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Titel
Stiftsbiographien. Die Kleriker des Stuttgarter Heilig-Kreuz-Stifts (1250-1552)


Autor(en)
Auge, Oliver
Reihe
Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 38
Erschienen
Leinfelden-Echterdingen 2002: DRW-Verlag
Anzahl Seiten
X+726 S.
Preis
€ 85,60
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Willich Staatliches Studienseminar für das Lehramt, Neuruppin

„Unser wichtigstes Forschungsziel gegenüber der Stiftskirche von 816 an ist ihre Rolle als Stätte der Begegnung von Kirche und Welt in ihrem Wandel vom 9. bis 16. Jahrhundert.“1 Mit dieser Programmatik hat Peter Moraw 1980 der Mediävistik neue Impulse zu Forschungen über die weltlichen Kollegiatstifte und Domkapitel gegeben, die inzwischen in mehreren Monographien fruchtbaren Niederschlag gefunden haben. Moraw lenkte den Blick auf die Verortung der Stifte in dem sozialen, politischen und wirtschaftlichen Umfeld, dem sie angehörten. In den Mittelpunkt des Interesses rückten die sozialen Gruppen, die das jeweilige Stift vor allem über die Besetzung seiner Pfründen beeinflussten, während das Stift selbst als weitgehend passiv wahrgenommen wurde. Insbesondere gegenüber der zuletzt genannten Sichtweise machten Guy P. Marchal und Michael Borgolte geltend, dass es sich bei Kollegiatstiften um korporative Institutionen handelte, deren Fremdbestimmung oder Eigenständigkeit jeweils erst zu untersuchen sei. Mit Stundengebeten, Messen und Totenmemoria hätten die Stifte durchaus Funktionen ausgefüllt, die trotz wechselnder äußerer Beanspruchungen die institutionelle Kontinuität sicherten.2 Forschungen zu Stiftskirchen hätten daher neben dem Bezug zur „Welt“ auch die korporative und religiöse Innenseite des Stifts zu berücksichtigen.

Diesen Ansatz hat Oliver Auge in seiner Tübinger Dissertation für einen besonders lohnenden Fall aufgegriffen: für das Stuttgarter Heilig-Kreuz-Stift, dessen Türme noch heute zu den Wahrzeichen der Stadt zählen. Als erkenntnisleitende Fragen seines Forschungsvorhabens nennt Auge solche nach der Geschichte und Verfassung des Stifts, nach der Verflechtung der einzelnen Kleriker und des Stifts mit der „Welt“ und nach dem „stiftischen Innenleben“. Davon ausgehend sollen Aussagen zum Selbstverständnis der Stiftsherren, zur korporativen Organisation des Kapitels und zum Verhältnis von Herrschaft und Genossenschaft getroffen werden (S. 29).

Wie der Titel der Arbeit anzeigt, wendet Auge sich vor allem den 373 Chorherren, Vikaren und Kaplänen zu, die an der Stiftskirche bepfründet waren. Die Prosopographie dieser Kleriker, die bisher noch nicht vorlag, nimmt folgerichtig den größten Teil des Buches ein. In übersichtlicher Form wird hier alles mitgeteilt, was der Autor in zahlreichen Bibliotheken und Archiven, vor allem aber im Hauptstaatsarchiv Stuttgart, zu den einzelnen Personen gefunden hat. Wer ähnliches versuchte, ahnt die entsagungsvolle Mühe, die in diesen Kurzbiographien steckt. Auge geht damit weit hinaus über die bisher zu „seinem“ Stift vorliegende Forschung, wie sie im Rahmen der württembergischen Landesgeschichte oder speziell zur Stuttgarter Kirche geleistet wurde. Einschließlich der Anfänge im 15. Jahrhundert („Stuttgarter Stiftschronik zum Hause Württemberg“) werden diese Traditionen in einem ausführlichen „Forschungsüberblick“ kritisch gewürdigt.

