K. Herbers u.a. (Hrsg.): Das Papsttum und das vielgestaltige Italien

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Titel
Das Papsttum und das vielgestaltige Italien. Hundert Jahre Italia Pontificia


Herausgeber
Herbers, Klaus; Johrendt, Jochen
Reihe
Abhandlungen der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, N.F. 5
Erschienen
Berlin 2009: de Gruyter
Anzahl Seiten
XVI, 721 S.
Preis
€ 149,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Nicolangelo D’Acunto, Dipartimento di Studi medievali, umanistici e rinascimentali, Università Cattolica del Sacro Cuore, Brescia

Der Band umfasst die Beiträge der Tagung, die vom 25. bis 28. Oktober 2006 unter Leitung des Deutschen Historischen Instituts in Rom anlässlich des 100. Jahrestags der Publikation des ersten, von Paul Fridolin Kehr herausgegebenen Bandes der Reihe Italia Pontificia1 veranstaltet wurde. Es handelte sich dabei um Auftakt und bedeutenden Teil eines Projekts, das Kehr genau zehn Jahre zuvor konzipiert hatte und das erst 1975 mit dem zehnten Band abgeschlossen werden sollte.2 Ziel des Projekts war die Sammlung und Verzeichnung aller päpstlichen Dokumente für italienische Empfänger bis 1198. Diese zeitliche Eingrenzung leitete sich aus der Notwendigkeit ab, die verstreute Überlieferung außerhalb der Vatikanischen Register abzudecken, welche Dokumente seit dem Pontifikat Innozenz’ III. enthalten; deren Nutzung war durch die Öffnung des Archivio Segreto Vaticano, die Papst Leo XIII. 1881 gestattet hatte, ermöglicht worden. Kehrs Projekt wies eine regionale Gliederung auf, die der Aufteilung des antiken Italien folgte. Jede Region war in Diözesen eingeteilt, innerhalb derer die Städte und die entsprechenden kirchlichen Institutionen als Empfänger päpstlicher Dokumente verzeichnet waren. Dieser Ansatz veränderte die Erforschung der Kirchengeschichte Italiens in großem Maße, da nun auf solider wissenschaftlicher Basis wie nie zuvor die Ereignisgeschichte vieler lokaler Kirchen während des frühen und hohen Mittelalters rekonstruiert werden konnte. Darüber hinaus eröffnete der Kehrsche Ansatz einen neuen Weg, eines der umstrittenen Themen der Mediävistik des 19. Jahrhunderts in Angriff zu nehmen: das der sich ausbreitenden Bedeutung des Papsttums in Italien. Diese Diskussion, die im Verlauf des Risorgimento eine eindeutig politische Wendung erhalten hatte, war am Ende des 19. Jahrhunderts in Teilen ihrer ideologischen Bezüge entleert und beendet. Die regionale Gliederung des Kehrschen Werks schuf dagegen die Grundlagen, um das päpstliche Verhältnis nicht mehr in Hinblick auf eine fehlgeschlagene politische Einigung der Halbinsel zu untersuchen, sondern in einer entgegengesetzten Perspektive das vielgestaltige Italien in den Vordergrund zu stellen.

Der hier zu rezensierende Band strebt an, die Ergebnisse dieser wissenschaftlichen Initiative zu prüfen. Die Einleitungen von Michael Matheus und Kardinal Raffaele Farina thematisieren den Beitrag des Deutschen Historischen Instituts in Rom zum Projekt Kehrs, der informell, aber gewinnbringend war, und den der Biblioteca Vaticana, der auf die unmittelbaren Interessen Pius’ XI. zurückzuführen ist. Der Geschichte des Kehrschen Unternehmens widmet sich auch der Aufsatz von Dieter Girgensohn, in dem man unter anderem erfährt, dass Kehr im Zuge der Sammlung der erhaltenen päpstlichen Dokumente für Italien von der ersten Idee einer vollständigen Edition nach dem Modell der druckfrisch erschienenen Edition der kaiserlichen Diplome der Ottonenzeit abwich und dazu überging, die Quellen in Regesten zu verzeichnen. Es sei hier angemerkt, dass dieser Beitrag Girgensohns im einleitenden Teil des Bands möglicherweise einen angemesseneren Platz gefunden hätte als in dem Teil, der den regionalen Analysen vorbehalten ist.

