Geschichte der Rekonstruktion - Konstruktion der Geschichte

Geschichte der Rekonstruktion - Konstruktion der Geschichte

Veranstalter
Architekturmuseum der Technischen Universität München in der Pinakothek der Moderne
Ort
München
Land
Deutschland
Vom - Bis
22.07.2010 - 31.10.2010

Publikation(en)

Nerdinger, Winfried; in Zusammenarbeit mit Markus Eisen und Hilde Strobl (Hrsg.): Geschichte der Rekonstruktion - Konstruktion der Geschichte. . München 2010 : Prestel Verlag, ISBN 978-3-7913-5092-9 (Buchhandelsausg.) 512 S., 363 Farb- und 396 SW-Abb. € 69,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Rudolf Fischer, Zentralinstitut für Kunstgeschichte, München

Beim großen Erdbeben 1934 wurden in der nepalesischen Residenzstadt Bhaktapur Hunderte von Bauten zerstört, darunter auch zwei (in der Ausstellung dokumentierte) Kultgebäude der newarischen Stadtkönigsherrschaft. Während der Bhairava-Tempel, erbaut 1717, in den unmittelbar darauffolgenden sechs Jahren wiedererrichtet wurde, musste die Wiederherstellung des Cyasilin Mandap, eines Pavillons auf dem königlichen Platz, bis 1990 warten. Bis dahin diente ein kleines hölzernes Podest als Erinnerung an den Pavillon, in dem ursprünglich neben der Huldigung einer Kultfigur wohl Lesungen und Versammlungen des Königs stattgefunden hatten.

Als 1987 der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl bei seinem Staatsbesuch in Nepal auch eine Besichtigung der Königsresidenz Bhaktapur plante, sollte als Gastgeschenk für das nepalesische Volk der Cyasilin Mandap wiedererrichtet werden. Vermittler und Ausführer dieses Rekonstruktionsprojektes waren der deutschen Architekturhistoriker Niels Gutschow und der österreichische Architekt Götz Hagmüller, die beide in Bhaktapur lebten. Ihr vorrangiges Ziel war es, mit der Rekonstruktion des Pavillons das ursprüngliche Raumgefüge der Platzanlage vor dem Königspalast wiederherzustellen. Fotos europäischer Reisender dienten als Grundlage; zudem konnten die Architekten zur Hälfte auf Originalteile zurückgreifen. Jene restlichen Teile, über deren ursprüngliche Gestalt sich nur mehr mutmaßen ließ, sollten sich entsprechend der für progressive Denkmalpfleger seit 1964 verbindlichen Richtlinie, der Charta von Venedig, von der „architektonischen Komposition abheben und den Stempel unserer Zeit“ tragen.1 Im Laufe der Rekonstruktionsarbeiten mussten die Architekten jedoch feststellen, dass sie mit ihren denkmalpflegerisch-akademischen Prinzipien in der kanonisierten Kunstauffassung der Bhaktapurer Bevölkerung auf Ablehnung stießen. Nun setzte ein Umdenken ein: Man ließ fehlende ikonografische Details von den Zimmerleuten, die in überlieferter Handwerksweise arbeiteten, nach ihren Vorstellungen neu entwerfen; neugestaltete Bauelemente wurden nicht erkennbar abgehoben. Gutschow schreibt dazu im Katalog (S. 198): „Es war klar, dass diese Vorgehensweise ein Sakrileg bedeutete. Endlich fühlten wir uns von den Lehrmeinungen unseres Studiums befreit, endlich waren wir in Nepal angekommen!“ Im Rückblick bedauert der Architekturhistoriker sogar, dass die Dachstreben des Pavillons keine „völlig neu erfunden[e]“ Ikonografie erhielten (ebd.).

Niels Gutschow, der sich zusammen mit Werner Durth grundlegend mit dem deutschen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg beschäftigt hat2, berichtet im Ausstellungskatalog somit von einem Erfahrungsprozess, den sicher auch der Direktor des Münchner Architekturmuseums Winfried Nerdinger nachvollziehen kann. Als jahrelanger Kritiker von Rekonstruktionsprojekten bekennt er sich nun zu einem gemäßigteren Standpunkt.3

Seit 20 Jahren hat Nerdinger Material zu geplanten und durchgeführten Rekonstruktionen zusammengetragen; für seine Ausstellung „Geschichte der Rekonstruktion – Konstruktion der Geschichte“ konnte er so eine Vielzahl von Beispielen bereitstellen. Den Besucher erwartet in München auf 1.000 Quadratmetern Ausstellungsfläche eine überwältigende Fülle von Anschauungsmaterial zum Thema. Rund 300 Beispiele wiedererrichteter Bauwerke von der Antike bis zur Gegenwart und aus ganz verschiedenen Weltregionen belegen eindrucksvoll, dass Rekonstruktion kein Einzelfall ist, sondern zu allen Zeiten praktiziert wurde. Zugleich leistet die Ausstellung in zweierlei Hinsicht Aufklärungsarbeit: Zum einen schafft sie Klarheit im Dschungel der Begrifflichkeiten und Phänomene, die sich unter dem Stichwort „Rekonstruktion“ versammeln lassen (Kopie, Nachahmung, Rückbau etc.; siehe im Katalog das Glossar auf S. 478f.). Zum anderen entwirft sie durch die Analyse der unterschiedlichen Formen, Kontexte und Beweggründe von Rekonstruktionen ein differenziertes Bild des komplexen Gesamtphänomens. In diesem Licht wird einmal mehr die Fragwürdigkeit jeder pauschalen Pro- oder Contra-Vereinnahmung des Themas deutlich, und es wird die Aufmerksamkeit des Betrachters für die jeweils relevanten Zeitschichten und Entscheidungsprozesse geschärft.

