Cover
Titel
Auf zur Demo!. Straßenprotest in der ehemaligen Bundeshauptstadt Bonn 1949-1999. Eine Dokumentation


Autor(en)
Bothien, Horst-Pierre
Reihe
Forum Geschichte 8
Erschienen
Anzahl Seiten
144 S., zahlr. Abb.
Preis
€ 18,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Silke Mende, Seminar für Zeitgeschichte, Eberhard-Karls-Universität Tübingen

Inwiefern manifestiert sich die Geschichte eines Staates und seines Gemeinwesens in seiner Protestgeschichte? Was verrät letztere über die prägenden Themen und Konflikte einer Gesellschaft, deren Konjunkturen und Veränderungen? Und wie sehr sind die sich wandelnden Formen des Protests zugleich Ausdruck für den Wandel von politischer Kultur und Lebensstil? Hinweise auf die Erträge eines solchen Fragehorizonts1 gibt der Begleitband zu einer Ausstellung des Bonner Stadtmuseums.2 Er macht deutlich, wie sehr sich die Geschichte der „Bonner Republik“ in der Demonstrationsgeschichte ihrer (provisorischen) Hauptstadt spiegelt.

Die knapp 150 Seiten umfassende Dokumentation unter Federführung von Horst-Pierre Bothien zielt aus einer primär stadtgeschichtlichen Perspektive auf den „Dreiklang“ von Bundespolitik, Staatsbesuchen und Demonstrationen in Bonn (S. 7). Die hier im Mittelpunkt stehenden Straßenproteste verdeutlichen, wie stark das selbst gewählte Leitbild der zweiten deutschen Republik mit dem Charakter seines Hauptstadtprovisoriums konvergierte und mitunter auch kokettierte. Die Wahl der rheinischen Universitäts- zur vorläufigen Bundeshauptstadt sollte einerseits unterstreichen, dass die Bundesrepublik keinesfalls das „ganze Deutschland“ war, sondern als Übergang bis zur Wiederherstellung eines gesamtdeutschen Staats verstanden wurde. Andererseits durfte Bonn nicht Weimar sein – so sollte sich die politische Kultur und nicht zuletzt die politische Meinungsbekundung auf der Straße sichtbar von jener der ersten deutschen Demokratie unterscheiden. Bonn schien auch in dieser Hinsicht als weitgehend unbeschriebene historische Projektionsfläche bestens geeignet zu sein, den westdeutschen Mythos von der „Stunde Null“ zu symbolisieren.

Der Band umfasst die Jahre 1949 bis 1999, eingerahmt von der ersten und letzten Bundestagssitzung in Bonn. Die fünf Jahrzehnte werden in sechs chronologischen Kapiteln abgehandelt, die den Etappen Bonns auf dem Weg von der provisorischen zur „tatsächlichen“ Hauptstadt und der dann doch recht plötzlichen „Degradierung“ zur Bundesstadt im Gefolge der Wiedervereinigung entsprechen. Von den geschätzten 7.000 Demonstrationen in diesem Zeitraum wurden im Vorfeld der Dokumentation 500 näher betrachtet; auf 80 wird in dem Band schließlich näher eingegangen. Eine Chronik am Ende des Buches listet weitere 120 Aktionen auf. Kriterien für die Auswahl waren unter anderem Demonstrationen mit „großer öffentlicher Resonanz“ und jene, „die zeittypische Themen zum Inhalt hatten und ein Spiegel der Zeit waren“ (S. 10). Die einzelnen Abschnitte werden mit den markanten politischen und gesellschaftlichen Entwicklungen der Bundesrepublik verzahnt und eröffnen somit den Blick auf die sich wandelnden Grundkonflikte und Bezugsgrößen westdeutscher Geschichte zwischen 1949 und 1999.

Das erste Kapitel (1949–1955) rekapituliert die Wahl Bonns zur vorläufigen Hauptstadt und die damit einhergehenden Veränderungen im städtischen Raum. Im Lichte der großen Demonstrationen erscheint die bundesdeutsche Gesellschaft vor allem mit sich selbst sowie mit der Bewältigung von Kriegsfolgen beschäftigt. Proteste von Heimatvertriebenen und Kriegsgeschädigten sowie die Auseinandersetzungen um Wiederbewaffnung und Westintegration bestimmten das Bonner Demonstrationsbild. Bald jedoch begann sich der Blick der Bonner wie der Bundesrepublikaner zu weiten. In der zweiten Phase (1956–1964) bildete sich das Bonner Nebeneinander von mittlerer Großstadt und bundespolitischem wie internationalem Schauplatz aus, das auch die folgenden Jahrzehnte prägte. Gleichzeitig war eine Internationalisierung der Demonstrationsthemen und ihrer Teilnehmer zu beobachten.

Die vier Jahre des dritten Kapitels (1965–1969) fallen einerseits in die Zeit verstärkter Stadtplanungen, Gebiets- und Verwaltungsreformen, infolge derer sich Bonn vergrößerte und veränderte. Andererseits sind es die Jahre von Außerparlamentarischer Opposition und Studentenbewegung, die vor allem neue Formen des Protestes sichtbar werden ließen. Im Laufe der 1970er-Jahre, denen das vierte Kapitel gewidmet ist, lässt sich nicht nur eine Vervierfachung der Protestereignisse beobachten, sondern auch das Aufkommen neuer Themen, die mit dem Auftreten neuer Trägergruppen wie der Frauen- oder der Umweltbewegung konvergierten. Der Besuch einer Demo, so scheint es, war inzwischen zum festen Bestandteil in der politischen Kultur der Westdeutschen geworden.

