M. Opitz u.a. (Hrsg.): Metzler Lexikon DDR-Literatur

Cover
Titel
Metzler Lexikon DDR-Literatur. Autoren – Institutionen – Debatten


Herausgeber
Opitz, Michael; Hofmann, Michael
Erschienen
Stuttgart 2009: J.B. Metzler Verlag
Anzahl Seiten
X, 405 S.
Preis
€ 49,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Claudia Albert, Institut für Deutsche und Niederländische Philologie, Freie Universität Berlin

Sicherlich haben die Herausgeber des Bandes lange über dessen Titel nachgedacht; der vorliegende allerdings bildet die Fülle des Gebotenen nur unzureichend ab, handelt es sich doch um eine DDR-Kulturgeschichte mit umfassenden Einträgen zu Druck- und Verlagswesen bis hin zu Comics und Literaturpreisen, aber auch zur Stasi- und Zensurpraxis. Mag man diese Überschreitung des Versprochenen bis hin zur Nachwendeliteratur und dem erst 2007 publizierten Werner Bräunig (1934-1976) gern in Kauf nehmen, so irritiert ein kategoriales Problem: zahlreiche Artikel, darunter zentral ‚DDR-Literatur (Begriff)‘ (S. 72f.), aber auch viele Autorenporträts verweisen darauf, dass der Terminus „problematisch“ sei (S. 72) oder der Betreffende sich nicht der DDR zugehörig gefühlt habe, was sogar für die Mehrzahl in irgendeiner Phase ihres Lebens gilt! Der Band steht daher mehr im Einklang mit der aktuellen kritischen Diskussion um Verortung und Bestimmung von DDR-Kultur im gesamten deutschsprachigen Kontext1 als es sein Titel und manche Artikel, vor allem aus der Feder älterer Forscherinnen und Forscher wie Eva Kaufmann (*1930) zu erkennen geben. Zusätzlich fördern die gemeinsame Ost-/West-Herausgeberschaft und die Beteiligung mindestens zwölf junger Wissenschaftler aus dem Umfeld von Michael Hofmann in Paderborn einen unparteiischen, nicht mehr von politischen Präferenzen und/oder Feindbildern geprägten Analysefokus. Dieser ist nun um so notwendiger, als lange Zeit für die Analyse von DDR-Literatur auch das (etwa für die Akzeptanz von Gegenwarts- und ‚Migrations‘-Literatur so heilsame) Korrektiv der Auslandsgermanistik ausfiel. Die Stichwörter zur Rezeption der DDR-Literatur in den USA, Frankreich und Italien zeigen, in welchem Maße die jeweils eigenen linken oder ‚antifaschistischen‘ Traditionen – oder zumindest der Wunsch nach ihnen – auf die DDR projiziert wurden, so dass das Ende des Staates auch „den eigenen Identitätsverlust“ etwa der italienischen Intellektuellen (S. 282) markierte, ein Befund, der für die wohl gesonnenen westdeutschen Rezipienten nicht anders aussah.

