Titel
Europa in Bewegung. Migration vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart


Autor(en)
Bade, Klaus J.
Reihe
Europa bauen
Erschienen
München 2002: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
510 S.
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Prof. Dr. Rolf W. Brednich, Stout Research Centre, Victoria University

Der Verfasser dieses Buches, Leiter des Osnabrückers Instituts für Migrationsforschung (IMIS) und Interkulturelle Studien, kann als der bedeutendste deutschsprachige Migrationshistoriker gelten. Seit 1980 gelten seine zahlreichen Schriften den verschiedensten Problemen von Einwanderung, Auswanderung und Binnenwanderung in Deutschland, insbesondere in Preußen. Mit dem vorliegenden Buch erreichen seine Forschungen nochmals eine neue Qualität. Die zuerst im Jahre 2000 erschienene Monographie liegt hier in einer broschierten, durchgesehenen Sonderausgabe in der von Jacques Le Goff herausgegebenen Reihe ‚Europa Bauen’ vor. Bade hat es darin unternommen, seine bisherigen Forschungen zu Migrationsprozessen in Mitteleuropa in einen sehr viel weiter gesteckten Rahmen einzubringen und Wanderungsbewegungen über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrhunderten im europäischen Zusammenhang zu untersuchen. Vor ihm hat lediglich Leslie Page Moch (Moving Europeans, 1992) einen solchen Zugriff auf den europäischen Homo migrans gewagt, allerdings mit einem Schwerpunkt in der frühen Neuzeit, wohingegen sich das vorliegende Buch auf die beiden letzten Jahrhunderte konzentriert.

Bades Aufgabe, die Vielfalt von sich überschneidenden Bewegungsformen, Verhaltensmustern und Kollektivmotivationen’ (S. 13) zu einer eine epochen-, formen- und länderübergreifenden Darstellung des Wanderungsgeschehens in, aus und nach Europa zu formen, war wahrlich keine leichte. Eine Antwort auf die Frage, wie dies zu bewältigen war, gibt das 35 Seiten umfassende Literaturverzeichnis. Die mehr als 600 Titel umfassende Spezialbibliographie bildet – neben Bades eigenem Wissen und seinen Werken – die Grundlage für ein Buch, welches - allein von diesen Dimensionen her betrachtet - Bewunderung verdient.

Die Hochachtung vor der Leistung des Verfassers steigt aber noch bei der Lektüre des Buches selbst. Der zu umfassende Zeitrahmen sowie das darin eingebettete Wanderungsgeschehen kann am besten durch die Wiedergabe der Gliederungsstruktur des Buches und seiner Unterkapitel angedeutet werden. Teil I bringt im historischen Rückblick eine Übersicht zu Wanderungen im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft. Den Schwerpunkt bilden hier Arbeitswanderungen und Wanderhandel. In der Darstellung der Prozesse wird hier bereits ein methodisches Prinzip sichtbar, das sich durch das ganze Buch hindurchzieht: Es werden einzelne, besonders gut erforschte Phänomene als Beispiele ausgewählt, um den Gesamtzusammenhang exemplarisch zu vertiefen (hier Hollandgang und Töddenhandel). Teil II ist den Wanderungen im Europa des 19. und frühen 20. Jahrhunderts gewidmet. Hier geht es erneut um die sich ausbreitenden agrarischen und industriellen Arbeitswanderungen (Beispiele: Preußengänger und Ruhrpolen), gefolgt von einem Überblick zum europäischen Massenexodus in die Neue Welt, einer neuen Sicht auf die ‚eurokoloniale Migration im Hochimperialismus’ und einer Analyse der Nationalstaaten und der internationalen Migration vor dem Ersten Weltkrieg (behandelt werden hier vor allem die politischen Flüchtlinge des 19. Jahrhunderts). Die nahezu unvorstellbaren Flucht- und Zwangsbewegungen in der Epoche der beiden Weltkriege bilden den Kern des dritten Teils, von Bade mit Recht als die ‚grauenhafteste Periode der neueren Migrationsgeschichte’ (S. 233) bezeichnet. Die Darstellung über das ‚Jahrhundert der Flüchtlinge’ (Wingenroth) beginnt mit dem Ersten Weltkrieg, in dessen Folge es europaweit zur Deportation von Minderheiten und neuen, politisch und religiös bedingten Zwangswanderungen kam. Während in der bisherigen Darstellung mit Deutschland, England, Frankreich, Italien und Polen die europäischen Kernländer im Mittelpunkt der Betrachtung standen, gerät jetzt mehr und mehr auch der europäische Osten und Südosten in den Blick. Massenmord, Umsiedlung, Flucht und Vertreibung sind die Hauptschlagwörter innerhalb des Kapitels über den Zweiten Weltkrieg und das Nachkriegsjahrzehnt, als staatliche Zwangsmaßnahmen auf das Leben von Menschen und ihre angestammten Siedlungsgebiete vorher nie gekannte Ausmaße annehmen sollten. Die fünfzehn Seiten über Flucht, Vertreibung und Deportation im Krieg (S. 284-300) werden dabei für die Leser fast zur Tortur, wenn die Darstellung Bades sich in einen Alptraum von Aber- und Aber-Millionen von betroffenen Menschen steigert. Hier wird nichts beschönigt, und von diesem Teil muss sich der Leser/die Leserin erst einmal erholen, um in den Teil IV über Wanderungen und Wanderungspolitik im Kalten Krieg neu einzusteigen.

