I. Mieck u.a. (Hgg): Nachkriegsgesellschaften

Titel
Nachkriegsgesellschaften in Deutschland und Frankreich im 20. Jahrhundert. Sociétés d'après-guerre en France et en Allemagne au 20e siècle


Herausgeber
Mieck, Ilja; Guillen, Pierre
Erschienen
München 1998: Oldenbourg Verlag
Anzahl Seiten
294 S.
Preis
€ 39,80
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Imke Sturm

Nichts an diesem Band tritt in einfacher Form auf. Zwei Gesellschaften werden verglichen und zwei Nachkriegszeiten, die Beiträge sind von zwei Herausgebern zusammengestellt und in zwei Sprachen verfaßt. Doppelungen gibt es dabei aber auch nicht, denn es sind neue Erträge aus deutschen und französischen Historikerwerkstätten, die hier versammelt sind und zeigen, daß man sich schon auf beide Länder separat einlassen muss, um den Vergleich konsequent durchzuführen und die Beziehungsgeschichte zu untersuchen.

Der Titel wird dabei dem zeitlichen Spektrum der angebotenen Themen nicht ganz gerecht. Zwar dominieren im Band die beiden Nachkriegszeiten des 20. Jahrhunderts, wie der Buchdeckel verspricht. Aber in immerhin fünf der zwanzig Beiträge reicht der Vergleich ins 19. Jahrhundert zurück. Seit 1870/71 standen sich Frankreich und Deutschland in drei Kriegen als feindliche Parteien gegenüber und waren gleichzeitig Nachbarländer in Europa mit vergleichbaren politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Erfahrungen. Zwei Kernfragen ergeben sich aus dieser Konstellation: Welche Folgen hatten Sieg oder Niederlage für die französische und die deutsche Gesellschaft im Vergleich? Und: Wie ordnen sich die nationalen Bewältigungsstrategien ein in die Geschichte der deutsch-französischen Beziehungen? Auf den Gebieten der Demographie, der Wirtschaft, der Kultur, der Politik und des Militärs werden hier Antworten auf diese Fragen gesucht. Frankreich und Deutschland sind in den letzten Jahren vor allem für die Sozial- und Kulturgeschichte zum beliebtesten Länderpaar des internationalen Vergleichs geworden. Die vielen Parallelen und Ähnlichkeiten, die den historischen Vergleich der beiden Länder herausfordern, werden auch im vorliegenden Band bestätigt. Gleichzeitig wird ein klarer Akzent auf Unterschiede gesetzt, die, wie hier deutlich wird, auch im Erlebnis von Sieg oder Niederlage mit allen politischen und gesellschaftlichen Implikationen begründet sind.

Beides - und darüber hinaus die charakteristische Annäherung der beiden Staaten während des 20. Jahrhunderts - wird zunächst am Beispiel der Wirtschaftspolitik untersucht. Die von den Deutschen im Elsaß geförderte Exportwirtschaft wird nach 1918 nicht fortgesetzt (Michel Hau), und deutsche Unternehmen werden nach dem Ersten Weltkrieg bis in die Führungskultur hinein nach französischen Traditionen umgestaltet (Stefan Fisch). Wie trotz der finanziellen Kriegsfolgen und ohne französische Eingriffsmöglichkeiten Investitionen nach Deutschland gezogen werden konnten, zeigt Albert Broder. Das französische Vorgehen läuft dabei auf eine finanzpolitische Maginot-Linie hinaus, die ebenso wirkungslos bleibt wie die tatsächliche. Nach dem Zweiten Weltkrieg werden einige Lehren aus der Zwischenkriegszeit gezogen, wie Werner Bührer in seinem Vergleich belegt. Dabei scheint es vor allem der wirtschaftliche Machtverlust gewesen zu sein, der beide Länder zur fruchtbaren Kooperation zwingt. Anhand von Statistiken zeigt sich, daß die liberale Handelspolitik, die Béatrice Dedinger als Kennzeichen der deutschen Wirtschaft seit 1879 bestimmt, in beiden Nachkriegszeiten den Wirtschaftsaufschwung gefördert hat. Dabei ist der Umfang der Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft nach dem Zweiten Weltkrieg in den beiden Ländern sehr unterschiedlich. Beide lavieren zwischen Neuanfang und Krise, wie Hartmut Kaelble, stets Europa im Blick, darlegt. Während die junge Bundesrepublik eher an Traditionen anknüpft, werden in Frankreich Wirtschaft und Gesellschaft gründlich modernisiert. Hinsichtlich der Politik entdeckt Kaelble dagegen in Frankreich eher Kontinuitäten und in der Bundesrepublik den grundlegenden Wandel.