Die Beiträgerinnen und Beiträger standen daher vor dem Problem, eine Literaturgesellschaft zu charakterisieren, deren staatliche Verfasstheit nun seit 20 Jahren nicht mehr existiert, deren kulturelle und mentale Folgen gleichwohl weiterwirken, nicht nur in Gestalt der Werke selbst, sondern auch in den Diskursen, an denen sie teilhatten, von denen sie sich abgrenzten oder denen sie zugerechnet wurden.2 Manche Einträge, etwa ‚Leseland‘ oder ‚Intelligenz‘ (S. 140-143, S. 189-191), stehen wohl daher von vornherein in Anführungszeichen. So ergibt sich ein diffuses, oft nur im Einzelfall zu eruierendes Geflecht von Textevidenzen, Zensureingriffen und Rezeptionserwartungen, oft auch Fehllektüren. Hätte es noch eines Beweises für die Brüchigkeit der Autorinstanz bedurft – die DDR-Literatur könnte ihn liefern!3 Dies wird in den einzelnen Autorenporträts in unterschiedlichem Maße sichtbar. Heiner Müller sei „als Sohn eines Angestellten und einer Arbeiterin im Geist des Antifaschismus erzogen“ worden – so selbstgewiss wie traditionell leitet Marianne Streisand ihren Artikel ein (S. 227). Es wird dann aber schnell deutlich, dass Müller die Verhaftung des Vaters im Jahre 1933, die er im Alter von vier Jahren erlebte, als „erste Szene“ in ein Narrativ einfügt, das er kontinuierlich aus- und umbaut. Der sozialistische Diskurs als Material aber rückt nur wenig in den Blick der Biographin. Bei Fritz Rudolf Fries beschleicht Michael Opitz offenbar Unbehagen, wenn er konstatiert: Der Autor „versuchte sich im Rollenspiel, als er sich 1976 verpflichtete, für das Ministerium für Staatssicherheit zu arbeiten“, dann aber im Hinblick auf seine späteren Erinnerungen von 1996 meint: „Der Uneinsichtige billigte keiner Institution das Recht zu, ihn moralisch zu verurteilen“ (S. 102). Generell stellt sich gerade bei den Autorinnen und Autoren, die schon lange im Fokus literaturwissenschaftlichen und vielleicht mehr noch öffentlichen Interesses stehen, die Frage, ob die dargebotenen Biographien noch notwendig sind oder ob nicht die oft widerspruchsvolle und wechselnde Positionierung im literarischen Feld von DDR, BRD oder ganz anderen – bei Barbara Honigmann etwa in Straßburg (S. 132), beim (als Einzelautor fehlenden) Chaim (Hans) Noll in Israel (vgl. S. 151f.) – das wichtigere und innovativere Thema gewesen wäre. Aber vielleicht sind mit dieser Anforderung die Grenzen eines derart vielfältigen Lexikons zur Zeit noch überschritten.

Dennoch fällt auf, dass die nicht oder nicht in erster Linie autorzentrierten Artikel von ‚Kafka-Konferenz‘ über ‚Formalismusdebatte‘ bis zu ‚Zensur‘ wesentlich stärker problem- und forschungsorientiert ausfallen. Gerade Stichwörter wie ‚Avantgarde‘, ‚Moderne‘ oder ‚Sozialistischer Realismus‘ verdeutlichen, wie sehr die Debatte über oft für ‚objektiv‘ oder ‚wahr‘ gehaltene Begriffe ein sich ständig veränderndes Kampffeld war, in dem theoretische Überlegungen von Literaturwissenschaftlern auch den Verlagen und Universitäten neue Autoren und Sujets eröffneten – so Michael Opitz im Hinblick auf Barck, Schlenstedt und Thierse zur Kategorie der ‚Avantgarde‘.4 Im Gegenzug aber konnte der Bezug auf den ‚Sozialistischen Realismus‘ ebenso Ablehnung wie Befürwortung eines Werkes zur Folge haben: „In öffentlichen Diskussionen über umstrittene Werke argumentierten die Kontrahenten mit denselben Kriterien“ – so Andrea Jäger (S. 321)!

