W. Schmidt-Dengler: ... das fortgeschrittendste Land, ohne es zu wissen

Cover
Titel
"... das fortgeschrittendste Land, ohne es zu wissen". Unbewusster Avantgardismus aus Österreich


Autor(en)
Schmidt-Dengler, Wendelin
Reihe
Österreich - Zweite Republik. Befund, Kritik, Perspektive
Erschienen
Innsbruck 2009: StudienVerlag
Anzahl Seiten
112 S.
Preis
€ 9,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Christoph Leitgeb, Institut für Kulturwissenschaften und Theatergeschichte, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien

Dieses Buch bleibt ein notwendig uneingelöstes Versprechen, weil es Unmögliches versucht: Auf nicht einmal hundert Seiten wird ein Überblick der Literaturgeschichte Österreichs nach 1945 skizziert. Zugleich sind diese Seiten ein Vermächtnis von Wendelin Schmidt-Dengler, der wie kein anderer Germanist die öffentliche Wahrnehmung eben dieser Literatur gefördert und mit seinem Engagement geprägt hat, von Michael Rohrwasser postum herausgegeben. Veröffentlicht ist der Band in der Reihe „Österreich-Zweite Republik. Befund, Kritik, Perspektive“, die unter anderem durch die Publikation der „Wiener Vorlesungen“ Anstöße zu einem kritischen Diskurs über den gegenwärtigen Zustand der österreichischen Republik geben möchte.

Ist dieser schmale Band nur eine abrisshafte Version der „Bruchlinien“ Schmidt-Denglers, seiner „Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990“?1 Die Kürze der neuen Publikation verschärft die Problematik eines solchen Überblicks und stellt sie noch deutlicher aus. Einerseits positioniert sich das Buch gegen eine Tendenz der Germanistik, durch die Dekonstruktion von Begriffen wie „Nationalliteratur“, „Autorschaft“ oder „Autonomie des Textes“ die Erzählbarkeit von Literaturgeschichte so weit zu verkomplizieren, dass das Projekt Literaturgeschichte selbst obsolet wird. Andererseits vermeidet das Werk den umgekehrten Versuch, zugunsten konventioneller Literaturgeschichtskonstruktion die fragwürdig gewordenen Begriffe unkritisch in ihrer alten Funktion fortzuschreiben: Die österreichische Literaturgeschichte wird also nicht einseitig als die Geschichte ihrer Autorinnen und Autoren, die Geschichte von Medien, die Geschichte von Institutionen oder die Geschichte national spezifischer, literarischer Motive begriffen. Schmidt-Dengler schiebt die Entscheidung zwischen dem Einerseits der Theorie und dem Andererseits der Erzählbarkeit der Geschichte auf und versucht, sie ironisch vorläufig und offen zu halten: Jede mögliche eindeutige Entscheidung zwischen den Alternativen verdächtigt er der Ideologie. Die Problematik seiner Gratwanderung bestimmt das Buch bis in Formulierungen.

Zunächst vermeidet es der Autor, das „Österreichische“ genauer zu spezifizieren, das implizit doch den Korpus besprochener Texte und Autoren begründet: Schon der Untertitel löst das Vorhaben einer „österreichischen“ Literaturgeschichte kakanisch auf, indem er es mit dem Rätsel verknüpft, ob und wie es so etwas wie einen „unbewussten Avantgardismus“ überhaupt geben kann. Explizit wird das Vorhandensein der spezifisch „österreichischen“ Literatur lediglich in der „Tatsache“ vorausgesetzt, dass sie „auf ganz andere Bedingungen reagiert und unter gesellschaftlichen Aspekten auf ganz andere Fragen antwortet, als die im engeren Sinne deutsche…“ (S. 18). Schmidt-Dengler bezieht sich folglich auch nur in Einzelstellen auf literaturwissenschaftliche Versuche, dieses spezifisch Österreichische zu fassen, etwa auf Claudio Magris’ „Der habsburgische Mythos“ (S. 50 f.), Ulrich Greiners „Der Tod des Nachsommers“ (S. 73) oder auf Thesen vom „antidialektischen und antihegelianischen“ Charakter der österreichischen Philosophie mit ihrer „Sprachskepsis“ (S. 51). Ziel dieser Bezugnahmen ist jedes Mal, verbreitete Verallgemeinerungen um die „Rückwärtsgewandtheit“, „Veränderungsscheu“ und politische „Handlungshemmung“ österreichischer Literatur zu relativieren.

Mehr entspricht es Schmidt Denglers Ansatz schon, Literatur über ihren institutionellen statt ihren nationalen Zusammenhang zu beschreiben, wobei er natürlich auch die Wichtigkeit der deutschen Verlagslandschaft als Bezugspunkt für österreichische Schriftsteller herausstreicht (S. 15): Einige der Kurzkapitel des Buches skizzieren Literaturgeschichte unter dem Aspekt eines medialen Zusammenhanges von literarischen Zeitschriften oder als Geschichte von Gruppenbildungen und Interessensvertretungen. Für die unmittelbare Nachkriegszeit wird die Bedeutung von Periodika betont, etwa der Zeitschrift „Plan“, den Jahrbüchern „Stimmen der Gegenwart“, später „Forum“ und „Wort in der Zeit“, für die Gegenwart „manuskripte“, „Literatur und Kritik“ und „Wespennest“, um nur einige der von Schmidt-Dengler erwähnten Publikationsorgane zu nennen. Auch diese Darstellungen verallgemeinert Schmidt Dengler nicht durch medientheoretische Überlegungen zur öffentlichen Funktion solcher Zeitschriften, obwohl er andernorts die Möglichkeit eines solchen Zugangs betont hat.2 Ähnliches gilt für die Beschreibung von Schriftstellergruppen und Interessensvertretungen von Autoren: Die Gruppe 47 als Bezugspunkt für österreichische Autorinnen und Autoren wird ebenso nur kurz skizziert wie „Wiener“ (S. 40f.) und „Grazer“ Gruppe (S. 57f.), österreichischer Pen und Grazer Autorenversammlung (S. 70f.).

