Cover
Titel
Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914


Autor(en)
Blom, Philipp
Erschienen
München 2009: Carl Hanser Verlag
Anzahl Seiten
528 S.
Preis
€ 25,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Thomas Birkner, Institut für Journalistik und Kommunikationswissenschaft, Universität Hamburg

Gleich mit dem Titelbild zieht Philip Blom den Leser in sein Buch hinein. Es ist die Photographie eines Rennwagens, der zu schnell für den Photographen war. Das Photo von 1912 zeigt nur sein Heck und symbolisiert so die Schnelligkeit der Jahre zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zwar sah schon Heinrich Heine 1843 in Paris „unsere ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen“ 1, doch in den hier beschriebenen Jahren von 1900 bis 1914 kulminierten die Entwicklungen der Moderne.

Europa taumelte zwischen dem zerberstenden Alten und dem mächtig sich herauf schwingenden Neuen. „Die moderne Welt, das zeigt sich bei näherem Hinsehen, erhob sich nicht aus den Schützengräben der Somme und den Ruinen Flanderns, sondern hatte schon vor 1914 die Menschen längst ergriffen.“ (S. 13) Das war eben aufgrund des Krieges bisher so leicht zu übersehen, auch wenn unter anderem Paul Nolte und Jürgen Osterhammel hierzu bereits geforscht haben.2 Blom aber greift weniger die einschlägige Literatur oder den Forschungsstand auf – vielmehr konstruiert er ein mehrstimmiges Panorama aus ausgewählten Quellen. Sein Gedankenexperiment, die Jahre vor dem „zweiten Dreißigjährigen Krieg“ 3 ohne diesen zu betrachten, eröffnet einen neuen Blick auf diese wohl turbulenteste Friedensphase in der europäischen Geschichte. Die Geburtswehen der Moderne werden so in der ganzen Widersprüchlichkeit der Epoche deutlich.

Jedes Kapitel steht für ein Jahr und ein Leitthema. 1900 macht die Weltausstellung in Paris den Auftakt, die das neue Jahrhundert mit Nostalgie und Zukunftsangst begrüßte. Als Belege dienen Blom hier auch die großen Schriftsteller der Zeit; geschickt verquickt er unter anderem Thomas Manns „Buddenbrooks“ und Miguel de Unamunos großartigen Roman „Niebla“ mit Robert Musils „Mann ohne Eigenschaften“ (S. 33) – wobei letzterer ein vielleicht etwas zu oft wiederkehrendes Motiv des Buches ist. 1901 steht im Zeichen des Todes Queen Victorias. Das Ende des nach ihr benannten Zeitalters bringt auch den beschleunigten Abstieg der britischen Aristokratie im Zuge der wirtschaftlichen Globalisierung im Commonwealth. 1902 ist es der kafkaeske Zerfall des Habsburgerreichs, den Karl Kraus beißend als „Experimentierstation für den Weltuntergang“ (S. 96) kommentiert und den auch Siegmund Freud nur noch analysieren, nicht aber kurieren kann. 1903 behandelt die Curies, vor allem Marie als intelligente und willensstarke Frau und Doppelnobelpreisträgerin, auch wenn es ihrem Mann Pierre überlassen ist, Worte zu sprechen, die nichts von ihrer Aktualität verloren haben: „In den Händen von Kriminellen könnte Radium sehr gefährlich werden, und hier müssen wir uns fragen, ob die Menschheit wirklich davon profitiert, die Geheimnisse der Natur zu enthüllen, ob sie bereit ist, oder ob dieses Wissen schaden wird.“ (S. 104) Es ist das Zeitalter der Wissenschaften und überall blühte bald Science-Fiction-Literatur, nur nicht in Deutschland. Dort, so vermutet Blom, schritt das Leben so schnell voran, dass man sich literarisch lieber mit den Geschichten von Karl May erholte.

