K. Gestwa: Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus

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Titel
Die Stalinschen Großbauten des Kommunismus. Sowjetische Technik- und Umweltgeschichte, 1948-1967


Autor(en)
Gestwa, Klaus
Reihe
Ordnungssysteme - Studien zur Ideengeschichte der Neuzeit, Bd. 30
Erschienen
München 2010: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
660 S.
Preis
€ 84,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Roman Köster, Historisches Institut, Universität der Bundeswehr München

Staudämme sind Symbolbauten, die wie wenige andere die Bezwingung der Natur durch Macht und die Technik repräsentieren. Klaus Gestwa setzt sich in seiner Tübinger Habilitationsschrift mit den „Stalinschen Großbauten des Kommunismus“ auseinander. Dabei handelt es sich um den 1948 beschlossenen Bau vier gigantischer Staudammprojekte, die einen wesentlichen Beitrag zur Elektrifizierung der Sowjetunion leisten sollten. Der Autor bezieht sich damit auf ein Thema, das in der Geschichtswissenschaft bereits aus unterschiedlichen Blickwinkeln behandelt wurde. So hat David Blackbourn Staudammprojekte vor allem unter einer umweltgeschichtlichen Perspektive untersucht, während Wolfgang Schivelbusch die amerikanischen Dammbauten während des New Deal als Beispiel für die von ihm verglichenen "Symbolbaustellen" heranzieht. Diese interpretiert er als autoritäre Machtdemonstrationen des Staates, nachdem Letzterer sich während der Hochphase der Weltwirtschaftskrise als unfähig erwiesen hatte, das Wohl seiner Bürger zu beschützen. Staudämme lassen sich insofern nicht allein als technische Artefakte, sondern als Ausdruck eines bestimmten Staatsverständnisses und staatlicher Repräsentation verstehen. Es mussten enorme Mittel für ihren Bau ausgegeben werden und sie banden eine große Menge an Arbeitskräften, die in häufig abgelegenen Gebieten miteinander zurechtkommen mussten. Sie bieten also eine Fülle von Anknüpfungspunkten für politik-, umwelt-, technik-, kultur-, sozial- und wirtschaftsgeschichtliche Fragestellungen, und es zeichnet Gestwas faszinierende Beschreibung ganz wesentlich aus, dass er sich dem Thema gewissermaßen „von allen Seiten“ nähert.

Nach einem historischen Überblick über die Geschichte wasserwirtschaftlicher Großprojekte bis 1947 beschreibt der Autor zunächst die politischen Entscheidungsprozesse, die zu der Errichtung der Staudämme führten. Überzeugend stellt er die Option für die Großbauten aus dem Kontext der Endphase der Stalinschen Herrschaft dar. Unter der Ägide von Stalins Nachfolger, Nikita Chruschtschow, wurden die begonnenen Projekte weitergeführt, auch wenn dessen Begeisterung eher alternativen Technologien galt, vor allem der Atomkraft.

Im folgenden Kapitel wird die ökonomische und technikgeschichtliche Dimension der Großbauten thematisiert. Selbstverständlich musste auch die planwirtschaftlich organisierte Wirtschaft des Sowjetstaats mit knappen Ressourcen kalkulieren und die Staudammbauten banden erhebliche Mittel über einen langen Zeitraum. Wie bei vielen anderen Großprojekten wurden auch hier die Kosten überschritten, die Bauphasen dauerten weitaus länger als geplant und es traten erhebliche praktische Schwierigkeiten auf. Im Gegensatz zu vielen anderen Projekten dieser Zeit können die Großbauten nach Gestwa jedoch nicht einfach als ökonomischer Misserfolg betrachtet werden. Zwar wurden auch hier Bauzeit und Kosten massiv überschritten, jedoch leisteten die Staudämme in der Tat einen substanziellen Beitrag zur Elektrifizierung der Sowjetunion, die nun auch stärker die ländlichen Regionen im Schatten Moskaus erreichte. So wurden Ende der 1960er-Jahre immerhin rund 20% der sowjetischen Energieerzeugung aus Wasserkraft geleistet.

