A. v. Villiez: Mit aller Kraft verdrängt

Cover
Titel
Mit aller Kraft verdrängt. Entrechtung und Verfolgung "nicht arischer" Ärzte in Hamburg 1933 bis 1945


Autor(en)
von Villiez, Anna
Reihe
Studien zur Jüdischen Geschichte, Bd. 11
Erschienen
Anzahl Seiten
456 S., 1 CD-Rom
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Gebhard Schultz, Berlin

Die Geschichte der Verfolgung jüdischer Ärzte im Nationalsozialismus gerät seit einigen Jahren zunehmend in das Blickfeld der historischen Forschung. Das Ziel verschiedener regionalhistorisch ausgerichteter Studien war (und ist) zum einen die Rekonstruktion des Geschehens vor Ort.1 Zum anderen geht es den Autoren aber auch darum, den zumeist unbekannten Opfern ihre Namen zurückzugeben und so ein würdiges Gedenken zu ermöglichen. Erfreulicherweise stoßen derartige Projekte heute in der Regel auf beachtlichen Rückhalt in der Ärzteschaft. Dies gilt auch für die 2009 veröffentlichte Dissertation der Historikerin Anna von Villiez, die von der Hamburger Ärztekammer gefördert wurde. Die Autorin hatte sich bereits in ihrer Magisterarbeit mit der Verfolgung jüdischer Ärzte im nationalsozialistischen Hamburg beschäftigt. Mehrere Artikel zur Thematik publizierte sie im Hamburger Ärzteblatt.

Im ersten Teil des Buches wird die Entwicklung in Hamburg dargestellt, der zweite Teil enthält die Kurzbiographien der verfolgten Ärzte. Dem Buch ist außerdem eine CD-Rom mit weiteren Informationen beigefügt. In der Einführung erläutert Anna von Villiez die Ziele und Methoden ihrer Arbeit. Während es in anderen Studien oft darum ginge, Einzelschicksale zu rekonstruieren, sei es das Ziel ihres Projektes, „die Verfolgung und Verdrängung der ‚nicht arischen‘ Ärzte innerhalb einer Stadt unter Berücksichtigung des gesellschaftlichen Umfeldes darzustellen“ (S. 18). Die Dissertation beruht auf umfassenden Archivstudien. Auch zeitgenössische Standeszeitungen und die Tagespresse wurden ausgewertet. Eine weitere wesentliche Quelle waren die in der Forschungsstelle für Zeitgeschichte Hamburg archivierten Interviews der „Werkstatt der Erinnerung“. Darüber hinaus führte die Autorin eigene Interviews mit den Nachkommen der verfolgten Ärzte und korrespondierte mit diesen. Sie ermittelte die Zahl von 432 „nicht arischen“ Ärzten, die in der Hansestadt entrechtet und verfolgt wurden.2 Es handelt sich hierbei um mehr als ein Viertel der Hamburger Ärzteschaft.

Seit dem Anfang des 17. Jahrhundert gab es in Hamburg jüdische Ärzte. Sie leisteten einen bedeutenden Beitrag zur Entwicklung der ständischen Berufsorganisationen und waren weitgehend in das Hamburger Bürgertum integriert. Zwar gab es Ressentiments gegenüber jüdischen Ärzten, bis zum Ende der Weimarer Republik erlangte der Antisemitismus aber keine Mehrheitsfähigkeit. Die erste Phase der Ausgrenzung begann bereits im Frühjahr 1933. Als wichtige Direktiven sind zu nennen: Das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, das Vertretungs- und Überweisungsverbot für „nicht arische“ Ärzte sowie der Entzug der Kassenzulassung. Handlungsspielräume wurden nur selten zugunsten der jüdischen Ärzte genutzt. „So stellten einige Chef- und Oberärzte den Betroffenen Empfehlungsschreiben für das Ausland und möglichst positive Entlassungszeugnisse aus“ (S. 86).