Das Frageraster der Tagung und – daraus abgeleitet – des Buches wird von Klaus Herbers umrissen, der sich dem Problem der Vielgestalt Italiens und der Erfassungsmöglichkeit annimmt, ob und wie das Papsttum einen Integrationsfaktor der Halbinsel in einem komplexen Spiel von Aktion und Reaktion mit den unterschiedlichen Regionen darstellte.3 Herbers thematisiert vor dem Hintergrund dieser Frage die extreme Vielfalt Süditaliens als Boden für die Auseinandersetzungen des Papsttums mit Byzanz und den Muslimen, die Konkurrenz zwischen den verschiedenen Kirchen und den besonderen Primatsansprüchen vonseiten Mailands, Ravennas oder Benevents, das Thema der Normannen im 11. Jahrhundert und schließlich dasjenige der mehr oder weniger freiwilligen Reisen der Päpste des 12. Jahrhunderts gemäß der Vorstellung „ubi est papa ibi est Roma“.

Diese aufgeführten Themen sind vielfältig und von großer Bedeutung nicht nur für die Kirchengeschichte des früh- und hochmittelalterlichen Italien, angefangen von dem großen Problem der Beziehungen mit Byzanz, dem sich Matthias Maser mit Blick auf das 6. Jahrhundert und Guglielmo Cavallo für das 9. und 10. Jahrhundert in Kampanien und Latium widmen.

Der dritte Teil des Bandes behandelt die Beziehungen zwischen Rom und den Kirchen Italiens „zwischen Autonomie, Konkurrenz und Anpassung“ und geht geografisch orientiert vor. Süditalien sind die Beiträge von Wolfgang Huschner und Jean Marie Martin gewidmet. Ersterer zeigt, dass die alte päpstliche Vorgehensweise, die die Gründung der Erzbistümer Benevent, Capua und Salerno im 10. Jahrhundert geleitet hatte, nach der alle Bewohner und jede Provinz das Recht hatten, eine eigene Erzdiözese zu errichten, als Modell im Jahr 1000 für die neuen lateinischen Erzdiözesen von Gnesen in Polen und Gran in Ungarn diente. Martin hebt dann die Bedeutung des Mezziogiorno hervor, das grundsätzlich unempfänglich war für die päpstlichen Zentralisierungsprozesse, die mit der Reform des 11. Jahrhunderts begannen, und zudem im Innern stark heterogen – nicht nur in Bezug auf die Präsenz andauernder griechischer und muslimischer Einflüsse, sondern auch hinsichtlich der Zersplitterung, welche die weltlichen und kirchlichen Strukturen charakterisierten. Zuversichtlicher zeigt sich Maria Pia Alberzoni mit Blick auf die Möglichkeit, eine schnelle Anpassung an die Direktiven des apostolischen Stuhls zu ermitteln, die in ihrem Beitrag über die Interventionen der römischen Kirche in der Kirchenprovinz Mailand mit einer Fülle von Einzelheiten die Instrumente der Zentralisierung, die übrigens schon von Kehr ermittelt worden waren, beschreibt. Ein anderes Ziel verfolgen Jochen Johrendts Ergebnisse, der in einem Vergleich der päpstlichen Dokumente für Empfänger in Ligurien, Umbrien und Kalabrien zeigt, dass die Chronologie der Intensivierung ihrer Beziehungen zum römischen Stuhl nicht die Existenz eines eindeutigen und einheitlichen Prozesses bestätigt. Nicht einmal die sprachliche und rechtliche Standardisierung der Privilegien für diese Regionen schaffte es, für das 12. Jahrhundert die Grenzen der Zentralisierung und den starken Einfluss, der von den Empfängern der Dokumente auf ihren wesentlichen Inhalt ausging, zu verschleiern.

Der vierte Teil des Bandes umfasst Aufsätze, die besondere Aspekte betreffen, welche mit der Herstellung und Aufbewahrung der päpstlichen Dokumente verbunden sind. Rudolf Schieffer beobachtet, dass das besondere Gewicht Italiens in den päpstlichen Registern vor 1198 langsam zurückging, während Lotte Kéry die Bedeutung der vorgratianischen kanonistischen Sammlungen für das Auffinden päpstlicher Dokumente in Spätantike und Frühmittelalter illustriert. Giulia Barone und Sebastian Scholz zeigen die Schwierigkeiten, die mit dem Gebrauch des Repertoriums von Kehr bzw. mit den hagiografischen und epigraphischen Quellen verbunden sind. Dietrich Lohrmann widmet sich den im Umfeld der römischen Kurie durchgeführten Prozessen, Werner Maleczek den Kardinälen und ihrer Dokumentation in ihren Schriften und Tommaso di Carpegna Falconieri den Editionen der römischen Dokumente und den künftig notwendigen Initiativen zur besseren Kenntnis der lokalen Archivfonds. Hubert Houben illustriert unter Rückgriff auf Beispiele aus Süditalien die Möglichkeit, verlorene mittelalterliche Dokumente in der Neuzeit zu finden, während Rudolf Hiestand nichtitalienische Dokumente ermittelt und analysiert, die in den ‚Papsturkunden in Italien‘ enthalten sind.

