotten Analogieschluß zu assimilieren. Er möchte Stereotypen der Fremdwahrnehmung in den Quellen aufspüren, die Frauen als Untersuchungsgegenstand natürlich nicht vernachlässigen und auch den ein oder anderen nicht ganz unmodischen Seitenblick auf eventuelle Parallelphänomene in Japan und China werfen.

Für Burke gibt es keine flächendeckende kulturelle Einheitlichkeit "der" Renaissance, er betrachtet sie vielmehr als "dezentrale Erscheinung" (S. 15), wobei neben dem obligatorischen Italien als Zentrum auch die Peripherien wie Polen, Rußland, Schottland, Schweden und - im 15. und 16. Jahrhundert durchaus als dezentral zu bezeichnen - England behandelt werden sollen. Entgegen einem allzugroßen Aufbruchsoptimismus hebt er die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen in dieser Zeit hervor: das mittelalterliche höfisch-ritterliche und das neue antikisierende Zeichensystem existieren lange Zeit neben- und miteinander. Ein neuer Denkduktus kristallisiert sich bereits in der Scholastik heraus, die dann jedoch vom Humanismus gerne zum Feindbild der Renaissanceintellektualität aufgebaut wird.

Burkes Stärke ist - dies weiß man spätestens seit seinem "Cortegiano"-Buch - die Rezeptionsgeschichte, da er sie "im Sinne eines aktiven Prozesses der Assimilation und Transformation im Gegensatz zu einer bloßen Ausbreitung klassischer und italienischer Ideen" faßt (S. 18). Rezeptionsgeschichte kann bei diesem Ansatz Aufschluß geben über den vielbeschworenen "Kulturtransfer" zwischen Süd und Nord in der Frühen Neuzeit. So möchte Burke das Braudel-Motto, das er seinem Text vorangestellt hat, als eine Art "regulative Idee" verstanden wissen, die er mit seiner Überblicksdarstellung zwar nicht einzulösen vermag, aber nie aus dem Blick verlieren möchte: "On n'a pas encore écrit, ni même tenté d'écrire, pas à pas, l'histoire complète de la diffusion des biens culturels à partir de l'Italie qui éclairerait dons et transferts d'une part, acceptations, adoptions, adaptations et refus d'autre." Verfolgt man Handelswege und Kriegsschauplätze, so kann man zum Beispiel eine eher venezianisch geprägte deutsche Renaissance von einer stark lombardisch beeinflußten französischen unterscheiden und so Aufschlüsse über regionale Stilentwicklungen gewinnen. Rezeption wird hier gleichermaßen aussagekräftig für das Rezipierte und den Rezipienten im Spiegel der von ihm praktizierten signifikanten Aneignungs- oder auch Abstossungsstrategien. Die französische Renaissance beispielsweise schwankte zwischen Italophilie und Italophobie, in Rußland verzögerte sich das Eindringen der Renaissance eben aufgrund einer solchen "kulturellen Verweigerung" (Braudel). Rezeption als genuin produktiv zu betrachten - Burke prägt hierfür den strukturell etwas unscharfen Begriff der "Brikolage" -, räumt auch endlich auf mit der unsinnigen Vorstellung vom sogenannten "produktiven Mißverständnis" und von "Fehlinterpretationen" in intellektuellen und künstlerischen Aneignungsprozessen.

Als Biotope für die Beobachtung solcher Prozesse fokussiert Burke vor allem Kleinräume, Gruppen, Zirkel und kommunikative Netzwerke. Prototypisch sind hierfür frühmoderne Institutionen wie der Hof, das Kloster, die Kanzlei, die Universität, die Akademie oder der Humanistenzirkel um Bernardo Rucellai, der in den Florentiner Orti Oricellari mündlichen Kulturtransfer und Antikentransformation auf höchstem intellektuellen Niveau betrieb. Im Humanismus verlagerte sich "das Schwergewicht [...] von der geballten Faust des Logikers, der seine Macht gebrauchte, um den Gegner niederzuschlagen, zu der offenen Hand des Rhetorikers, der sich seiner Überzeugungskraft bediente" (S. 50). Da jedoch gerade solche oralen Traditionen für den nachgeborenen Historiker kaum oder gar nicht zu rekonstruieren sind, konzentriert sich Burkes Interesse auf die textliche Überlieferung und ihre mediale Multiplikation in der Handschrift, im Druck, im Stich und in Übersetzungen. Er konstatiert hierbei im Hinblick auf diese neuen Medien einen Prozeß der Distanzierung und Dekontextualisierung von Gedanken im geschriebenen bzw. gedruckten Text, der sich rezeptionserleichternd für die jeweiligen Inhalte auswirkte. Vernachlässigt wird in dieser Mediendiskussion allerdings, daß sich - wie neuere kunsthistorische Ansätze gezeigt haben - die Thematisierung von Autorschafts- und Gattungsreflexion sowie Überlegungen zu den Produktionsmöglichkeiten von Kunst überhaupt mehr in einem autopoietischen Akt in der Malerei selbst als in der zeitgenössischen Kunstliteratur abspielen. Burkes textorientierter Ansatz birgt auch die Gefahr, Rezeptionsprozesse in der bildenden Kunst gemäß der "ut pictura poiesis"-Formel zu sehr auf bloße Traktatillustration zu reduzieren.

