Cover
Titel
Histoire(s) du cinéma. Geschichte(n) des Kinos


Autor(en)
Godard, Jean-Luc
Reihe
filmedition suhrkamp
Erschienen
Frankfurt am Main 2009: Suhrkamp Verlag
Anzahl Seiten
2 DVDs, 264 Minuten
Preis
€ 29,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Maja Bächler, Historisches Institut, Universität Potsdam

Der Titel ‚Geschichte(n) des Kinos‘ ist für Jean-Luc Godard mehr als ein Wortspiel. Er erzählt eine Geschichte des Kinos, indem er viele Geschichten des Kinos erzählt, weil es die eine Geschichte des Kinos nicht geben kann. Vielleicht erzählt er aber auch nicht die Geschichte(n) des Kinos, sondern die Geschichte des 20. Jahrhunderts:1 „Geschichte der Einsamkeit – Einsamkeit der Geschichte. Das Kino projizierte und die Menschen sahen, dass die Welt da war. Eine Welt noch fast ohne Geschichte, aber eine Welt, die erzählt. Doch um anstelle der Ungewissheit die Idee und die Empfindung zu setzen, waren die beiden großen Geschichten ‚der Sex‘ und ‚der Tod‘.“ (DVD 1, Min. 56:51)

Godards Videoprojekt ‚Histoire(s) du cinéma‘ erschien nach und nach zwischen 1989 und 1998 in einer vorwiegend französischsprachigen Fassung. Nun ist auch eine deutsche Version als Doppel-DVD erhältlich. Das Werk ist in acht Kapitel und dreiundfünfzig thematische Abschnitte untergliedert. Da die Geschichte des Kinos im Singular auf den verschiedenen Geschichten im Plural basiert und diese zwangsläufig miteinander verknüpft sind, gehen die inhaltlichen Abschnitte des Films fließend ineinander über. Themen aus vorangegangenen Abschnitten werden aufgegriffen und mit neuen Blickwinkeln verbunden. Dabei zeichnet sich die Machart der DVDs vor allem durch die Vielschichtigkeit der Herangehensweise aus, denn es handelt sich nicht um einen eigens gedrehten Film, sondern um eine aus verschiedenen Fragmenten montierte Collage. Gemalte Bilder von Renoir, Goya oder Velazquez beispielsweise wechseln mit Bildern aus Spiel- und Dokumentarfilmen, aus Wochenschauen und Zeichentrickanimationen. Schnelle Schnitte variieren mit längeren Einstellungen. Dazu wird Musik eingespielt, Schrift eingeblendet oder Text gesprochen, der aber nicht immer mit dem eingeblendeten übereinstimmt. Bei Godard verlaufen die Schnitte nicht „zwischen dem Akustischen und Visuellen, sondern im Visuellen, im Akustischen und in ihren vielfältigen Konnexionen.“2 Die Vielschichtigkeit der Ebenen bricht die Bilder und Töne, kommentiert sie und führt sie zusammen, wobei Godard keiner Ebene eine Dominanz vor den anderen einräumt.3

Auf der ersten DVD widmet sich Godard zum einen der historischen Verortung des Kinos, das auf der Photographie und der Malerei (vor allem Édouard Manet) basiere und eine Idee des 19. Jahrhunderts sei – obgleich es als Erscheinung des 20. Jahrhunderts angesehen werde. Zum anderen wendet er sich der „Schönheit“ vor der Kamera zu, um einen kritischen Blick auf die Filmindustrie zu werfen und damit sind hier vor allem die US-amerikanischen und die europäischen gemeint, die Godard einander gegenüberstellt. Die zweite DVD setzt sich mit dem europäischen Kino während des Zweiten Weltkriegs auseinander und zeigt dieses als universelle Erfahrung von Macht und Ohnmacht angesichts von Krieg, Vernichtung und Schmerz. Für Godard ist die Auseinandersetzung mit Geschichte im Allgemeinen ohne die der kinematographischen Bilder nicht denkbar, da beide untrennbar in den Köpfen miteinander verknüpft sind. Für die Geschichte des Kinos bedeutete der Zweite Weltkrieg einen tiefen Einschnitt und den endgültigen Verlust der Unschuld – wenn diese denn vorher überhaupt noch vorhanden war: „Dass das Kino gemacht wurde, um zu denken, wird man sogleich vergessen. Aber das ist eine andere Geschichte: die Flamme verlischt endgültig in Ausschwitz.“ (DVD 2, Min. 12:31)