In der fünften und letzten Sektion behandelt Rinaldo Comba die Zisterzienser, Mario Sensi die Reformbewegung Mittelitaliens, Kristjan Toomaspoeg die Ritterorden und Rudolf Hiestand die Kreuzzüge, indem er die Rolle des apostolischen Stuhls als Verhandlungspartner der „universal agierenden Orden in Italien“ hervorhebt.

Völlig zu Recht unterstreichen die Herausgeber in den Schlussfolgerungen die Fruchtbarkeit des Ansatzes von Kehr und zugleich dessen Grenzen sowie die noch möglichen Ergänzungen, um nach einem Jahrhundert die immer noch spezialisierten Studien sowohl mit Blick auf den geografischen Bezug als auch auf die Techniken, mit denen die einzelnen Quellentypen in der päpstlichen Geschichtsschreibung verwendet wurden, zu verbessern. Problematisch bleibt die Definition der regionalen Bereiche, sofern sie dynamisch im Verlauf des Mittelalters betrachtet werden (Lombardei meint im 7. und im 12. Jahrhundert nicht dasselbe!), genauso wie noch die Zusammenhänge von Präsenz und Abwesenheit, Nähe und Ferne des Papstes in bzw. von einer bestimmten Region zu bewerten sind, da die Nähe nicht immer ein Indiz für eine höhere Intensität der Beziehungen oder eine höhere Bereitschaft zur Zentralisierung bedeutete. Dies sind Themen, die dem jüngsten Interesse der europäischen Mediävistik an der räumlichen Dimension der Geschichte und an Fragen der Kommunikation gestatten, neue Wege zu beschreiten, und für die die Bände der Italia Pontificia noch immer einen soliden und unentbehrlichen Referenzpunkt bilden.4

Der Umfang einer Rezension gestattet nicht, die Vielfalt der Themen ausführlich zu erläutern, die im Band in Angriff genommen wurden. Unbestreitbar liegt hier ein Buch vor, das zu beachten ist, sowohl hinsichtlich der Neuheit der Perspektive, die in den Studien zum Papsttum eingeführt wird, als auch hinsichtlich der methodischen Orientierung für diejenigen, die sich mit der mittelalterlichen päpstlichen Überlieferung beschäftigen. Der Nutzen der fremdsprachlichen Zusammenfassungen wird durch sporadische Ungenauigkeiten der Übersetzungen nicht geschmälert, etwa wenn fälschlicherweise von „diplomi papali“ gesprochen wird. Die Heranziehung des Bandes ist zudem erleichtert durch einen ausgezeichneten Index der Personennamen und Orte.5

Anmerkungen:
1 Italia Pontificia, Bd. 1: Roma, hg. von Paul Fridolin Kehr, Berlin 1906.
2 Italia Pontificia, Bd. 10: Calabria – Insulae, hg. von Dieter Girgensohn, Zürich 1975.
3 Vgl. zu diesem Ansatz bereits Jochen Johrendt, Papsttum und Landeskirchen im Spiegel der päpstlichen Urkunden (896-1046), Hannover 2004.
4 Vgl. in diesem Zusammenhang insbesondere das DFG-Netzwerk „Zentrum und Peripherie? Das universale Papsttum und die Regionen Europas“, das von Harald Müller und Jochen Johrendt verantwortet wird und dessen Ergebnisse bereits in einem ersten Band veröffentlich sind: Jochen Johrendt / Harald Müller (Hrsg.), Römisches Zentrum und kirchliche Peripherie. Das universale Papsttum als Bezugspunkt der Kirchen von den Reformpäpsten bis zu Innozenz III., Berlin 2008. Ein zweiter Band ist in Vorbereitung.
5 Übersetzung der Rezension aus dem Italienischen von Lioba Geis (Aachen).

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