Der die Prosopographie auswertende Teil der Arbeit ist in zwei Hauptkapitel untergliedert, deren erstes sich mit der Geschichte des Stifts von seiner Gründung bis zur Reformationszeit und mit der Verfassung der Kollegiatkirche beschäftigt. Im Titel dieses Kapitels wird mit den Begriffen „Typologie, Chronologie und Geographie“ der eingangs genannte Aufsatz Peter Moraws zitiert. Während das darin formulierte Modell auf den Vergleich von Stiften zielt, bezieht Auge die Morawschen Leitfragen seinem Thema gemäß allein auf das Stuttgarter Stift. Detailliert schildert er dessen Anfänge in Beutelsbach, die mit einer Urkunde Innocenz’ IV. von 1247 zu fassen sind. Der Prozess der Stiftung liegt weitgehend im dunkeln, doch wird wahrscheinlich gemacht, dass die Gründung 1246/47 durch Graf Ulrich I. von Württemberg angesichts des staufischen Niedergangs mit dem Ziel der Herrschaftssicherung erfolgte. Die um 1300 im mittleren Neckarraum geführten Auseinandersetzungen zwischen dem Königtum und den Grafen von Württemberg gefährdeten das Stift und führten vermutlich zur Zerstörung der württembergischen Grablege in Beutelsbach. Zwischen 1301 und 1324 erfolgte daher die Verlegung des Stifts in die werdende Residenz Stuttgart, wo mit der basilikalen Pfarrkirche ein Kirchenbau zur Verfügung stand, der nunmehr repräsentativ ausgebaut wurde. Wie zuvor Beutelsbach wurde Stuttgart die Grablege der Württemberger.

Mit einer Urkunde vom 25. Januar 1321 legte Graf Eberhard I. die Verfassung des Stifts fest: ein Propst, der gleichzeitig Pfarrer der Stadt war, zwölf Chorherren und ebenso viele Vikare – alle mit Priesterweihe – sollten bei beständiger Residenz den Gottesdienst halten und „für das Wohlergehen und Glück von Grafen und Herrschaft und das Seelenheil für alle gräflichen Vor- beziehungsweise Nachfahren“ beten (S. 64f.). Dafür wurden den Klerikern feste Pfründeinkünfte zugewiesen. Die Zusicherung der Grafen, „finanziell auszuhelfen, falls die dem Stift zugedachten Einnahmen nicht zu einer materiellen Versorgung des Stiftsklerus im genannten Umfang ausreichen sollten“ (S. 65), zeigt, dass die Stifter die Verantwortung für die Dotation des Stifts ernst nahmen. Diese wurde offenkundig zu großen Teilen über die von den Grafen veranlasste Inkorporation von Pfarrkirchen realisiert. Für die Besetzung der Pfründen legte der Graf das Selbstergänzungsrecht fest; nur bei Wahlen ohne Mehrheit sollte die Stimme des Ältesten des Hauses Württemberg oder der Stuttgarter Linie die Entscheidung herbeiführen. Praktisch waren es aber die Grafen von Württemberg, die spätestens seit Beginn des 15. Jahrhunderts die Besetzung der Pfründen vornahmen und auf diese sogar die (laut Kirchenrecht verbotenen) Anwartschaften vergaben (S. 109). In einer weiteren gräflichen Urkunde vom 25. Januar 1321 wurden dem Stift Privilegien verliehen, die insbesondere das Verhältnis zur Stadt betrafen.

Das Stuttgarter Stift blieb künftig das Memorialzentrum der Württemberger. Es trug zur Residenzwerdung Stuttgarts bei und wurde dabei zum Residenzstift. „Je mehr dann die Residenz Stuttgart zur Hauptstadt des Landes Württemberg wurde, desto mehr nahm die Stuttgarter Stiftskirche die Position eines sakralen Zentrums Württembergs ein“ (S. 103). Der Propst rückte an die Spitze des württembergischen Klerus. Auge schildert den Aufstieg des Stifts in seinen institutionellen (Stichworte: Anfänge des Stuttgarter Schulwesens, Bruderschaften, Ablässe, Versammlungen der Landdekanate, Schaffung von Prädikatur und Stiftsdekanat, Stiftungen), wirtschaftlichen, architektonischen und höfisch-zeremoniellen Aspekten, ohne diese Entwicklungen aus ihrem historischen Kontext herauszulösen und damit als vorherbestimmt und alternativlos erscheinen zu lassen. Das Ende des Stifts kam mit der Reformation: 1535 wurde die Messe eingestellt; das Interim brachte von 1548 bis 1552 die nur teilweise Restitution, die schließlich aufgrund organisatorischer Mängel und wegen der anhaltenden Glaubensgegensätze scheiterte. In seinen lebendigen Ausführungen liefert der Autor zahlreiche neue Einsichten, die die Lokalforschung zu würdigen wissen wird.