Winfried Nerdinger sowie seine Kuratoren Markus Eisen und Hilde Strobel vermochten mit ihrer akribischen Recherche erfolgreich Ordnung zu schaffen und haben auf eine chronologische Reihung erfolgter Baumaßnahmen zum Glück verzichtet. Die Ausstellung gliedert sich vielmehr in zehn Themenbereiche, die den unterschiedlichen Motiven und Sinnzusammenhängen gewidmet sind, welche sich hinter den rekonstruktiven Maßnahmen jeweils ausmachen lassen – etwa politische, religiöse, memoriale oder rituelle. Zu jedem Themenbereich werden ausgewählte Bauten als Fallbeispiele mit Fotografien, Stichen, Plänen, Filmen und Modellen ausführlich dokumentiert. Einen Eindruck von der immensen Anzahl durchgeführter Rekonstruktionsmaßnahmen gibt das durch die gesamten vier Räume der Ausstellung laufende Fotoband mit rund 200 Kurzporträts in Dreierfolge (ursprünglicher Zustand – Zerstörung – Rekonstruktion).

Als weltweit größte Rekonstruktion eines Flächendenkmals gilt der Wiederaufbau der Warschauer Altstadt, die 1944 durch eine systematische Vernichtungsaktion der deutschen Besatzer nahezu komplett zerstört worden war. Damit wollten die Nationalsozialisten auch den polnischen Staat und dessen Kultur auslöschen, wie Arnold Bartetzky im Katalog erläutert (S. 280ff.). Die Polen fassten nach Kriegsende einen klaren und schnellen Entschluss zur Rekonstruktion der Altstadt. Die bekannten und eindringlichen, auch von Bartetzky zitierten Worte des polnischen Generalkonservators Jan Zachwatowicz von 1946 stehen stellvertretend für die allgemeine Haltung nicht nur der polnischen Denkmalpflege der Nachkriegszeit (S. 138): „Wir können uns mit der Vernichtung unserer Kulturdenkmale nicht abfinden. Wir werden sie rekonstruieren, wir werden sie von den Fundamenten an wiederaufbauen, um späteren Generationen wenn schon nicht die authentische, so doch zumindest die genaue Form dieser Denkmale zu übermitteln, die in unserem Gedächtnis lebendig [...] ist […]. Die Verantwortung gegenüber künftigen Generationen verlangt […] einen vollständigen Wiederaufbau […].“

In der Ausstellung werden Pläne zum Sechsjahresplan des Wiederaufbaus von Warschau gezeigt, den der polnische Staatspräsident Bolesław Bierut 1949 zur Direktive erklärte. Polen schaffte es in einer gewaltigen Anstrengung, bis 1953 die Altstadt wiederaufzubauen – allerdings, ähnlich wie in Danzig, in einem Idealzustand, d.h. unter Aussparung des baulichen Wildwuchses des 19. und 20. Jahrhunderts. Vielleicht gerade deshalb wurde die rekonstruierte Altstadt als schmuckes Ensemble von der Bevölkerung positiv angenommen. Erst 1971–1988 folgte der Wiederaufbau des ebenfalls vom NS-Regime zwischen 1939 und 1945 restlos geschleiften Königsschlosses. Hier behinderten kontroverse Grundsatzdiskussionen zwischen Denkmalpflegern und Architekten das Vorhaben; realisiert wurde schließlich eine detailgetreue Rekonstruktion aus der Zeit unmittelbar vor der Zerstörung.

Ein weiteres Augenmerk der Ausstellung gilt den „Rekonstruktionen für Freizeit und Konsum“. Ein ausführlich dokumentiertes Beispiel ist der Wiederaufbau des zwischen 1833 und 1841 errichteten Residenzschlosses in Braunschweig. In der NS-Zeit zur „SS-Junkerschule“ umfunktioniert, wurde das bereits 1865 nach einem Brand wiedererrichtete Welfenschloss durch Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg stark beschädigt. Die Schlossruine riss die Stadt Braunschweig 1959 kurzerhand ab – wohl auch aufgrund der NS-Verbrechen, die mit diesem Ort verbunden wurden –, und das Gelände wurde zum Park umfunktioniert. 2004 erreichte ein Immobilieninvestor trotz vehementer Proteste und Bürgerbegehren die Rekonstruktion der Dreiflügelanlage als Einkaufszentrum. Mit völlig neuer Grundrissdisposition formte das Büro Grazioli und Muthesius bei originalgetreu wiederhergestellter Fassade einen reinen Kaufhausbau, dem überdies ein im Volumen doppelt so großer Neubau angefügt wurde. Dieses monumentale Braunschweiger Baugeflecht wird in der Ausstellung mit einem eindrucksvollen Modell dokumentiert.