Auf die einschneidenden Veränderungen der Jahre 1933/34 folgte eine bis 1938 dauernde Phase „trügerischer Ruhe“. „Die Mehrheit der niedergelassenen ‚nicht arischen‘ Ärzte konnte weiter praktizieren. Während das ärztliche Krankenhauspersonal und die Mitglieder der medizinischen Fakultät früh zur Auswanderung gezwungen wurden, blieben die meisten der niedergelassenen Ärzte zunächst in Hamburg“ (S. 94). Infolge der Nürnberger Gesetze verschärfte sich allerdings die Situation für alle Juden.3 Durch verschiedene Regelungen wurde versucht, „arische“ Patienten davon abzuhalten, sich von „nicht arischen“ Ärzten behandeln zu lassen.

1938 wurden die „nicht arischen“ Ärzte durch den Entzug der Approbation beruflich endgültig „ausgeschaltet“. Mit dieser Bestimmung verloren 194 Ärzte in Hamburg ihre medizinischen Zulassungen, „was ihnen in einem knappen Formschreiben der Hamburger Ärztekammer mitgeteilt wurde“ (S. 112). Zugleich wurden den Betroffenen die Praxisräume genommen, was meistens auch mit dem Verlust der angrenzenden Wohnungen verbunden war. „Eine stichprobenartige Adressüberprüfung ergab, dass viele der Praxen später (…) durch ‚arische‘ Ärzte genutzt wurden“ (S. 114). Nur wenige Ärzte erhielten eine „vorläufige Sondergenehmigung“, um als „jüdische Krankenbehandler“ weiterzuarbeiten. Die existenzielle Bedrohung blieb nicht ohne Folgen, die Selbstmordrate stieg. Andere Betroffene versuchten schnellstmöglich aus Deutschland zu fliehen. Die Autorin ermittelte die Zahl von 324 „nicht arischen“ Hamburger Ärzten, die während der Zeit des Nationalsozialismus das Land verließen. Die wichtigsten Emigrationsländer waren Palästina, England und die USA. 38 Ärzte und sechs Ärztinnen aus Hamburg wurden deportiert. Nur vier von ihnen überlebten. „Während ein Großteil der verfolgten Ärzte sich ins Ausland retten konnte, wurden die, die in Deutschland verblieben waren, besonders intensiv mit dem Grauen der Deportationen konfrontiert. Zu ‚Krankenbehandlern‘ degradiert, waren sie oft die letzte Anlaufstelle und Vertrauenspersonen für die Verfolgten. Gleichzeitig oblag ihnen schwere und ungewollte Verantwortung im Zusammenhang mit den ärztlichen Untersuchungen vor den Deportationen“ (S. 143f).

In einem eigenen Kapitel wird der Frage nachgegangen, inwieweit die Verfolgung der „nicht arischen“ Ärzte nach dem Krieg in Hamburg aufgearbeitet wurde. Das Fazit fällt ernüchternd aus: „Die schnelle berufliche Rehabilitierung der nationalsozialistischen Ärzte und die große Bereitschaft der Mehrheit (...) das Unrecht an den entrechteten Kollegen zu verdrängen, enttäuschte die Emigranten. Erst in der Zeit, in der kaum einer der Beteiligten noch lebte, wagte die Hamburger Ärzteschaft eine Rückschau“ (S. 166). Im zusammenfassenden Schlussteil stellt die Autorin nochmals heraus, dass der Prozess der Entrechtung und Verfolgung der „nicht arischen“ Ärzte „nicht allein von der Reichsführung initiiert und realisiert, sondern ebenso von lokalen Repräsentanten getragen worden war“ (S. 167). Bestehende „Handlungsspielräume“ wurden dabei von den verantwortlichen Akteuren nicht zugunsten der verfolgten Ärzte genutzt. „Sie traten mehrfach für eine besonders scharfe Interpretation der einzelnen Verordnungen ein“ (S. 170).

Der zweite Teil der Arbeit stellt 432 Kurzbiographien vor, die „vor allem die Verfolgungsgeschichte und ihre Auswirkung in der Einzelbiographie erfassen wollen“ (S. 203). Einige der biographischen Daten bleiben dabei ausgeblendet: So sind weder Angaben zum Zeitraum oder den Orten des Medizinstudiums enthalten, noch wissenschaftliche Publikationen der Ärzte. Auch die Titel der Dissertationen werden nur aufgeführt, „wenn sich dort biographische Angaben fanden“ (S. 204). Bedauerlich ist der Verzicht auf die Nennung der akademischen Titel.4 Auf der dem Buch beiliegenden CD-Rom finden sich in vier PDF-Dateien alle im biographischen Teil des Buchs abgedruckten Artikel (ohne Fotos), eine Auflistung aller Ärzte nach Fachrichtungen, eine Gesamtliste der Ärzte nach Stadtteilen sowie eine alphabetische Liste der Todesopfer.