1904 führt auf den afrikanischen Kontinent, wo die unvorstellbaren Grausamkeiten der Belgier im Kongo und die deutschen Massenmorde an den Herero für die schrecklichen, systemimmanenten Auswüchse des europäischen Imperialismus stehen. Doch das Kapitel erzählt auch die Geschichte von Edmond Morel aus Liverpool – der die belgischen Verbrechen, bei denen wohl mehr als zehn Millionen Menschen starben, aufdeckte – als „erste groß angelegte Menschenrechtskampagne“ (S. 137). 1905 geht es ins unruhige und verwirrte Russland, welches auch Blom nicht entwirren kann. Hier hätte die Tatsache, dass 1905 der Frieden zwischen Russland und Japan in den USA verhandelt wurde, deutlicher hervorgehoben werden können. Denn trotz des bekennenden Eurozentrismus des Buches beginnt hier eben das „amerikanische Jahrhundert“. In dem dazugehörigen Krieg hatten die Japaner die russische Flotte vernichtet – auch eine geopolitische Zeitenwende. 1906 geht es folgerichtig um das Flottenwettrüsten, in welches das Deutsche Reich die Briten und sich selbst, dann die ganze Welt stürzte. 1907 schließt sich die Internationale Friedenskonferenz in Den Haag an, wobei im gleichen Jahr der russische Außenminister Alexander Iswolski erklärte, Abrüstung sei ein „Fimmel von Juden, Sozialisten und hysterischen Weibern“ (S. 220). Über Anwesende bei der Vorgängerkonferenz von 1899 hatte der Leiter der deutschen Delegation Graf Münster geschimpft: „Journalisten der übelsten Sorte wie Stead, getaufte Juden wie Bloch und weibliche Friedensfanatiker wie Frau von Suttner“ (S. 225). Die Friedensnobelpreisträgerin Bertha von Suttner stellt Blom in die Mitte des friedensbewegten Kapitels 1907 und schafft so einen gelungenen Übergang zum nächsten.

Denn 1908 geht es vor allem um die Frauenbewegung; den Auftakt macht die Großdemonstration der Suffragetten im Londoner Hydepark. Der medienwirksame Protest der Frauen gegen die älteste Unterdrückung der Geschichte wurde in Großbritannien immer gewalttätiger, bezog sich dort aber fast ausschließlich auf die Erlangung des Wahlrechts. In Deutschland ging es intellektuellen Frauen wie Anita Augspurg um vollständige Gleichberechtigung. Blom beschreibt dies sehr anschaulich, ohne jedoch auf die hervorragende Augspurg-Biographie von Susanne Kinnebrock zu verweisen.4 Der rote Faden von Bloms Erzählung tritt hier am deutlichsten hervor: Die Krise der Männlichkeit. Blom sieht sie offenbart in Skandalen um Homosexuelle, in sinkenden Geburtenraten und in einer industriellen Landschaft, welche männliche körperliche Arbeit schlicht überflüssig machte. „Kaiser Wilhelm, ‚Dreadnought‘-Schlachtschiffe mit riesigen Kanonen, Duelle und Bodybuilder, Marineanzüge und große Militärparaden – all dies waren sowohl Mosaiksteine in diesem Kult der Männlichkeit als auch Reaktionen auf eine weit verbreitete Unsicherheit über männliche Identitäten“ (S. 216), deren offensichtlichstes Symptom die „Nervenschwäche“ war. Doch nicht nur die sich emanzipierenden Frauen und das damit schwankende Bild des eigenen Geschlechts, auch die Motorisierung strapazierte die Nerven und schuf doch gleichzeitig neue Möglichkeiten, sich als Mann am Steuer auf der Straße oder in der Luft zu beweisen. 1909 beginnt mit dem Flug Louis Blériots über den Ärmelkanal und endet im kollektiven Nervenzusammenbruch. Als Grund hierfür wurde besonders das großstädtische Leben gesehen, der Begriff „Newyorkitis“ war geboren und als Gegenmittel wurden Cannabis, Kaffee, Wein und schließlich Sanatorien wie jenes in Manns „Zauberberg“ empfohlen. Das Mitteilungsbedürfnis jener Jahre, welches uns in Zeiten von Facebook und Twitter durchaus vertraut erscheint, kritisierte damals ausgerechnet George Orwell, der meinte, dass „nun ‚jede[r] Fruchtsaftapostel, Nudist [...], Sandalenträger und Sexverrückte‘ glaubte, eine politische Botschaft zu haben“ (S. 241). Der noch heute tobende Kampf um Erfolg im Beruf und Amüsement in der Freizeit, also das Nebeneinander von Konsum- und Leistungsgesellschaft, hat hier seinen Ursprung.

