W. Beilenhoff u.a. (Hrsg.): Der gewöhnliche Faschismus

Cover
Titel
Der gewöhnliche Faschismus. Ein Werkbuch zum Film von Michail Romm


Herausgeber
Beilenhoff, Wolfgang; Hänsgen, Sabine
Erschienen
Berlin 2009: Verlag Vorwerk 8
Anzahl Seiten
335 S.
Preis
€ 24,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Lars Karl, Institut fuer Geschichtswissenschaften, Humboldt-Universität zu Berlin

Im Jahr 1966 kam der Dokumentarfilm „Der gewöhnliche Faschismus“ von Michail Romm (1901–1971) in die sowjetischen Kinos. Diese anspruchsvolle Auseinandersetzung mit den gesellschaftlichen Herrschaftsmechanismen im Nationalsozialismus lockte die sowjetischen Zuschauer in Scharen, in den ersten elf Monaten sahen über 20 Millionen Menschen diesen Film. Die sowjetische Kulturbürokratie stand diesem überraschenden Erfolg indes eher mit Skepsis und wachsendem Misstrauen gegenüber – das Begleitbuch zum Film wurde schon bald von der Zensur zurückgehalten, die geplante TV-Version nie umgesetzt. Romm beklagte sich daraufhin in einem Brief an Brežnev bitter darüber, dass ein antifaschistisches Buch in der Sowjetunion nicht erscheinen könne – vergebens, denn das Projekt konnte zu Lebzeiten des Regisseurs in der Tat nicht mehr realisiert werden.

Erst vierzig Jahre nach dem ersten Versuch einer Publikation ergriffen der Verlag „Seans“ in St. Petersburg und das Kulturwissenschaftliche Kolleg der Universität zu Köln die Initiative, das mittlerweile historische Buchprojekt zu Ende zu führen und – unter Hinzuziehung zeitgenössischer Dokumente und aktueller Analysen – zu editieren.1 Federführend für die nun vorliegende deutsche Ausgabe zeichnen dabei die Bochumer Filmwissenschaftler Wolfgang Beilenhoff und Sabine Hänsgen, die in Zusammenarbeit mit der Drehbuchautorin Maja Turovskaja in einer opulenten Dokumentation Hintergrundinformationen zum Film und zeitgenössische Dokumente zur Rezeption aus der Sowjetunion, der Bundesrepublik und der DDR zusammen getragen haben.

Breitesten Raum nimmt dabei das seinerzeit von der Zensur verbotene Foto-Text-Buch zum Film im originalen, vom Regisseur entworfenen Layout ein, anhand dessen entsprechend der 16 Filmkapitel zentrale Standbilder, dazugehörige Sprecherkommentare und Autorenbemerkungen in einer dichten Montage rekonstruiert werden können. Künstlerische Freiheit erlaubten sich die Herausgeber dagegen in einer durchgehend schwarzen Hintergrundgestaltung der Druckseiten – ein Kunstgriff, die dem Werkbuch selbst filmische Dimension verleihen soll: „Wie aus dem Dunkel eines Kinosaals tauchen die Bilder aus der Schwärze der Druckseite auf“ (S. 12). Um das Foto-Text-Buch herum gruppieren sich zeitgenössische Berichte und Essays des Regisseurs Michail Romm sowie der Drehbuchautoren Maja Turovskaja und Jurij Chanjutin, die die äußerst komplexe Produktionsgeschichte des Films zu durchleuchten versuchen. Etwa anderthalb Jahre lang hatten die Beteiligten rund zwei Millionen Meter deutsches Wochenschau- und Kulturfilmmaterial gesichtet, welches 1945 von der Roten Armee nach der Konfiszierung der Bestände des ehemaligen Reichsfilmarchivs nach Moskau überführt worden war. Durch das Hinzuziehen verschiedenster Fotodokumente und einer auf Kontrasten beruhenden, mit stark subjektiven Kommentaren versehenen Filmmontage gelang es auf eine für damalige Verhältnisse völlig neuartigen Weise, die bloße rituelle und im Rekurs auf zeitgenössische marxistische Geschichtsbilder formulierte Ablehnung des Faschismus zu überwinden und ein stark psychologisierendes Portrait des Nationalsozialismus zu schaffen, dessen Wirkung sich auch der heutige Betrachter bisweilen kaum entziehen kann. Im Unterschied zu den meist allzu direkt und phraseologisch angelegten sowjetischen Propagandaerzeugnissen der Zeit nimmt Romms Dokumentarfilm mitunter einen ironischen Ton an, etwa wenn die nationalsozialistische „Schädellehre“ mit Aufnahmen prominenter Naziführer konfrontiert wird. Zudem verfolgte der Regisseur offenbar das Ziel, durch eine verfremdete Sicht auf den Faschismus eine neue analytische Perspektive auf den traumatischen Komplex der eigenen totalitären Vergangenheit zu gewinnen – schließlich war Romm durch seine Spielfilme „Lenin im Oktober“ (Lenin v oktjabre, SU 1937) und „Lenin im Jahre 1918“ (Lenin v 1918 godu, SU 1939) selbst stark an der medialen Etablierung des Lenin- und Stalinkults in der Sowjetunion beteiligt gewesen. In der Tat provoziert der Film mit seinen Bildern einer grotesken Führerverehrung, permanenter Massenspektakel und martialischer Militärparaden fast unvermeidlich den Vergleich mit dem Stalinismus.

