Cover
Titel
Worte/Widerworte. Volker Baer: Texte zum Film 1958–2008


Herausgeber
Schenk, Ralf
Reihe
edition film-dienst 6
Erschienen
Marburg 2009: Schüren Verlag
Anzahl Seiten
310 S.
Preis
€ 24,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Günter Agde, Berlin

Es geschieht nicht eben oft, dass einem deutschen Filmkritiker einer überregionalen Tageszeitung noch zu Lebzeiten eine Auswahl seiner Rezensionen als Quellenpublikation gewidmet wird. Der vorliegende Band versammelt über hundert meist kurze Texte, die der Filmpublizist Volker Baer (Jahrgang 1930) im Berliner „Tagesspiegel“ von 1960 bis zu seinem Ausscheiden 1994 – und einige danach in Fachzeitschriften – veröffentlichte: vor allem Filmrezensionen, Festivalberichte, Kritiken von Filmbüchern, Pamphlete zu aktuellen filmpolitischen Diskursen im damaligen Westberlin, Miszellen zum Kinobetrieb – ausgewählt aus rund siebentausend Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln seines Archivs.

Das bescheiden aufgemachte Buch scheint wie ein Gruß aus fernen paradiesischen Filmkritiker-Zeiten: Baer hatte eine regelmäßige Filmseite in seinem Blatt, eine ganze Seite nur für Film und dies Woche um Woche und über Jahre. Die Filmseite füllte Baer selbst und mit seinem Mitarbeiterstab, darunter auch zahlreichen freien Autoren: Baer achtete stets darauf, dass seine Autoren sachkundig und aktuell, mit Niveau und Anspruch über jeweils neue Filme in den Kinos berichteten, so wie er es selbst über die Jahre hin tat. Glaubt man seiner Aussage (in dem dem Buch vorangestellten Werkstatt-Interview, geführt von Herausgeber Ralf Schenk), so hat er seine Autoren stets ihre Meinung schreiben lassen, wenn sie ihm fundiert erschien, und hat nicht zensierend in ihre Texte eingegriffen oder ihnen seinen Kinogeschmack oktroyiert. Das zeugt noch im Nachhinein von passender Auswahl der Autoren durch Baer und von der jeweiligen tatsächlichen Qualität jener Leute. Da war auch aktuelle Filmkritik noch nicht – wie heutzutage so oft zu lesen – zu Waschzettelprosa oder zu blanker Werbung verkommen. Apropos Zensur: durch viele Texte Baers zieht sich ein anhaltender, kritisch-analysierender Diskurs mit den Entscheidungen der Freiwilligen Selbstkontrolle der Filmwirtschaft (FSK), dem – ja doch – bundesdeutschen Filmzensurgremium mit großem Einfluss.1 Er moniert, hinterfragt, kritisiert, anerkennt manche Entscheidungen der FSK, auch dies – wie er findet – eine Aufgabe des Filmkritikers.

In der Kurzform einer Tageszeitungs-Rezension, die ja auch eine eigentümliche literarische Kunstform sein kann, führte er selbst eine streitbare Feder – nicht zugespitzt, schneidend, effektvoll, wie etwa berühmte Vorgänger seines Fachs, sondern pointiert, um Verständnis für die besondere Kunstform Film werbend, den Intentionen der Filmemacher noch dort folgend, wo sie offensichtlich die Grenzen seines Geschmacks erreichten, stets treffend formuliert und voller einfühlsamer Sympathie für die Filmemacher. Und immer hat er neben Drehbuchautoren, Regisseuren und Schauspielern die Filmleute der sogenannten zweiten Reihe – also vor allem Filmarchitekten und Kameraleute, ohne die Kino nun eben mal nicht geht – zu beurteilen gewusst. Auch das ist heutzutage eine Seltenheit in der Tagespresse.

Baer verteidigt ein Kino realistischen, spannenden Erzählens mit Kunst- und Lebensanspruch, also bestes Autorenkino sowohl aus West- als auch Ostdeutschland und über Deutschland hinaus. Filmexperimenten gegenüber bleibt er vorsichtig zurückhaltend bis skeptisch und voller Hoffnung, dass diese Experimente die Formensprache des modernen Kinos wirklich und dauerhaft bereichern und nicht Abwege oder Irreführungen bleiben. Seine Filmfavoriten bilden allemal Eckpfeiler des – vor allem – bundesdeutschen, zeitgenössischen Kinos. Eine Fehleinschätzung ist ihm wohl nicht unterlaufen (oder er hat sie nicht in die Edition aufnehmen lassen). Da findet er dann auch treffende Urteile über Filme aus Osteuropa einschließlich der DDR, wenn sie ihren Weg zu ihm finden, was oft über die Berlinale gelingt. Überhaupt schätzt er Filmfestivals als dynamisches Scharnier für internationale Filmentwicklungen. Die Auswahl seiner Texte offeriert eine Ost-West-Balance, die letztendlich immer der Filmkenner und -liebhaber Baer entscheidet. Auch sein Engagement für den Wolfgang-Staudte-Preis (den es mittlerweile auch nicht mehr gibt) gehört hierher.

