M. Lenoe: The Kirov Murder and Soviet History

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Titel
The Kirov Murder and Soviet History.


Autor(en)
Lenoe, Matthew E.
Reihe
Annals of Communism Series
Erschienen
New Haven, CT 2010: Yale University Press
Anzahl Seiten
832 S.
Preis
$ 55.00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Bernd Bonwetsch, Ebeltoft Dänemark

Am 1. Dezember 1934 ermordete Leonid Nikolaew, ein arbeitsloses Parteimitglied, den Leningrader Parteisekretär Sergej Kirow auf dem Weg zu seinem Büro im Smolnyj. Im Zusammenhang mit der sofort einsetzenden, gezielten Verfolgung ehemaliger Oppositioneller und den Moskauer Schauprozessen tauchten Gerüchte auf, dass Stalin den Mord selbst angeordnet haben könnte, um unter dem Vorwand der Bekämpfung von Terrorismus mit politischen Gegnern aufzuräumen. Seit der Abrechnung Chruschtschows mit Stalin in seiner „Geheimrede“ auf dem 20. Parteitag verdichteten sich dann Indizien und Vermutungen, wonach Stalin mit Kirow einen als „gemäßigt“ geltenden, populären Rivalen habe ausschalten lassen, weil dieser ihn nach dem Wunsch einiger Partei-Funktionäre als Generalsekretär der KPdSU(B) ersetzen sollte. Angeblich hätten auf dem 17. Parteitag, dem „Parteitag der Sieger“, im Januar 1934 sogar mehrere Hundert Delegierte gegen Stalins Wahl ins Zentralkomitee gestimmt, während Kirow praktisch einstimmig gewählt worden sei. Ferner sei der Mörder Nikolaew bereits mehrfach in der Nähe Kirows als auffällig festgenommen, aber wieder freigelassen worden – zumindest einmal sogar unter Rückgabe seiner Pistole. Schließlich sei mit der als Unfall kaschierten Ermordung des Leibwächters von Kirow am Tage nach dem Mord, und zwar auf dem Wege zum Verhör durch Stalin, der sich selbst intensiv in die Untersuchung einschaltete, ein möglicherweise sogar beteiligter Zeuge beseitigt worden. All dies fügte sich zum Bild eines von Stalin in Auftrag gegebenen und ausgenutzten politischen Mordes zusammen.

Die Merkwürdigkeiten um den Mord an Kirow und die nach und nach bekannt gewordenen Indizien, die aus vertrauenswürdig scheinenden Quellen in der Partei selbst kamen, wirkten so überzeugend, dass vieles davon als Tatsachen in die Literatur einging und manch ein Historiker die Urheber- oder zumindest Mitwisserschaft Stalins am Kirow-Mord praktisch als bewiesen ansah. Das gilt in erster Linie für Robert Conquest, aber auch für Robert Tucker und Amy Knight. Tatsächlich geklärt waren der Mord und seine engeren und weiteren Begleitumstände jedoch noch keineswegs. Im Gegenteil: der Kirow-Mord beschäftigte die Geschichtswissenschaft weiter, wobei sich Parallelen zum Reichstagsbrand und seinen Folgen in Deutschland beinahe zwangsläufig aufdrängten: ein verurteilter und geständiger Einzeltäter, aber viele Ungereimtheiten im rekonstruierten Tatablauf und vor allem Folgen in Form von Ausnahmegesetzen, Ausweitung der Befugnisse von Sicherheitsorganen und politischen Schuldzuweisungen, die die Tat als Vorwand für die Verfolgung politischer Gegner wie gerufen, ja wie gemacht erscheinen ließen.

Ebenso wie in der Frage des Reichstagsbrandes standen und stehen sich auch hinsichtlich des Mordes an Kirow die Auffassungen schroff gegenüber. Besonders J. Arch Getty hatte bedenkenswerte quellenkritische Argumente gegen die angeblichen Beweise und Indizien für Stalins Beteiligung am Kirow-Mord und deren Hintergründe ins Feld geführt. Allerdings ist ihm in dieser Hinsicht vielleicht eine gewisse Voreingenommenheit zu attestieren, denn die von ihm konstatierte Nichtbeteiligung Stalins am Kirow-Mord passt nur zu gut in sein Bild von der generell nicht herausragenden Stellung Stalins in Kreise der sowjetischen Parteiführer in den dreißiger Jahren. In Erweiterung und Vertiefung der Argumente Gettys dokumentiert und analysiert Matthew E. Lenoe, Associate Professor of History an der University of Rochester, nun ohne erkennbare Präferenz buchstäblich alle wesentlichen Materialien, auf denen bisher Aussagen zum Kirow-Mord und zur Urheberschaft Stalins basieren. Neben Unterlagen zum „Vorleben“ Kirows und Nikolaews sind dies vor allem:
1. Untersuchungsakten vom Dezember 1934, soweit sie der 1956 gebildeten ZK-Kommission vom KGB zur Verfügung gestellt wurden;
2. Allgemeine Dokumente zum „Großen Terror“, die im Zusammenhang mit dem Kirow-Mord von Bedeutung sind;
3. Aussagen von Emigranten, Dissidenten und „Insidern“;
4. Unterlagen der ZK-Kommission, die 1956/57 den Fall untersuchte;
5. Unterlagen der Parteikontrollkommission, die 1960/61 den Fall durch eine Arbeitsgruppe unter Vorsitz Olga Schatunowskajas erneut aufrollen ließ;
6. Unterlagen weiterer Untersuchungen der Parteikontrollkommission 1961-1967;
7. Materialien einer 1988 eingesetzten Kommission des Politbüros, die sich mit der „Repression“ in der Stalin-Zeit insgesamt und im Zuge dessen auch mit dem Kirow-Mord befasste.