Hier wird die Entwicklung nachvollzogen, innerhalb derer Europa vom Aus- zum Einwanderungskontinent wurde. Bade setzt sich zunächst mit jener Bewegung auseinander, in deren Rahmen die sog. ‚eurokolonialen Rückwanderer’ aus ehemaligen Kolonien in Europa eintrafen, gefolgt von der ebenso bedeutenden Welle der Arbeitsmigranten (‚Gastarbeiter’) aus den südeuropäischen Ländern. Mit dem Kapitel über Asyl und Fluchtwanderungen im Europa der 1970er und 1980er Jahre wird ein ganz anders geartetes Thema angeschlagen, welches auch für den Rest des Jahrhunderts von ungebrochener Relevanz bleiben wird und in den abschließenden fünften Teil überleitet. Er ist betitelt ‚Der Einwanderungskontinent Europa am Ende des 20. Jahrhunderts’ und geht auf die Problemfelder Minderheiten aus Ost- und Südosteuropa bzw. Flüchtlinge aus Ost- und Südosteuropa, die aus den Wanderungsbewegungen resultierende Kulturvielfalt und schließlich auch auf die in den einzelnen europäischen Ländern unterschiedliche Behandlung von Asylsuchenden (Stichwort ‚Festung Europa’) ein. Was Deutschland betrifft, kann sich Bade hier auf intensive eigene Forschungen berufen, die u.a. in seinem vorangegangenen Buch ‚Ausländer – Aussiedler – Asyl’ (1994) dokumentiert sind.

‚Europa in Bewegung’ ist das Werk eines berufenen und in politischen Tagesfragen engagierten Historikers, der die Befähigung besitzt, die säkularen Bevölkerungsbewegungen von mehr als 200 Jahren in eine Art ‚transnationaler Migrationstopographie’ einzubetten und sie in ihren Ursachen, ihrem Verlauf und ihren Folgen souverän zu analysieren. Dies stellt eine besondere Leistung dar, die durch kleinere Kritikpunkte nicht geschmälert wird. Der Sprachstil ist für ein an breite Kreise gerichtetes Buch manchmal zu kompliziert ausgefallen. In dem einen oder anderen Kapitel stößt man auf Wiederholungen. In der Bibliographie möchte man gern den einen oder anderen Titel nachtragen. Es sei hinzugefügt, dass dies kein Buch für Kultur- oder Sozialhistoriker ist. Die Darstellung folgt den großen übergreifenden politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen, vertieft sie vor allem anfangs durch Einzelbeispiele, bleibt aber im Grunde stets auf dieser Makroebene der ‚bewegenden Kräfte’ und dringt somit nicht bis zur Mikroebene des Individuums vor. Die Menschen werden in dieser Art der Betrachtung nur als Zahlen in Bewegung beschrieben. Um so bemerkenswerter ist eine Ausnahme, wenn in Teil I, Kap. 2 unvermittelt auf das Schicksal einer Vogelsberger Bauernfamilie und ihrer Migranten nach Essen bzw. Paris eingegangen wird . Die Fußnote 72 verrät, dass die Ausführungen familiengeschichtlichen Quellen im Besitz des Verfasser fußen und er aus dieser Familie entstammt. Wer mehr über solche Einzelschicksale im Migrationsprozess oder die kulturellen Leistungen von Migranten in Erfahrung bringen möchte, muss sich z. B. volkskundlichen Beiträgen zur Wanderungs- und Auswanderungsforschung zuwenden, die im vorliegenden Buch aus naheliegenden Gründen ausgeblendet bleiben mussten. Wer dagegen einen kompetent geschriebenen Überblick zu dem Gesamtphänomen gewinnen will, wird von diesem Buch nicht enttäuscht werden.

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