Ein Beispiel politischer Kontinuität in der neuesten französischen Geschichte ist ganz sicher die Bevölkerungspolitik. Elisabeth Bokelmann betrachtet den Zeitraum nach dem Ersten Weltkrieg, als Frankreich seinen als drastisch empfundenen Bevölkerungsmangel mit Einwanderung und Familienförderungsprogrammen auszugleichen sucht. In Deutschland bereitet dagegen zur gleichen Zeit eine als zu hoch geltende Bevölkerungsdichte Sorge. Folge dieser Einschätzung ist eine liberale Politik gegenüber Abtreibung und Geburtenkontrolle, die erst in den dreißiger Jahren von pronatalistischen Strömungen überlagert wird. Unterschiedliche gesellschaftspolitische Ansätze zeigen sich auch bei der Rückführung und Integration von Lagerhäftlingen und Zwangsarbeitern nach dem Zweiten Weltkrieg, die von Michel Fabreguet an den Beispielen Frankreich, Österreich und den beiden deutschen Staaten untersucht wird. Der Vergleich macht deutlich, wie die jeweiligen Strategien der 'Vergangenheitsbewältigung' über Dauer, Umfang und Bedeutung der Anerkennung als gesonderte Opfergruppe bestimmen - wo jeder Opfer ist, darf der Einzelne nicht mehr hervortreten. Die kollektive Eigenwahrnehmung als Sieger oder Unterlegener wirkt auch noch auf die Nachgeborenen zurück, indem sie sich in den Lehrplänen der Schulen niederschlägt. Jacques Gandouly zeigt, wie gerade in der Situation der Niederlage staatliche Bildung nationale Einheit sichern muss und vergleicht Frankreich nach 1871 und Deutschland nach 1918. Die Staatsmänner Jules Ferry und Carl Heinrich Becker ähneln sich in ihrem Anliegen: "Il ne suffit pas d'instruire, il faut ... éduquer la nation" (152). In Frankreich muss dabei ein exzessiver Zentralismus überwunden werden, in der Weimarer Republik sind es dagegen gerade die zentrifugalen Kräfte, die zusammengeführt werden müssen. Doch erlaubt die Selbstvergewisserung nach der Niederlage noch den Blick auf die Kultur des Feindes? Monique Mombert untersucht diese Frage anhand einer Reihe von Entwicklungen und Veränderungen im Sprachunterricht. Der Unterricht der deutschen Sprache bricht nach 1871 nicht ab, doch die Sprache des Feindes kann nur weiter unterrichtet werden, wenn Kultur und Politik eine scharfe Trennung erfahren, und so endet die deutsche Geisteswissenschaft für den Sprachunterricht in Frankreich nach 1871 mit Goethes Tod.

Ursula E. Koch dokumentiert das Vorkommen und die Entwicklung von Karikaturen in deutschen und französischen Zeitungen und Zeitschriften vor allem der zwanziger und dreißiger Jahre. Berlin läuft in dieser Zeit an Produktivität und Kreativität den traditionellen Hochburgen München und Paris den Rang ab. Für jede Meinungsrichtung gibt es ein eigenes Satireblatt. Verzerrende und verspottende Darstellungen der jeweiligen Nationalfiguren 'Deutscher Michel/Germania' und 'Marianne' treten in beiden Ländern vor allem in der Rechtspresse auf. Dabei ist Marianne in den deutschen Karikaturen nach Inkrafttreten des Versailler Vertrags besonders unvorteilhaft skizziert, während Germania von französischen Karikaturisten mit den beginnenden Erfolgen der NSDAP als immer bedrohlicher dargestellt wird. Gute Beziehungen bieten meist wenig Stoff für überzeichnete Figuren, und peitschenschwingende Mariannen oder gepanzerte Walküren fanden offensichtlich mehr Anklang beim klischeegeschulten Publikum.

