Cover
Titel
Slumming. Sexual and Racial Encounters in American Nightlife, 1885-1940


Autor(en)
Heap, Chad C.
Reihe
Historical Studies of Urban America
Erschienen
Anzahl Seiten
432 S.
Preis
€ 25,23
Rezensiert für H-Soz-Kult von
David Sittler, Universität Erfurt

„Slumming“ als Praktik ist für die zu besprechende Monographie nicht nur titelgebend, sondern paradigmatisch. Denn diese Praktik wird sowohl als Aspekt der Geschichte der entstehenden Freizeitkultur der Großstädte betrachtet als auch als zentrales Element des Aushandlungsprozesses kulturellen und gesellschaftlichen Wandels über diese hinaus vorgeführt. Ihr kam, wie Heap überzeugend darlegt, eine wichtige Rolle bei der „emergence of and codification of a new twentieth-century hegemonic social order“ (S. 3) zu. Wie der Autor betont, war „Slumming“ auch eine Rhetorik, die klassen-, geschlechter- und hautfarbenübergreifend verstanden und verwendet wurde.

Bei „Slumming“ handelt es sich um eine zeitgenössische Bezeichnung, die seit den 1880er-Jahren gebräuchlich war.1 Sie beschrieb Exkursionen wohlhabender oder zumindest gesellschaftlich etablierter BürgerInnen in die sogenannten „Slums“ insbesondere großer Metropolen und später auch verschiedene Erkundungen des jeweils exotischsten Nachtlebens. Der britische Vorläufer ist am Beispiel Londons bereits untersucht worden.2 Die Unschärfe des Begriffes ermöglicht es Heap, unter „Slumming“ auf den ersten Blick sehr verschiedene Praktiken zu fassen und immer wieder aufeinander zu beziehen: Beispielsweise reformerische und soziologische Datenerhebungen und eher voyeuristische Ausflüge. Heap geht mehrfach auf den Begriff ein (etwa S. 12). Er verwendet eine präzise eigene Begrifflichkeit, die der komplexen Widersprüchlichkeit des Gegenstands in besonderem Maße gerecht wird: Als Beispiel sei hier die Rede von „Slumming“ als „heterosocial phenomenon“ gegenüber der vorangehenden „rowdy male homosociality“ der Kneipen genannt (S. 3).

Die vorliegende Geschichte des (amerikanischen) „Slumming“ geht deutlich über die ältere Forschung zum printmedialen Erzeugung des „imagined slum“ 3 hinaus und nimmt den Prozess der „moralischen“ Konstruktion der Stadtlandschaft (S. 7) praxeologisch unter die Lupe. Heap erweitert die Perspektive nicht nur um die sexual- und geschlechtergeschichtliche Dimension, wie dies in Einzelstudien getan worden ist 4, sondern konstruiert eine Perspektivierung, die marginalisierte und hegemoniale Perspektiven gerade in ihrem wechselseitigen Verhältnis entfaltet. Motivlagen und Handlungsoptionen der verschiedenen Slum-Besucher werden ebenso wie die Reaktionen der „Objekte“ des „Slumming“ auf ihre zeit- und stadträumliche sowie ideologisch-diskursive Bedingtheit zurückgeführt. Durch das überzeugende Narrativ der aufeinanderfolgenden „Slumming“-Moden kann Heap dabei Verschiebungen in diesem diskursiven und identitären Gefüge sichtbar werden lassen, die er nicht zuletzt als kumulativen Effekt der Praktik erklärt.5 Heaps Studie gehört, so wie für Chicago zum Beispiel die Monografie Andrew Diamonds über Jungendkulturen der Straße, zu den neuen urbanen Historiografien, die mit einer alltagsgeschichtlichen Herangehensweise die lokale Situiertheit „rassischer“ Identität nicht nur betonen, sondern konkret in ihrer Heterogenität und Widersprüchlichkeit auch innerhalb sozialer Gruppen untersuchen.6

Heap ist eine nuancierte Alltagsgeschichte urbanen Zusammenlebens mit Fremden im Amerika des beginnenden 20. Jahrhunderts gelungen, die auch die ökonomische Dimension nicht aus dem Blick verliert (S. 129, 140, 144ff.). Darüber hinaus bietet er eine raumbewusste Diskursgeschichte zu Männlichkeit und in ihrer Verstricktheit mit „Rasse“. Außerdem fügen sich am Beispiel des „slumming“ zum Teil bekannte Verschiebungen der Konzepte von „whiteness“ und „blackness“ zu einer innovativen dichten Kontextualisierung individueller und lokaler „Slumming“-Erfahrungen. Heap zeigt eindrücklich, wie insbesondere in Chicago und New York das hegemoniale Selbstverständnis der amerikanischen Gesellschaft des Zeitraums in Abgrenzung zu den Marginalisierten geprägt wurde, die als „rassisch“ und sexuell anders markiert waren. Insbesondere durch die im „Slumming“ verdichteten symbolischen Grenzüberschreitungen, die sich als repetitive Verfestigungen bzw. Reifizierungen von Differenz erwiesen, konnte wechselseitig das Selbst- und Fremdverständnis erst stabilisiert und die eigene Respektabilität und Normalität hervorgebracht oder reproduziert werden. Heap zeigt die meist nur partielle und momenthafte Aufweichung der Hierarchien klar auf. Fast immer handelte es sich eher um die (Re)Produktion derselben. Er erwähnt ebenso echte Freundschaften über die „color line“ hinweg wie er auch klar die Grenzen der Annäherung, im primitivistischen Blick oder Gehör etwa weißer Jazzmusiker deutlich macht.