Eines anderen, ebenso prominenten wie umstrittenen aktuellen Rekonstruktionsprojektes konnten sich Nerdinger und seine Mitarbeiter geschickt entziehen: Da die Rekonstruktion des Berliner Schlosses baulich noch nicht vollzogen wurde und die Debatte darüber andauert, wurde das Beispiel nicht in die Ausstellung aufgenommen.4

Dies stellt im Gesamtzusammenhang keinen großen Verlust dar, zeigen die zahlreichen Exponate doch zur Genüge: Rekonstruiert wurde zu allen Zeiten an allen Orten, fast immer mit Billigung der Bürger. Kritik in Zusammenhang mit einer kulturwissenschaftlichen Diskussion formierte sich in Deutschland erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts, vor allem anlässlich des Wiederaufbaus des Heidelberger Schlosses. Der Kunsthistoriker Georg Dehio gab in der Diskussion um die Schlossruine 1905 den markanten Leitsatz „konservieren, nicht restaurieren“ aus und verschaffte damit der Idee der romantisch-patriotischen oder auch mahnenden Ruine den Einzug ins 20. Jahrhundert. Nach 1945 wurde „Rekonstruktion“ erneut zum Reizwort. In der Bundesrepublik versuchten sich manche Architekten bei der Aufarbeitung der Kriegsschäden an einer „Ehrlichkeit der Fragmentierung“; so beließ beispielsweise Hans Döllgast beim Wiederaufbau der Alten Pinakothek in München Spuren der Zerstörung am Gebäude. Andere Architekten nutzten die Gelegenheit zu einer Erneuerung mit modernen Bauformen, was gelegentlich zu Verstimmungen in der Bevölkerung führte, wie das Beispiel der modernen Nachkriegsbebauung des Hildesheimer Marktplatzes zeigt: An die Stelle des 1945 zerstörten Knochenhaueramtshauses wurde Anfang der 1960er-Jahre ein moderner Hotelbau gesetzt, der ab 1983 jedoch einer Rekonstruktion des Fachwerkhauses weichen musste.

Das von Nerdinger in seinem Vortrag zur Ausstellung monierte Festhalten zahlreicher Architekten des späten 20. Jahrhunderts an den orthodoxen Auffassungen der internationalen Moderne und ihre damit verbundene grundsätzliche Ablehnung historisierender Formen ist zu Beginn des 21. Jahrhunderts vielfach einer gemäßigteren Haltung gewichen. Architekten nutzen Rekonstruktionen nun offensiv als neue prestigeträchtige Bauaufgabe, wie David Chipperfield bei seinem Umbau des Berliner Neuen Museums von Friedrich August Stüler. Oder sie geben sich reuig wie Rem Kohlhaas, von dem in der Ausstellung ein großformatiges Zitat zu lesen ist: „Die Architekten waren in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts nicht fähig, über die Vergangenheit konstruktiv nachzudenken. Wir waren dagegen, weil ein Architekt einfach nicht für die Idee der Rekonstruktion sein kann. In Wahrheit hatten wir aber oft nichts Besseres zu bieten, als das, was eine Rekonstruktion leistet.“

Wie auch die Ausstellung bietet der opulente, großformatige Katalog eine grundlegende Übersicht zum Thema. Auf über 500 Seiten werden rund 150 Rekonstruktionen, in zehn Themenbereiche gegliedert, ausführlich aufgearbeitet. 16 Fachaufsätze geben fundierten Einblick in den aktuellen Stand der Forschung und der Diskussion. Hilfreich für wissenschaftliches Arbeiten, aber auch für schnelles Recherchieren ist das umfangreiche Literaturverzeichnis sowie das lückenlose Personen- und Ortsregister. Mit der Publikation des Architekturmuseums ist die Debatte über Rekonstruktion und Wiederaufbau um ein wissenschaftliches Standardwerk reicher.

Anmerkungen:
1 <http://www.icomos.org/docs/venice_charter.html> (19.10.2010), Artikel 9: „The process of restoration is a highly specialized operation. Its aim is to preserve and reveal the aesthetic and historic value of the monument and is based on respect for original material and authentic documents. It must stop at the point where conjecture begins, and in this case moreover any extra work which is indispensable must be distinct from the architectural composition and must bear a contemporary stamp. The restoration in any case must be preceded and followed by an archaeological and historical study of the monument.“
2 Werner Durth / Niels Gutschow, Träume in Trümmern. Planungen zum Wiederaufbau zerstörter Städte im Westen Deutschlands 1940–1950, 2 Bde., Braunschweig 1988.
3 Dies bekräftigte er in seinem Begleitvortrag zur Ausstellung am 23.9.2010 im Architekturmuseum München.
4 So Nerdinger im oben genannten Vortrag.