Die eigentliche Hochphase der nun in immer kürzeren Abständen stattfindenden und immer besser frequentierten Demonstrationen bildeten indes die frühen 1980er-Jahre. Der fünfte Abschnitt (1980–1989) lässt die Massendemonstrationen der Nachrüstungsdebatte Revue passieren, zu denen wiederholt mehrere Hunderttausend Menschen nach Bonn kamen – teilweise mehr, als die Stadt Einwohner hatte. In dieser Zeit setzte sich auch das polizeiliche Schlagwort von der „Bonner Linie“ durch, welches Kommunikation und Deeskalation in den Mittelpunkt stellte und die Grundzüge der Bonner Polizeiarbeit bereits seit 1968 dominiert hatte. Gleichzeitig wurde der Bonner Hofgarten, den die ehemalige Oberbürgermeisterin Bärbel Dieckmann einmal treffend als „Plenarsaal des Volkes“ bezeichnete (S. 121), endgültig zum symbolträchtigen Ort bundesdeutscher Demonstrationskultur. „Die Bundesrepublik schien den Standort ihrer Hauptstadt nun endgültig gefunden zu haben, die Stadt Bonn nahm ihre Rolle dankend an.“ (S. 86)

Jäh unterbrochen wurde dieser „Abschied vom Provisorium“ (Andreas Wirsching) durch den Prozess der deutschen Wiedervereinigung. Berlin wurde Haupt-, Bonn nur mehr Bundesstadt. Im sechsten und letzten Kapitel der Bonner Straßenproteste (1990–1999) nahm die Anzahl der Demonstrationen entsprechend ab. Dennoch wurde die Stadt weiterhin Zeuge großer Proteste, welche die Themen und Herausforderungen ankündigten, mit denen sich die „Berliner Republik“ seitdem auseinanderzusetzen hat. Dazu gehören die Suche nach einer veränderten Rolle Deutschlands in der Welt (symbolisiert durch die Proteste gegen den Golfkrieg 1991) und das Thema Integration (ablesbar etwa an der Asylrechtsdebatte und den fremdenfeindlichen Ausschreitungen zu Beginn der 1990er-Jahre).

Intern sind die sechs Kapitel wiederum dreigeteilt. Zunächst werden jeweils der allgemeine und der stadthistorische Kontext umrissen; es folgt die Schilderung der prägenden Demonstrationen im betrachteten Zeitraum sowie eine Auswahl weiterer Demonstrationsereignisse. Diese Aufteilung ist schlüssig, auch wenn die Überschriften der einzelnen Abschnitte etwas missverständlich erscheinen: Warum die Rubriken zu Stadtgeschichte und Staatsbesuchen stets als „glänzende Seite der Medaille“, die exemplarisch ausgewählten Protestaktionen als „Kehrseite der Medaille“ betitelt werden, erschließt sich nicht. Die näher vorgestellten Demonstrationen stehen im Zentrum der einzelnen Kapitel, wobei jeweils über Anlass, Kontext und Verlauf der Ereignisse informiert wird. In nützlichen Übersichten erfährt man außerdem den Veranstalter, die Teilnehmerzahl, den Demonstrationsort bzw. Demonstrationsweg sowie die wichtigsten Parolen und Slogans der jeweiligen Aktion. Im Mittelpunkt stehen, dem ursprünglichen Anlass einer Ausstellung entsprechend, zahlreiche Fotos der Proteste. Abgerundet wird das Ganze durch teils lange Passagen aus der zeitgenössischen Presseberichterstattung, was zwar anschaulich die Atmosphäre der Zeit vermittelt, aber auch ein Risiko birgt: Da die schriftlichen Quellen hauptsächlich aus den großen Bonner Zeitungen stammen (wenn auch ergänzt um einige überregionale Presseartikel, Zeitzeugenerinnerungen oder Archivquellen), besteht die Gefahr, ein Bild von der Bonner Demonstrationsgeschichte zu reproduzieren, das die dort ansässige Presse möglicherweise bewusst von ihrer Stadt zeichnen wollte. Die zeitgenössische Berichterstattung wird weitgehend vom Topos einer außerordentlichen Friedfertigkeit dominiert, welche die Mehrzahl der Bonner Proteste charakterisiert habe. Das mag den realen Begebenheiten durchaus entsprochen haben, wirft aber dennoch die Frage auf, wie sehr den Zeitgenossen an einer entsprechenden Stilisierung gelegen haben mag, gerade vor dem Hintergrund der Formel „Bonn ist nicht Weimar“.

Ungeachtet dieser Einschränkung bleibt festzuhalten, dass sich die Geschichte der Bonner Straßenproteste hervorragend eignet, um sich nicht nur der Protestgeschichte der Bundesrepublik zu nähern, sondern auch dem Wandel ihres Politikverständnisses wie ihrer politischen Kultur. Der Band des Bonner Stadtmuseums bietet für dieses Themenspektrum einen illustrativen Einstieg, der zu weiterführenden Fragen anregt.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa auch Matthias Reiß (Hrsg.), The Street as Stage. Protest Marches and Public Rallies since the Nineteenth Century, Oxford 2007; Vgl. Uwe Fraunholz: Rezension zu: Reiss, Matthias (Hrsg.): The Street as Stage. Protest Marches and Public Rallies since the Nineteenth Century. Oxford 2007, in: H-Soz-u-Kult, 08.01.2009, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2009-1-014> (12.09.2010).
2 Sie wurde vom 6. November 2009 bis zum 17. Januar 2010 gezeigt und trug denselben Titel wie das hier vorgestellte Buch.