Eine wichtige Quelle für Baers Filmverständnis bildet seine Diskussion mit dem NS-Film, und dabei vor allem mit Protagonisten des NS-Kinos, etwa den Regisseuren Veit Harlan und Leni Riefenstahl und dem Reichsfilmintendanten Fritz Hippler. Jeweiliger Anlass war das Erscheinen ihrer Lebenserinnerungen, die, wie vergleichsweise auch Albert Speers Memoiren, landesweit Auseinandersetzungen herausforderten.2 Entschieden und sachkundig weist Baer die durchaus geschickten Rechtfertigungs- und Verschleierungsversuche zurück und auf die unheilvollen Verstrickungen jener Prominenten in die Filmpolitik des Dritten Reiches hin. Mittlerweile hat auch die Filmgeschichtsschreibung zahlreiche Fakten zutage gebracht, die die Behauptungen jener Autoren aktenkundig widerlegen können.3 Baer immerhin hat seinerzeit einen entschiedenen Anfang dieses kritischen Diskurses gesetzt. Dem steht Achtung und so etwas wie filmhistorische Dankbarkeit den Filmemigranten gegenüber: deutsche Filmkünstler, die vor dem NS-Regime emigrieren mussten, in hohem Alter noch einmal Berlin besuchten und hier geehrt und gefeiert wurden. Das gilt für Marlene Dietrich, die bei ihrem Besuch seinerzeit in Berlin noch viel geschmäht wurde, und ebenso den Hollywood-Agenten Paul Kohner, einen agilen, einfallsreichen Vermittler zwischen den deutschen Filmemigranten und der Hollywood-Filmindustrie der 1930er-Jahre. Die Stiftung Deutsche Kinemathek hat die Nachlässe Dietrichs und Kohners angekauft und damit enorme Schätze nach Berlin geholt.

Kenner der Materie spenden Baer in Nachworten nobles Lob: Hans Helmut Prinzler, langjähriger Leiter der Stiftung Deutsche Kinemathek, und Wolfgang Klaue, langjähriger Leiter des Staatlichen Filmarchivs der DDR. Ihre Meinungen zu Baer sind angenehm zu lesen, weil sie mit Baers Leistung berechtigterweise sympathisieren, aber es hätte ihrer kaum bedurft: Baers Texte sprechen für sich.

Diese Quellensammlung bildet unter der Hand so etwas wie einen Abriss der bundesdeutschen Filmgeschichte in entscheidenden Jahren, gesehen mit den Augen eines sympathisierenden, verständnisvollen und geschmackssicheren, vor allem öffentlichkeitsbewussten Begleiters. Die Ausgabe reiht sich durchaus in die Reihe anderer Quellensammlungen ein, wenngleich sie bei weitem nicht so opulent ausgestattet ist und sich mit der blanken Textsammlung bei leserfreundlichem Layout (natürlich mit solidem Personen- und Filmtitelregister) begnügt.4 Und es bleibt der Wunsch nach weiteren solcher Quelleneditionen.

Anmerkungen:
1 Vgl. dazu jetzt: Jürgen Kniep, „Keine Jugendfreigabe!“ Filmzensur in Westdeutschland 1949-1990, Göttingen 2010.
2 Veit Harlan, Im Schatten meiner Filme, Gütersloh 1966; Leni Riefenstahl, Memoiren, München 1987 und Fritz Hippler, Die Verstrickung, Düsseldorf 1981. Ich verweise auch auf die aktuelle Homepage der 2003 verstorbenen Leni Riefenstahl hin: <http://www.leni-riefenstahl.de> (23.07.2010).
3 In Sachen Riefenstahl etwa Ray Mueller in seinem Dokumentarfilm „Die Macht der Bilder“ 1993, sowie der Katalog des Filmmuseums Potsdam zur Riefenstahl-Ausstellung 1999 und Rainer Rother, Leni Riefenstahl. Die Verführung des Talents, Berlin 2000.
4 Vgl. die Reihe „Film & Schrift“, die Rolf Aurich und Wolfgang Jacobsen in der Münchner Edition Text + Kritik seit 2005 herausgeben.

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