Auch in der Geschichtsschreibung werden Sieg und Niederlage verarbeitet, wie Beate Goedde-Baumanns an den Schriften zeitgenössischer Historiker untersucht. In den Werken der beiden Historiker Albert Sorel und Hermann Oncken treten charakteristische nationale Selbstbilder gerade in Abgrenzung zur jeweiligen Siegernation hervor. Sorel evoziert am Ende des 19. Jahrhunderts 'la France généreuse', Oncken beklagt nach dem Ersten Weltkrieg für Deutschland das Schicksal 'fremder Missgunst' (205). Auffallend ist die unterschiedlich starke Bereitschaft zur nationalen Selbstkritik: Sorel benennt Fehlentwicklungen der französischen Außenpolitik im 19. Jahrhundert, während Oncken auf deutscher Seite immer das rechte Anliegen mit den rechten Mitteln verfolgt sieht.
Zu einem Brennpunkt der gesellschaftspolitischen Folgen der Niederlage werden die Universitäten, wie Corine Defrance an der Hochschulzulassungspolitik der West-Alliierten in den deutschen Besatzungszonen nach 1945 zeigt. Nach welchen Kriterien wurde die zukünftige Elite ausgewählt, und wer stellte die Kriterien auf? Schon bald nach der Entnazifizierung unterscheiden sich die Zulassungskriterien in den einzelnen Zonen. Ehemalige Wehrmachtsoffiziere werden am ehesten noch in der amerikanischen oder britischen Zone eingeschrieben, während die französischen Besatzungsbehörden besonders um soziale Integration bemüht sind. In allen westlichen Besatzungszonen werden Männer den weiblichen Bewerbern vorgezogen, um die Geschlechteranteile wieder den Vorkriegsverhältnissen anzunähern.

Diese zweite europäische Nachkriegszeit des 20. Jahrhunderts ist für die Annäherung der beiden hier verglichenen Länder die entscheidende, wie sich auch in den Beiträgen zum Bereich 'Politik und Militär' zeigt.
Den Wiederaufbau des diplomatischen Verwaltungsapparats nach den beiden Weltkriegen und die Reformen der Außenministerien untersuchen jeweils vergleichend Jacques Bariety für die Zwischenkriegszeit und Jean-Claude Allain für beide Nachkriegszeiten.

Gottfried Niedhart vergleicht drei Phasen deutscher Außenpolitik im 20. Jahrhundert, deren gemeinsames Charakteristikum die Zielsetzung ist, Veränderungen infolge von Kriegsniederlagen rückgängig zu machen: den kooperativen Revisionismus der Weimarer Republik, die Integrationspolitik Konrad Adenauers und die Ostpolitik von Willy Brandt. Die Hintergründe der revisionistischen Politikansätze unterscheiden sich, aber die Strategien ähneln sich. Erst erfolgt eine teilweise Akzeptanz des status quo, um mit den Siegern ins Gespräch zu kommen, dann werden die eigenen Interessen in ein festes friedenspolitisches Korsett gezwängt. Niedhart wendet den Begriff der Revisionspolitik auf beide Nachkriegszeiten an, relativiert ihn jedoch mit seiner Feststellung, daß in beiden Fällen "keine einfache Rückwendung zur Vorkriegszeit" stattfand, sondern "methodisch und inhaltlich in neuen Bahnen" verfahren wurde (254).

Klaus-Jürgen Müller beobachtet, wie die Desorientierung nach abrupten politischen Veränderungen im Zusammenhang mit den beiden Weltkriegen das Verhältnis von Militär und Nation stört und "eine Art innerkorporativen Klärungsprozeß" in Gang setzt (279). Erst im gemeinsamen Feindbild Kommunismus kann in den französischen und deutschen Streitkräften das Konzept der 'Erbfeindschaft' überwunden werden.

In ihrer Bilanz zum Kolloquium, aus dem der Band entstand, stellt Beatrix Bouvier nüchtern fest, daß in bisherigen Beiträgen zum Thema der diachrone und internationale Vergleich zwar angestrebt, aber "nur selten als solcher durchgeführt wird" (284). Der vorliegende Band mischt den Vergleich, die Beziehungsgeschichte und nationalgeschichtliche Beiträge aus einem breiten Themenspektrum. Auf eine Definition von Begriffen wie 'Nachkriegszeit' oder 'Nachkriegsgesellschaft' wird verzichtet. Die beiden Herausgeber fassen die Beiträge kurz zusammen und setzen an die Stelle einer thematischen Einleitung einen Zeitzeugenbericht. Darin beeindruckt Joseph Rovan, Jahrgang 1918, mit seinem versöhnlichen Ton, in dem er von seiner politischen Lebenserfahrung berichtet, die sich vom Versailler Vertrag über den Algerienkrieg bis zum Nahost-Friedensprozeß spannt, und die er als Regierungsmitglied, Résistance-Kämpfer, Funktionär in der französischen Besatzungszone und Publizist mit gestaltet hat. Seine Botschaft ist ein leidenschaftlicher Appell, aus der Geschichte zu lernen.
Das haben Nachkriegsgesellschaften immer schon versucht - mehr oder weniger erfolgreich, wie im anzuzeigenden Band nachzulesen ist.

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