Besonderen Stellenwert in der angeführten historischen Materialsammlung nehmen die zeitgenössischen Presserezensionen aus der Sowjetunion und den beiden deutschen Teilstaaten ein, da in DDR und Bundesrepublik „Der gewöhnliche Faschismus“ mitunter recht unterschiedlich wahrgenommen wurde. Während der Film im Westen des Öfteren als kommunistische Propaganda diffamiert und erst nach langem Lamento sowie den erklärenden Vorreden Eugen Kogons 1968 im ARD-Fernsehen ausgestrahlt werden durfte, konnten die Filmkritiker der DDR-Presse beruhigt darauf hinweisen, dass es sich hier um ein abgeschlossenes Kapitel der Geschichte handele und die im realen Sozialismus gepflegte deutsch-sowjetische Freundschaft alle Ostdeutschen kollektiv aus der Schuld entlassen habe. Allerdings wurde der Film nach seinem großen Erfolg auf dem Leipziger Dokumentarfilmfestival im Jahre 1965 schon sehr bald per Anruf aus dem ZK abgesetzt und blieb bis zur Wende unter Verschluss – auch die Funktionsträger in Ost-Berlin scheinen sich des subversiven Potentials von „Der gewöhnliche Faschismus“ durchaus im Klaren gewesen zu sein.

Eine Reihe von Essays behandelt schließlich einige aus heutiger Sicht relevante historiografische und medientheoretische Aspekte, die mit Romms Filmprojekt in Verbindung stehen. Thematisiert werden in diesem Zusammenhang die Geschichte des Reichsfilmarchivs (Rolf Aurich) und der Status von Romms Werk in der Tradition von Kompilationsfilmen, die sich mit Nationalsozialismus und Holocaust auseinandersetzen (Jörg Frieß). Eine ausführliche Einleitung der Herausgeber widmet sich zudem der historischen und ästhetischen Einordnung von „Der gewöhnliche Faschismus“, wobei neben Fragen der intermedialen Korrelation von Film und Buch, Film und Fotografie, Bild und Ton auch das Zusammenspiel von visueller Montage und stimmlicher Performanz des mündlichen Autorenkommentars Erwähnung finden. Die graphisch aufwendig gestaltete Edition verhandelt damit nicht nur ein Fallbeispiel, sondern stellt eine grundsätzliche Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten filmischer Relektüren und dem Umgang mit faschistischen und totalitären Bildern dar. Auch wenn eine Gesamtbibliographie der zitierten Literatur leider fehlt, runden eine ausführliche Filmografie und ein detailliertes Verzeichnis aller für die Edition verwendeten Text- und Bildquellen die Benutzerfreundlichkeit des Bandes ab.

Anmerkung:
1 Ljubov‘ Arkus (Hrsg.), «Obyknovennyj fašizm». Šedevry sovetskogo kino, St. Petersburg 2006.

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