Die einzige Kritik: Leider gibt es zwar einen nützlichen Index, dafür aber kein Verzeichnis der verwendeten Literatur, die man sich mühsam aus den Endnoten heraussuchen muss. Der Aufbau und die Gliederung des Buches sind hingegen klar und übersichtlich und verdeutlichen die spezielle Perspektivierung:

Im ersten Teil wird die räumliche Dimension der Praktik als symbolische Territorialisierung betrachtet. Er besteht aus zwei Unterkapiteln, deren Überschriften „into the slums“ und „beyond the slums“ die Entgrenzung des „Slummings“ im Zuge der offiziellen Abschaffung der Rotlichtviertel um 1910 sowie der zunehmenden Kommerzialisierung ankündigen. Die informelle Verlagerung in die „Schwarzenviertel“ wiederholte sich beim „Pansy and Lesbian craze“. Mit eigens angefertigten Karten und mit zeitgenössischen Amüsierviertel-Plänen werden die räumlich-demografisch-geografischen Konstellationen in New York und Chicago verdeutlicht, die für das „Slumming“ konstitutiv waren.

Im zweiten Teil widmet sich Heap chronologisch den drei von ihm ausgemachten folgenden „Slumming“-Moden: „Bohemian Thrillage“, „Negro Vogue“ und „Pansy and Lesbian Craze“. Kapitel 3 befasst sich mit den Wohltätigkeitsaktivitäten sowie der Popularisierung des „Slumming“ und seiner Theatralität (S. 147ff.) auf und jenseits der Bühne. Der Wandel der nächtlichen, ober-, mittel-, und unterschichtlichen Freizeitkulturen wird gerade in ihrer Berührung vorgeführt. Die sich immer stärker zeigende Schwarz-Weiß-Achse und zunehmende Zentralität dieser Kontrastierung für die hegemoniale und urban dominierte US-Kultur wird selbst innerhalb der Randgruppen von Heap aufgespürt (S. 251). Die Dichte der Materialbelege und die in den Bildunterschriften zum Teil interpretierten historischen Fotos (S. 202) bedeuten eine faszinierende Anschaulichkeit. Heap geht auch immer wieder auf Widerstand gegenüber dem „slumming“ ein (S. 206ff.). Seine Argumentationen sind deshalb überzeugend, weil er auch gegensätzliche Interpretationen nicht gegeneinander ausspielt, sondern auf der Opakheit des Gegenstands beharrt.

Kapitel 4 und 5 widmen sich insbesondere dem Aushandeln von neuen „Grenzen des Anstands“ im sexualisierten Raum der „Boheme“, gerade durch freie Liebe erprobende Frauen (S. 180). Es befasst sich zudem mit dem „othering“ aller Schwarzen durch das „Slumming“, das es schließlich in den 1920er-Jahren auch sozial aufsteigenden jüdischen und italienischen Immigranten erlaubte, sich öffentlich als weiß zu markieren – im Gegensatz zu den Asiaten, die das „Slumming“ lediglich als Entzugsmöglichkeit gegenüber der Kontrolle ihrer ethnischen Gemeinschaften nutzen konnten. Kapitel 6 thematisiert unter anderem die Verschiebung der sexuellen Differenz als Hauptmarkierung der Abgrenzung, die mehr und mehr an die Stelle einer rassisch markierten Differenz trat (S. 241). Im Epilog macht Heap überzeugend deutlich, dass die Epoche des „Slumming“ mit dem Zweiten Weltkrieg ihr Ende fand und diese Praktik im Zuge zunehmender Suburbanisierung enorm an Bedeutung verlor.

Der Autor geht reflektiert mit dem Quellenmaterial um (soziologische Feldstudien, Memoiren, Material der Reformbewegung etc.). Er verwendet aber trotz der mehrfachen und wichtigen Thematisierung der Sichtbarkeit bzw. Unsichtbarkeit von Personengruppen und sozialen Ordnungen keine mediengeschichtliche Begrifflichkeit. Dies kann er zum Teil durch seine treffende Metaphorik ausgleichen. So beschreibt er zum Beispiel die Figur der schwarzen Prostituierten als „a useful foil for white women’s increasingly public sexual behavior“ (S. 206). Das Buch ist den mit US-amerikanischer Stadt- und Metropolengeschichte Befassten ebenso ans Herz zu legen wie jemanden, der/die sich für die Geschichte der Sexualität, des Rassismus oder auch für Migrationsgeschichte der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts interessiert.

Anmerkungen:
1 Seth Koven, Slumming, Sexual and Social Politics in Victorian London, Princeton, Oxford, 2004, S. 9.
2 Koven, Slumming, wie Anmerkung 1.
3 Alan Mayne, The Imagined Slum. Newspaper Representation in Three Cities, 1870–1914, Leicester 1993.
4 Heap verweist selbst in Fußnote 2, S. 287-8 auf eine Reihe einschlägiger Titel. Als Beispiel sei angeführt: Scott Herring, Queering the Underworld. Slumming, Literature, and the Undoing of Lesbian and Gay History, Chicago 2007.
5 Z.B. S. 174: „the cumulative result of thousands of such slumming experiences in bohemia effected the broadening acceptance of the new middle- und upper-class social phenomenon of dating“.
6 Andrew J. Diamond, Mean Streets. Chicago Youths and the Everyday Struggle for Empowerment in the Multiracial City, 1908-1969, Berkeley 2009.

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