Virginia Woolf hat den Beginn der Moderne 1910 angesetzt, und deshalb beginnt Blom das entsprechende Kapitel mit ihr. Hier stehen vor allem Wandlungsprozesse in der Kunst im Vordergrund, wie sie mit den Namen Picasso, Matisse, Klimt verbunden sind. 1911 feiert Kino und Kaufhaus als Paläste für das Volk, wo die Spannung zwischen Bequemlichkeit und Aufregung besonders groß ist. 1912 dreht sich um die Eugenik, die naturwissenschaftliche Verballhornung von Nietzsches Übermensch; „ein zweiter Siegfried, der allerdings griechisch kann“, wie Bertrand Russell lästerte (S. 410). 1913 steht dann im Zeichen von Wagners Wahn, jedoch nicht von Richard, sondern von Ernst August Wagner. Der Dorfschuldirektor lief Amok und ermordete 13 Menschen. Er personifizierte den Wahnsinn seiner Zeit und erinnert doch auch an unsere. 1914 erwähnt Blom dagegen – seinem Konzept konsequent folgend – den bedeutenden Mord von Sarajevo kaum.

Der Hektik der Epoche entsprechend ist Bloms Prosa sehr sprunghaft; das passt, liest sich manchmal aber etwas anstrengend. Der Gewinn ist ein vielschichtiges und atemloses Porträt der Zeitenwende. Der Preis sind Sprünge, Unebenheiten und Auslassungen. Und doch ist der Leser am Ende froh, hier das vielleicht zu oft vernachlässigte Heck des Rennwagens der Jahre 1900 bis 1914 unkonventionell und spannend wie selten präsentiert bekommen zu haben.

Anmerkungen:
1 Zitiert nach: Heinrich Heine, Sämtliche Schriften, herausgegeben von Klaus Briegleb, Bd. 5, München 2005, S. 499.
2 Vgl. u.a. Paul Nolte, 1900: Das Ende des 19. und der Beginn des 20. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Perspektive, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996), S. 281-300 und Jürgen Osterhammel, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, vgl. Friedrich Lenger: Rezension zu: Osterhammel, Jürgen: Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts. München 2009, in: H-Soz-u-Kult, 13.03.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-210>.
3 Winston S. Churchill, Der Zweite Weltkrieg, 1.Band: Der Sturm zieht auf, Hamburg 1949, S. 11.
4 Susanne Kinnebrock, Anita Augspurg (1857-1943) – Feministin und Pazifistin zwischen Journalismus und Politik. Eine kommunikationshistorische Biographie, Herbolzheim 2005, vgl. Kerstin R. Wolff: Rezension zu: Kinnebrock, Susanne: Anita Augspurg (1857-1943). Feministin und Pazifistin zwischen Journalismus und Politik. Eine kommunikationshistorische Biographie. Herbolzheim 2005, in: H-Soz-u-Kult, 13.06.2005, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-2-182>.

Redaktion
Veröffentlicht am
Beiträger
Redaktionell betreut durch
Klassifikation
Region(en)
Mehr zum Buch
Inhalte und Rezensionen
Verfügbarkeit
Weitere Informationen
Sprache der Publikation
Sprache der Rezension