In zahllosen Arbeiten hat Schmidt-Dengler zu Schriftstellern wie Ernst Jandl, H.C. Artmann, Thomas Bernhard oder Heimito von Doderer publiziert und deren Rezeption teilweise entscheidend beeinflusst und gefördert. In diesem Buch werden sie auf höchstens drei Seiten portraitiert. Viele andere Autoren wie Franz Innerhofer und Gernot Wolfgruber („Arbeiter, Bauern, Knechte“, S. 75–77) finden sich unter ebenso kurzen, motivisch beziehungsweise auch sozialgeschichtlich orientierten Kapiteln zusammengefasst: Unter der Überschrift „Wiederkehr der Geschichte“ (S. 82–84) zum Beispiel finden sich auf knapp drei Seiten Kurzkommentare zu Ingeborg Bachmanns „Malina“, Ernst Jandls „Aus der Fremde“, „Marie-Thérèse Kerschbaumers „Der weibliche Name des Widerstandes“, Gerhard Roths „Archive des Schweigens“ und Marianne Fritz’ „Dessen Sprache du nicht verstehst“ . Allein das zeigt, wie wenig es Schmidt-Dengler darum geht, einen thematischen Rahmen durch eine umfassende Analyse repräsentativer Texte zu füllen. Er lotet in solchen Kapiteln viel eher versuchsweise Zusammenstellungen aus, die ihrerseits ein bestimmtes Licht auf die Texte werfen. Entsprechend kennzeichnet er literaturwissenschaftliche Perspektiven auch mit der Metaphorik des „Licht-“ oder „Leuchtkegels“ der Betrachtung (S. 21, S. 82) oder des „Durchschimmerns“ von Themen (S. 87).

Manchmal wird die Verdichtung dieser Versuche und ihrer Voraussetzungen zu groß: Dann zeigt sich plötzlich eine Umständlichkeit in Formulierungen, die symptomatisch ist, obwohl in ihr vielleicht auch die Problematik einer postumen und nicht mehr autorkorrigierten Ausgabe steckt: „Das Argument, dass es gleichgültig sei, von wem und unter welchen Umständen die Werke verfasst worden seien, da allein die Qualität zähle und es als obsolet zu gelten habe, die Texte auf Grund ihrer Nationalität zu bewerten, sollte seine Gültigkeit bewahren, aber gerade bei Texten von Qualität ist die Frage nach dem Zusammenhang, dem sie ihre Entstehung verdanken, von einem Erkenntnisinteresse bestimmt, das sich doch in Bezug auf den gesellschaftlichen und politischen Rahmen, innerhalb dessen sie zu lesen sind, kundig machen muss“ (S. 18). Manchmal findet die Beschreibung den Ausweg in ein vielleicht rettendes Bonmot: So wird der Geschmack deutschsprachiger Kurzprosa nach 1945 kurz charakterisiert als „Mischung aus Ernest Hemingway und Franz Kafka: harter Realismus im existentialistischen Dress“ (S. 37).

Wer über solche Zitate den essayistischen Charakter des Buches insgesamt angreifen möchte, hat jedoch seinen Ernst missverstanden: Insgesamt erscheint der Essayismus, mit dem Schmidt-Dengler Verbindungen herstellt, symptomatisch für seine strategische Position gegenüber der Problematik von Literaturgeschichte. Er weiß um die Fruchtbarkeit von Theorie und wehrt sich gleichzeitig gegen ihre Verabsolutierung, die Lektüre vereinnahmt. Diese Position erlaubt es Schmidt-Dengler, dem Durchschnittsleser eine Stimme zu geben. Von diesem unterscheidet er sich prinzipiell nicht dadurch, wie er liest, sondern wie umfassend seine Belesenheit ist. Er möchte seinen Leserinnen und Lesern viel weniger erklären, wie sie ein bestimmtes Buch zu lesen haben, sondern was sie alles lesen könnten, um sich ein ausgewogeneres Urteil über österreichische Literaturgeschichte zu bilden. Das Buch eignet sich also kaum für ein Theorie-Seminar, ist aber voller Anregungen für literaturgeschichtliche Fragestellungen und auch für den Literaturunterricht in Schulen.

Anmerkungen:
1 Wendelin Schmidt-Dengler, Bruchlinien. Vorlesungen zur österreichischen Literatur 1945 bis 1990, Salzburg 1996.
2 Inzwischen hat eine Innsbrucker Forschergruppe einen über tausendseitigen Überblick allein für die Zeit von 1970 bis 2004 vorgelegt: Ruth Esterhammer / Markus Köhle / Fritz Gaigg (Hrsg.), Handbuch österreichischer und Südtiroler Literaturzeitschriften 1970–2004, Innsbruck 2008.

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