Dass neben den beiden Urkunden von 1321 keine weiteren „derartig zentrale(n) und daher ausführlicher zu besprechende(n) Verfassungsdokumente existieren“ (S. 65f.), ist ein bemerkenswerter Befund, den der Autor stärker hätte unterstreichen können. Er betrifft das Verhältnis von Herrschaft und Genossenschaft am Stuttgarter Stift. Es gibt offenkundig keinen Hinweis darauf, dass sich die Korporation aus eigenem Recht Statuten gab, die in Konkurrenz zu den gräflichen Urkunden hätten treten können. Das Übergewicht der Stifterfamilie zeigt sich weiter bei der Dotation, in der Stellenbesetzung und in der Memoria. Das Heilig-Kreuz-Stift war „eine Kirche der Herrschaft, der Familie Württemberg“ (S. 103). Eine gewisse Selbstbehauptung der Korporation zeigt sich in Auseinandersetzungen zwischen Stift und Grafen (S. 110f., 181), doch fehlen Präsenzlisten, Kapitelsprotokolle, Liturgica, Prozessakten (etwa zu Streitigkeiten zwischen der Stifterfamilie und der Korporation) oder ähnliche Quellen, die das Innen- und gegebenenfalls Eigenleben des Stifts erhellen könnten. Die Prosopographie kann hier nur begrenzt Abhilfe schaffen (S. 248). Einen methodisch überzeugenderen Weg, den korporativen Charakter von Kapiteln zu erfassen und in den Vergleich zur Fremdbestimmtheit zu setzen, ist Wolfgang E. Wagner in seiner Studie zu Universitätsstiften gegangen. 3

Die Kleriker des Stifts werden im zweiten der auswertenden Hauptkapitel genauer untersucht, wobei zunächst danach gefragt wird, auf welche Weise sich Geistliche für die Aufnahme in Stuttgart qualifizierten. Auf die Rolle der Grafen von Württemberg wurde oben schon hingewiesen, hinzu traten vor allem im 15. Jahrhundert der Universitätsbesuch (zunächst in Wien und Heidelberg, ab 1477 dann in Tübingen) bei Dominanz der Artisten (und einem erst nach 1450 wachsenden Juristenanteil), aber auch Gelehrsamkeit außerhalb der Universität und nicht zuletzt die Herkunft aus der bürgerlichen Ober- und Mittelschicht Württembergs (90% Bürgerliche, die den Niederadel aber erst nach 1450 marginalisierten). Die für die gleichfalls zur Diözese Konstanz gehörenden Zürcher Stifte so prägenden päpstlichen Provisionen spielten in Stuttgart so gut wie keine Rolle. 4 Wohl aus diesem Grund wiederholt Auge den alten Irrtum, es handle sich um „kurial(e) Eingriff(e)“ (S. 112). Insgesamt konstatiert er für das Stuttgarter Stift einen „regionale(n) Zuschnitt“ (S. 135), an dem auch einige ausländische Graduierte nach 1450 nichts änderten.