Lenoe kommt zu dem an sich kaum überraschenden Ergebnis, dass die Untersuchungen des Kirow-Mordes seit Dezember 1934 in unterschiedlicher Weise immer Teil innerparteilicher Auseinandersetzungen gewesen sind. Ihr Ergebnis hat insbesondere unter Stalin, aber auch unter Chruschtschow darunter gelitten, dass bestimmte Vorgaben über die zu Beschuldigenden gemacht wurden. Ging es zunächst darum, den Mord linken und rechten Oppositionellen anzulasten und dies in den Schauprozessen der 1930er-Jahre entsprechend auszunutzen, so ging es nach Stalins Tod um Argumente in den persönlichen Machtkämpfen in der Parteiführung. Der Unterschied lag darin, dass es zu Stalins Zeiten eindeutige Vorgaben gab, denen die Untersuchungsergebnisse – und sei es unter Einsatz von Folter – entsprachen. Nach Stalins Tod waren die Vorgaben weniger eindeutig, die Beeinflussung der Zeugen weniger massiv und die Auswertung der Ergebnisse sowohl innerhalb der Untersuchungskommissionen als auch in der Parteiführung unterschiedlich. Sahen die einen Stalins Urheberschaft als bewiesen an, wozu auch Chruschtschow neigte, so bezweifelten es andere. Letztlich überwogen schon vor der Absetzung Chruschtschows die Zweifel an der Urheberschaft Stalins am Kirow-Mord, und es setzte sich der Wunsch durch, sowohl diese Frage als auch die des Stalinismus überhaupt der öffentlichen Diskussion zu entziehen. Lenoe kann überzeugend belegen, dass es nicht etwa darum ging, im Zuge einer „Restalinisierung“ die angeblich erwiesene Täterschaft Stalins zu vertuschen – ein Eindruck, der bei der öffentlichen Diskussion des Falles während der Perestroika entstehen konnte.

Lenoe stellt in umsichtiger und minutiöser Auswertung aller Unterlagen und Umstände vielmehr fest, dass alle angeblichen Beweise und Indizien für ein politisches Interesse Stalins an der Ausschaltung Kirows oder gar für eine direkte Beteiligung am Mord der Überprüfung nicht standhalten und auf Vermutungen, Gerüchten und Hörensagen beruhen. Das gelte auch für die Aussagen von Emigranten, Dissidenten und „Insidern“, die nicht nur tendenziös, sondern vor allem unzuverlässig, nicht nachprüfbar, aber in vielen Fällen auch nachweislich falsch sind – nicht zuletzt deshalb, weil sie ebenfalls auf Informationen aus dritter Hand beruhen und Gerüchte oder Hörensagen wiedergeben. Insbesondere betrifft das die Behauptungen, dass Stalin Kirow als gemäßigten Rivalen fürchtete oder fürchten musste, dass auf dem 17. Parteitag mehrere Hundert Delegierte gegen Stalins Wahl ins ZK stimmten oder dass Parteisekretäre aus der Provinz die Ablösung Stalins als Generalsekretär durch Kirow vorgeschlagen hätten. Auch sei Leonid Nikolaew weder vor dem Mord an Kirow mehrfach festgenommen, noch sei ihm eine Pistole abgenommen und wieder zurückgegeben worden. Schließlich sei der Leibwächter Kirows nicht ermordet worden, sondern tatsächlich bei einem Unfall mit einem Lkw ums Leben gekommen.

Lenoe kann, wie er selbst feststellt, den Fall Kirow nicht endgültig klären. Ihm waren nicht nur die Dokumente des KGB-Archivs (des heutigen FSB-Archivs) unzugänglich, sondern diese enthalten offenbar auch einige Lücken. Dennoch kann man ihm folgen, wenn er auch aufgrund eines 2007 in der Zeitung „Wremja nowostei“ veröffentlichten Interviews der Historikerin Julia Kantor mit der Direktorin des Petersburger Kirow-Museums, die alle 58 Aktenbände des KGB zum Kirow-Mord einsehen konnte1, feststellt, dass der ersten, 1956 gebildeten ZK-Kommission zur Untersuchung des Kirow-Mordes vom KGB offenbar keine Schlüsseldokumente vorenthalten wurden und dass man deshalb auch kaum auf neue, aussagefähige Dokumente hoffen könne. Insofern ist seine Aussage berechtigt, dass alle bekannten und geprüften Beweise und Indizien darauf hinauslaufen, dass Nikolaew ein Einzeltäter war, dass Stalin allerdings den Mord so nutzte, als ob er ihn selbst in Auftrag gegeben hätte.

Anmerkung:
1 Tat’jana Sucharnikova, My nagnali takoj veličajšij podobajuščij revoljucii strach, in: Vremja novostej 29.11.2007, <http://vremya.ru/2007/219/13> (1.11.2011).

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