Burke propagiert in seiner Einleitung den subtilen Umgang mit Metaphern und den genauen, sprachanalytischen Blick auf neu entstehende Begriffe in der Renaissance - zum Beispiel den Klassiker "Wiedergeburt". Um so ärgerlicher ist es, daß sein eigener Text Opfer einer an vielen Stellen unsensiblen Übersetzung geworden ist. Zeitgenössische Wissenschaftler werden durchgängig als "Gelehrte" apostrophiert und Machiavelli und Guicciardini als "zwei der tiefsten Denker" ihrer Zeit. Leonardos "Last Supper" wird zum "Letzten Abendmahl", François Ier - was ihn sicher gefreut hätte - zum Kaiser befördert und sein Schloß in Fontainebleau mit einer "feinen Sammlung von Antiquitäten" ausgestattet. Dies mag zur Illustration dieser oft sinnentstellenden Interlinearübertragung genügen, die allein den Vorteil hat, den direkten Rückschluß auf den englischen Originaltext zuzulassen.

Nach Burkes methodisch richtungsweisenden und reflektierten Vorüberlegungen in der Einleitung enttäuscht die Lektüre der folgenden 270 Seiten den Leser leider an manchen Stellen: Die angekündigten "Fallstudien" beschränken sich zumeist auf - zugegebenermaßen beeindruckend umfangreiche - Auflistungen von Einzelbeispielen und "großen Namen". Die struktural ansetzende Mikroanalyse, die Burke selbst gefordert hatte, kommt oft zu kurz - ein zuweilen auftretendes Manko historischer Darstellungen, das schon Norbert Elias polemisch in der Einleitung zu seiner "Höfischen Gesellschaft" konstatiert hatte. Im chronologischen Kursus behandelt Burke das "Zeitalter der Wiederentdeckung" (die Frührenaissance), das "Zeitalter des Wettstreits" (die Hochrenaissance) und das "Zeitalter der Mannigfaltigkeit" (die Spätrenaissance), wobei die großen und zumeist bereits von Burckhardt abgesteckten Themen der Renaissanceforschung den roten Faden bilden: Biographik und Autobiographik (den Neologismus "Egodokumente" verwirft Burke als "bewußt vagen Begriff, der weniger Fragen aufwirft", S. 274), Porträt und Selbstporträt, Historiographie und Städtelob, die Entdeckung der Bücher, des Altertums, Amerikas und - etwas zu knapp - des Gewissens in der Reformation. Positiv hervorzuheben ist Burkes Sensibilität für Stilisierungsprozesse: Er zeichnet den Burckhardtschen "uomo universale" als Idealtypus, dem "der" Renaissancemensch in der Selbstkonzeption nacheifert und sich dessen auch bewußt ist.

Die Hochrenaissance stellt sich für Burke vor allem als Zeit des Paragone dar - in künstlerischer wie in politischer Hinsicht. Die europäischen Höfe befinden sich in einer ständigen Konkurrenzsituation und versuchen mit allen Mitteln, sich in der Herrschaftsrepräsentation zu überbieten. In diesen Wettstreit hätte man auch den Manierismus als Stilphänomen einordnen können, den Burke eher in die Traditionslinie des Burlesken, Antiklassischen stellt: "eine Stilrichtung, die man als Reaktion auf die Harmonie, gegen die Proportion und selbst gegen die Vernunft verstand und die eine spirituelle und politische Krise zum Ausdruck bringen sollte" (S. 134). Zu den interessantesten Passagen von Burkes Buch gehört das Kapitel über die Spätrenaissance, in dem die "Veralltäglichung" einer ursprünglichen Elitekultur nachgezeichnet wird. Burkes anthropologischem Ansatz entsprechend, rücken hier nicht nur materielle Zeugnisse des Alltagslebens in den Vordergrund, sondern es werden vor allem kulturelle Praktiken wie Studieren, Messen, Kopieren, Nachahmen, Sammeln und Reisen behandelt. In der Spätrenaissance hat der renaissancehafte Habitus seinen Höhepunkt der Akzeptanz erreicht, was Burke an der Ausweitung des Rezeptionsverhaltens auch auf Ägyptisches, Jüdisches, Keltisches, Gotisches und überhaupt Mittelalterliches festmacht. Kanonbildung und Unterlaufen des Kanons gehen Hand in Hand. "Zeitalter der Mannigfaltigkeit" meint eben auch den "Konflikt der Verfahrensweisen, Regeln einerseits aufzustellen, andererseits aber sie zu brechen" (S. 137).
Faßt man kulturelles Handeln der Renaissance derart abstrakt als Modus der Wiederbelebung und Wiederverwertung von Überliefertem, so verwundert es nicht, daß Burke von einem Fortleben der Renaissance auch über die von ihm bereits sehr großzügig gesetzte Epochengrenze des Jahres 1630 hinaus ausgeht. Im Ausblick des letzten Kapitels bettet er die Renaissance als "Klassizismus" ein in eine Traditionslinie, die zu anderen -ismen der Rezeption führt: Neopalladianismus, Historismus, Expressionismus, sogar Futurismus. Sie alle stellen Projektionen der Bedürfnisse ihrer jeweiligen Gegenwart unter dem Vorwand der "renovatio" dar. Damit aber wären wir wieder bei unserem Ausgangspunkt, Jacob Burckhardt, angelangt, der in seiner Vorlesung "Über das Studium der Geschichte" sagte: "Eine Eigentümlichkeit höherer Kulturen ist ihre Fähigkeit zu Renaissancen. Entweder ein oder dasselbe oder ein später gekommenes Volk nimmt mit einer Art von Erbrecht oder mit dem Recht der Bewunderung eine vergangene Kultur teilweise zu der seinigen an." Und bezogen auf sein eigenes, das 19. Jahrhundert, fuhr er fort: "Es besteht eine großartige, allseitige, stillschweigende Abrede, ein objektives Interesse an Alles heranzubringen, die ganze vergangene und jetzige Welt in geistigen Besitz zu verwandeln."

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