Des weiteren werden die Tätigkeitsfelder systematisch erfasst, auf denen die Stuttgarter Kleriker zu finden sind: Pfründkarrieren (Kumulationen kamen nur selten vor), kirchliche Aufgaben (im Auftrag des Papstes oder des Bischofs, vor allem aber Gottesdienst und Totengedenken, für die jedoch die Quellen fehlen; vgl. S. 143 u. 152), die Verwaltung von Pfründen und Besitz (einschließlich von Kauf und Verkauf), der Dienst für die Grafen von Württemberg in seinen Varianten (Rechtsprechung, Kanzlei, Diplomatie, Kirchenreform, Hofdienst als Lehrer, Leibarzt, Historiograph, Sänger oder Teilnehmer an Zeremonien), Gelehrsamkeit (Tübinger Frühhumanismus, Büchersammlungen), Religiosität (Stiftungen, Bruderschaften). Schließlich wird das Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit der Klerikerexistenz abgewogen diskutiert und eine Annäherung an das klerikale Selbstverständnis versucht. Die Vorbehalte gegenüber einem solchen mentalitätsgeschichtlichen Ansatz muss man wohl noch grundsätzlicher formulieren als es Auge mit dem Hinweis auf das weitgehende Fehlen von Selbstzeugnissen bereits getan hat (S. 240). 5

Unsere Vorstellungen vom spätmittelalterlichen Klerus und vom Residenzstift werden durch die Analyse der Tätigkeitsfelder erheblich bereichert und teilweise korrigiert. Auge kann nämlich zeigen, dass nur ca. 18 % der Stiftsgeistlichen im (weltlichen) Dienst der Württemberger zu finden sind, das Stift mithin keine Kaderschmiede der Grafen war. Erst als „im Jahr 1477 das Sindelfinger Martinsstift als sein bisheriger ‚Konkurrent‘ ausfiel, „nahm die Bedeutung des Stuttgarter Stifts als herrschaftliches Personalreservoir fast zwangsläufig zu. Bis dahin hatte es wohl vornehmlich die Pflege der gräflichen Memoria wahrgenommen und zusätzlich der höfischen Repräsentation gedient“ (S. 250f.). Des weiteren führt der Autor gute Argumente gegen „allgemeine Ansichten“ ins Feld, „daß der Stiftsklerus keinen Anteil an der gegen Ende des Spätmittelalters feststellbaren Zunahme der Frömmigkeit hatte oder daß von ihm keine bildungsgeschichtlichen Impulse ausgingen“ (S. 253).
Abschließend bleibt festzustellen, dass durch das vorliegende Buch eine wichtige Kollegiatkirche ihre monographische Darstellung in sehr zuverlässiger und den aktuellen Forschungsstand reflektierender Weise erfahren hat. Die Orientierung auf bestimmte Fragestellungen, die vom tradierten Handbuch-Schema der Stiftsmonographie abweicht, erweist sich einmal mehr als Gewinn für die Forschung. Hervorzuheben ist schließlich der flüssige, klare Schreibstil des Autors, der selbst trockene Sachverhalte anschaulich werden lässt.

1 Peter Moraw: Über Typologie, Chronologie und Geographie der Stiftskirche im deutschen Mittelalter, in: Untersuchungen zu Kloster und Stift (= Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 68 / Studien zur Germania Sacra 14=, Göttingen 1980, S. 9–37, hier 11
2 Zusammenfassend Michael Borgolte: Die mittelalterliche Kirche (Enzyklopädie deutscher Geschichte 17), München 1992, S. 109–112
3 Wolfgang Eric Wagner, Universitätsstift und Kollegium in Prag, Wien und Heidelberg. Eine vergleichende Untersuchung spätmittelalterlicher Stiftungen im Spannungsfeld von Herrschaft und Genossenschaft (Europa im Mittelalter 2), Berlin 1999. Vgl. dazu die Rezension in H-Soz-u-Kult unter der URL http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/id=557
4 Andreas Meyer: Zürich und Rom. Ordentliche Kollatur und päpstliche Provisionen am Frau- und Großmünster 1316–1523 (Bibliothek des Deutschen Historischen Instituts in Rom 64), Tübingen 1986
5 Vgl. Michael Borgolte: „Selbstverständnis“ und „Mentalitäten“. Bewußtsein, Verhalten und Handeln mittelalterlicher Menschen im Verständnis moderner Historiker, Archiv für Kulturgeschichte 79 (1997) S. 189–210

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