Anschließend wendet sich der Autor der medialen Dimension der Großbauten zu, ausgehend von der Beobachtung, dass der Beitrag der Staudämme zur Energieerzeugung nur die eine Seite der Medaille war. Zugleich stellten sie Inszenierungen dar, die den Triumph der Technik über die Natur und damit die Aufbauleistung des Sowjetregimes symbolisieren sollten. Deswegen wurde ein immenser propagandistischer Aufwand betrieben, die Großbauten als genuine Leistung der Sowjetunion darzustellen. Aus diesem Grund wurde auch darauf geachtet, dass ihre Architektur nicht einfach funktional war, sondern in ihrer Monumentalität diese Aussage zusätzlich unterstrich. So wurde beispielsweise Stalin auf Plakaten dargestellt, wie er mit einem Federstrich eine Sumpflandschaft in ein kultivierbares Gebiet verwandelte. Schriftsteller reisten zu den Baustellen und schrieben über ihre Erfahrungen, wobei der zum Teil grausame Arbeitsalltag jedoch meist ausgespart blieb. In zeitgenössischen Romanen dienten die Großbauten häufig als Hintergrund für die Verknüpfung politischer und individueller Ent- und Verwicklungen.

In einem ausführlichen Kapitel befasst sich Gestwa anschließend mit den Großbaustellen selbst und ihrem Arbeitsalltag. Ein großer Teil der Arbeitskräfte waren Zwangsarbeiter aus dem Gulag-System und mussten unter äußerst harten Bedingungen leben. Der Autor betont allerdings, dass zumindest die Sterblichkeit in den 1950er-Jahren deutlich zurückging – jedoch weniger aus menschenfreundlichen Motiven, sondern hauptsächlich aus ökonomischen Überlegungen heraus. Abseits der Zwangsarbeit stellten die Baustellen auf der anderen Seite auch soziale Experimentierfelder dar. Hier kamen Menschen unterschiedlicher Herkunft zusammen und mussten sich in weit abgelegenen Gebieten miteinander arrangieren, wobei die Arbeitsbedingungen teilweise katastrophal waren. Zwar sahen etwa weibliche Fachkräfte, insbesondere Ingenieurinnen, hier Karrieremöglichkeiten, insgesamt blieben die Baustellen jedoch stark männlich dominiert. Alkoholmissbrauch und sexuelle Belästigungen gehörten dabei zum Alltag genauso wie die häufig erfolglosen Bemühungen, die Arbeiter zu disziplinieren.

Im letzten Kapitel werden schließlich die Auswirkungen der Staudämme auf die direkte Umwelt beschrieben. Durch die Aufstauung des Wassers veränderte sich das regionale Klima, die Ufer hatten mit Erosion zu kämpfen. Teilweise wurden auch ganze Dörfer überflutet, ohne dass ausreichend Ausweichquartiere vorhanden gewesen wären. Hier wagt der Autor auch einen Ausblick auf spätere Zeiten, indem er in einem knappen Abriss die Geschichte der sowjetischen Diskussion über den Umweltschutz wiedergibt, die besonders in den 1980er-Jahren an Fahrt gewann.

Besonders spannend an dem Buch ist, wie Gestwa dem Leser verschiedene Dimensionen der Stalinschen Großbauten erschließt. Damit vermeidet er konsequent die gerade in der Umweltgeschichte häufig noch vorherrschende Einseitigkeit, die Geschichte diskursanalytisch allein als ein „Reden über Großprojekte“ zu analysieren. Eine solche „kulturalistische“ Herangehensweise ist Gestwa durchaus nicht fremd, jedoch erschöpft sich seine Herangehensweise nicht darin, was der Darstellung gut tut. Sehr klar kommt heraus, wie Staudammprojekte der machtstaatlichen Repräsentation dienten und damit deutlich machten, dass es der Sowjetstaat war, der die Fürsorge für das Wohl seiner Bürger garantierte, den kollektiven Willen der Sowjetbürger zusammenband und in Aktion verwandelte. Damit wird eine kulturelle Dimension des kalten Krieges angesprochen, die sicherlich einer vergleichenden Darstellung wert wäre. Denn während sich im Westen die Staaten nach dem Zweiten Weltkrieg allem Anschein nach mit Großprojekten eher zurücknahmen, blieb die von Gestwa diagnostizierte Mischung aus utopischer Überheblichkeit und „Verzweiflungstriumphalismus“ der Sowjetunion viel stärker einem Technikkult verhaftet, der seine Wurzeln vor allem in den 1920er-Jahren hatte. Die noch in den 1930er-Jahren zu beobachtende Konvergenz zwischen West und Ost wich somit einer zunehmenden Divergenz in der staatlichen Selbstrepräsentation.

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