Gelegentlich macht es der Band, vor allem dem nicht allzu DDR-kundigen Leser, schwer sich zu orientieren: Die nachhaltig wirksame „Anthologie zum Geschlechtertausch-Motiv“ (S. 43) Blitz aus heiterm Himmel von 1970 ist unter diesem Titel verzeichnet, hätte aber im ebenfalls als „problematisch“ (S. 98) apostrophierten Eintrag ‚Frauenliteratur‘ (warum nicht ‚gender‘?) einen besseren Platz gefunden. Die Herausgeberin der Modezeitschrift ‚Sybille‘ erscheint unter ihrem Namen Sibylle Muthesius (S. 231) mit einem Buch über Psychiatrie in der DDR, das im Artikel ‚Tod in der Literatur der DDR‘ mit mehr Aufmerksamkeit hätte rechnen können. Schwer zu entdecken ist auch der gehaltvolle Beitrag von Michael Opitz ‚Auseinandersetzung mit Faschismus und Zweitem Weltkrieg‘, platziert zwischen ‚Ausbürgerung‘ und ‚Ausreisen‘, insbesondere, da ein eigenes Lemma ‚(Anti-)Faschismus‘ fehlt. Natürlich wäre auch hier über die Terminologie zu streiten, insbesondere, da neuere Begriffe wie ‚Schulddiskurs‘, ‚Aufarbeitung‘ oder ‚Vergangenheitsbewältigung‘ fehlen. Schließlich ist der Titel ‚Berliner Geschichten‘ für die von Ulrich Plenzdorf, Klaus Schlesinger und Martin Stade seit 1973 im Selbstverlag geplante, 1976 dann aber abgebrochene und schließlich erst 1995 bei Suhrkamp erschienene Anthologie von Berlin-Texten nicht sehr bekannt. ‚Heimliche Leser‘ kann nur entdecken, wer den einschlägigen Titel kennt.5 Wichtige Förderer und Vermittler wie Walter Benjamin, Ernst Bloch und Hans Mayer sind selbstverständlich präsent, andere wie Alfred Kantorowicz und Werner Krauss (sechs bzw. fünf Nennungen im Personenregister) dagegen fehlen.

Aber man kann auch Überraschendes feststellen: so „rund eine halbe Million West-Ost-Migranten“ zwischen 1949 und 1961 (S. 85), die erhebliche Anzahl der „Bachmann-Preisträger aus der DDR“, oder, mit Jurij Brežan (S. 56f.) und Kito Lorenc (S. 206f.), die Existenz einer sorbischen Literatur. An einem völlig unerwarteten Punkt hat das junge Paderborner Team besonderen Spürsinn bewiesen: Bei den Autoren, die als Fischersöhne geboren wurden! Herbert Nachbar (1930-1980), Uwe Saeger (*1948) und zum Teil auch Alfred Wellm (1927-2001) könnten so als willkommenes Gegengewicht zu den allzeit präsenten Vertretern der thüringisch-sächsischen Dichterschulen erkennbar werden – zumal wenn es einen eigenen Beitrag zu ‚Regionalliteratur‘ gäbe!6 Gerade in der Ermutigung zu solch produktiven Kreuz- und Querlektüren, zum Auffinden von Widersprüchlichem und noch nicht zu Ende Gedachtem erweist sich das Lexikon – in bester DDR-Tradition – als Baustelle.

Anmerkungen:
1 Vgl. den Forschungsbericht von Claudia Albert, „Zwei getrennte Literaturgebiete“? Neuere Forschungen zu ‚DDR‘- und ‚Nachwende‘-Literatur, in : Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 34 (2009), S. 184-223.
2 Das Problem prägte natürlich auch schon den von Simone Barck u.a. herausgegebenen und noch aus einem Forschungsprojekt der Akademie der Wissenschaften der DDR von 1987 hervorgegangenen Vorläuferband „Lexikon sozialistischer Literatur.“ Ihre Geschichte in Deutschland bis 1945, Stuttgart/Weimar 1994. Vgl. meine Rezension, in: Internationale Wissenschaftliche Korrespondenz 31 (1995) H. 4, S. 579-582. Überschneidungen bestehen bei den älteren DDR-Autoren, nicht mehr aber bei den Verfassern der Artikel.
3 Vgl. Fotis Jannidis u.a. (Hrsg.), Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000.
4 Im Art. ‚Avantgarde‘ mit Bezug auf Karlheinz Barck / Dieter Schlenstedt / Wolfgang Thierse (Hrsg.), Künstlerische Avantgarde. Annäherung an ein unabgeschlossenes Kapitel, Berlin/DDR 1979.
5 Siegfried Lokatis / Ingrid Sonntag (Hrsg.), Heimliche Leser in der DDR. Kontrolle und Verbreitung unerlaubter Literatur, Berlin 2008.
6 Diese Kategorie hat vor allem Ursula Heukenkamp immer wieder verteidigt. Vgl. Albert, Literaturgebiete, S. 197-203.

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