Anna von Villiez hat sich mit ihrem Buch sehr weitreichende Ziele gesetzt: Untersucht wird das Geschehen in den Standesorganisationen, an der medizinischen Fakultät, im öffentlichen Gesundheitswesen, in den öffentlichen Krankenhäusern sowie bei den niedergelassenen Ärzten. Zwangsläufig war es erforderlich, die Darstellung auf wesentliche Aspekte zu konzentrieren. Und so ist der erste Teil der Arbeit wohl weniger eine „kollektivbiographische Untersuchung“ (S. 16) als eine kompakte Studie zur Ausgrenzung und Verfolgung der „nicht arischen“ Ärzte in Hamburg. Dass manche der Lebensläufe nur fragmentarisch rekonstruiert werden konnten, liegt in der Natur der Sache. Die im zweiten Teil des Buchs abgedruckten Kurzbiographien sind prägnant formuliert und spannend zu lesen – gerade auch als Ergänzung zum ersten Teil der Arbeit, in dem das erforderliche Überblickswissen vermittelt wird.

Erfreulicherweise dürfte das gesamte Buch auch für Leser ohne Vorkenntnisse ohne weiteres verständlich sein. Immer wieder sind anschauliche Originalzitate in den Text eingefügt. Beide Teile der Arbeit enthalten interessante und oft anrührende Fotos, die größtenteils aus dem privaten Besitz der Betroffenen bzw. ihrer Nachkommen stammen. Es bleibt zu hoffen, dass dieses Buch gerade in Hamburg – auch über den Kreis der professionell Interessierten hinaus – seine Leserschaft findet.

Anmerkungen:
1 Die wichtigsten jüngeren Arbeiten: Linda Lucia Damskis, Zerrissene Biographien. Jüdische Ärzte zwischen nationalsozialistischer Verfolgung, Emigration und Wiedergutmachung, München 2009; Susanne Rueß, Stuttgarter jüdische Ärzte während des Nationalsozialismus, Würzburg 2009; Birgit Drexler-Gormann, Jüdische Ärzte in Frankfurt am Main 1933-1945. Isolation, Vertreibung, Ermordung, Frankfurt am Main 2009; Rebecca Schwoch (Hrsg.), Berliner jüdische Kassenärzte und ihr Schicksal im Nationalsozialismus. Ein Gedenkbuch, Berlin 2009; Judith Hahn und Rebecca Schwoch, Anpassung und Ausschaltung. Die Berliner Kassenärztliche Vereinigung im Nationalsozialismus, Berlin 2009. Bei der Historischen Kommission zu Berlin wird z. Zt. ein Gedenkbuch für die verfolgten Ärztinnen und Ärzte des Berliner öffentlichen Gesundheitswesens vorbereitet.
2 Die Autorin verwendet den Begriff „nicht arisch“ durchgehend, um deutlich zu machen, dass nicht jeder, der von den Nationalsozialisten als Jude bezeichnet wurde, sich auch selbst zum Judentum bekannte; erst die antisemitische Verfolgung habe die Gruppe konstituiert.
3 Kurioserweise „verbesserte“ sich durch die Rassengesetze die Position der „Mischlinge“: Die „Vierteljuden“ fielen nämlich nicht unter die Sondergesetzgebung und wurden teilweise wieder zu den Kassen zugelassen. Gleichwohl hatte ein großer Teil von ihnen auch weiterhin unter Verfolgungsmaßnahmen zu leiden.
4 Rebecca Schwoch begründet in ihrer Einleitung zum Berliner Gedenkbuch die gegenteilige Verfahrensweise: „Wir haben in den Biographien Wert darauf gelegt, die Berliner jüdischen Kassenärzte vor allem in den Freitexten mit ihren akademischen Titeln zu nennen. Das hat seinen einfachen Grund darin, dass die Verfolgten in den Konzentrationslagern nicht nur ihrer Namen beraubt wurden, sondern auch ihrer akademischen Titel“ (S. 24f).

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