Im zweiten Kapitel der zweiten DVD setzt Godard sich mit der „Nouvelle Vague“, also gewissermaßen mit sich selbst auseinander. Godard gründete 1950 gemeinsam mit Éric Rohmer und Jacques Rivette die Filmzeitschrift „Cahiers du cinéma“, seinen Durchbruch als Regisseur hatte er in den 1960er-Jahren. Seine Filme werden der „Nouvelle Vague“ zugeordnet, die – ähnlich wie unabhängige Filmemacherinnen und Filmemacher in New York zur gleichen Zeit – eine Abgrenzung zum klassischen Hollywood-Kino anstrebte. Die Verwirrung der Sehgewohnheiten sowie die Auseinandersetzung mit gesellschaftskritischen Themen ziehen sich durch Godards Drehen und Schreiben wie ein roter Faden – so auch in den „Histoire(s) du cinéma“. Er betont: „Was wir wollten war das Recht, Männer und Frauen zu filmen in einer realen Welt.“ (DVD 2, Min. 29:07) Godard ordnet das Kino weder der Kunst noch der Technik zu, er sieht es vielmehr als dessen Aufgabe an, das Denken zu fördern. Diese gemeinsame Verpflichtung von Mensch und Kino sieht Godard durch das Fernsehen in Frage gestellt: auf Überforderung folgt das gegenteilige Extrem. Godards Blick auf die Zukunft des Kinos im letzten Kapitel der DVD erscheint eher düster. Eingerahmt werden die thematischen Abschnitte von Sequenzen, in denen Jean-Luc Godard am Schreibtisch und auf einer Schreibmaschine tippend oder in einem Vorführraum gezeigt wird. Godard inszeniert sich selbst als altmodischen, Zigarre rauchenden Intellektuellen, der vor einer Bücherwand oder am Filmprojektor arbeitet. Als Filmschaffender und -beschreibender macht er sich damit zum Teil seiner Kinogeschichten und historisiert sich auf diese Weise selbst.

Die DVDs beinhalten kinematographische Essays oder essayistische Filme. Der essayistischen Kunstform entsprechend zitiert Godard ohne Verweise. Bei der Unmenge der Bilder, Worte und Töne, die er montiert, wird ein extremes Vorwissen vorausgesetzt, ohne das die inter - und intratextuellen Bezüge nicht hergestellt werden können. Diese Überforderung ist gewollt und entspricht Godards Ansatz, denn insofern jeder unterschiedliche Bezüge herstellt und aufgrund seines Vorwissens herstellen kann, entstehen neue Geschichten in den Köpfen des Publikums. Darüber hinaus fordert Godard unsere Sehgewohnheiten durch schnelle Schnitte, ungewöhnliche Kadrierungen und die genannte Ebenenvielfalt heraus. Er erinnert damit kontinuierlich daran, dass es sich bei diesen „Histoire(s) du cinéma“ um Montagen, nicht um eine chronologische Tatsachenbeschreibung handelt. So werden wir, wie Klaus Theweleit im Kommentar der Begleitbroschüre treffend bemerkt, „Bei vollem Bewußtsein schwindlig gespielt“ (Booklet, S. 3).

Die „Histoire(s) du cinéma“ haben bereits weitreichende Beachtung auf verschiedenen Filmfestspielen und in der wissenschaftlichen Auseinandersetzung erfahren. Interessant wäre, denke ich, eine Untersuchung der inhaltlichen Zwischenräume4, die Godard produziert. Welche Geschichten des Kinos fallen aus seiner Weltsicht heraus oder sind zu unbedeutend? So scheinen sich beispielsweise die Geschichten des Kinos auf die „okzidentale“ Hemisphäre zu beschränken, in der weder postkoloniale noch okzidental-kritische Konzepte geschweige denn außer-“westliches“ Kino existieren.

Anmerkungen:
1 John E. Drabinski, Godard Between Identity and Difference, New York 2008, S. 137.
2 Gilles Deleuze, Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt am Main 1991, S. 319.
3 Elisabeth Büttner, Projektion. Montage. Politik. Die Praxis der Ideen von Jean-Luc Godard (Ici et Ailleurs) und Gilles Deleuze (Cinéma 2, L‘ìmage-temps), Wien 1999, S. 61.
4 Kerstin Küchler, Interferenzen im filmischen Raum, in: Michael Lommel / Isabel Maurer Queipo / Volker Roloff (Hrsg.), Surrealismus und Film. Von Fellini bis Lynch. Medienumbrüche Bd. 25. Bielefeld 2008, S. 49-65, S. 51.

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