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Titel
Kultur der Begierde. Eine Geschichte der Sexualität


Autor(en)
Eder, Franz X.
Erschienen
München 2002: C.H. Beck Verlag
Anzahl Seiten
359 S.
Preis
€ 15,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Tilmann Walter, Institut für Geschichte der Medizin, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg

Anspruch des zu besprechenden Bandes ist es, für den deutschsprachigen Raum die erste “am aktuellen wissenschaftlichen Diskussionsstand orientierte Synthese” zur Geschichte der Sexualität zu bieten (S. 7). Der Text basiert teilweise auf schon veröffentlichten Aufsätzen des Autors, die zur Neuveröffentlichung überarbeitet und bibliografisch ergänzt worden sind. Dieser Anspruch wird, so sei als Bewertung des Buches vorausgeschickt, insgesamt vorbildlich erfüllt, sofern man berücksichtigt, dass dabei der Zeitraum von der frühen Neuzeit bis zur Gegenwart anhand ausgewählter, aber inhaltlich zentraler Aspekte abgehandelt wird. Eders Darstellung wirkt für die Geschichtswissenschaft konzeptionell und inhaltlich auf der Höhe der Zeit, das Buch ist ansprechend geschrieben und gestaltet und eignet sich dank seines günstigen Preises insbesondere für die Anschaffung und Lektüre im Grundstudium. Auch versierte LeserInnen werden aus der Lektüre Gewinn ziehen können.

Die wissenschaftliche Beschreibung der Geschichte der Sexualität hat eine rund einhundertjährige Tradition, doch bieten sich die älteren Arbeiten nicht mehr als Grundlage für heutige Darstellungen an, weil sie in den normativen Erwartungen ihrer Zeit verhaftet sind. Als Epochenwerk und paradigmatisch für die heutige Beschäftigung mit den historischen Verhältnissen war Michel Foucaults “Histoire de la sexualité” von 1976 wirksam, auf die sich alle späteren Arbeiten – mehr oder weniger kritisch – beziehen (vgl. S. 13f., 238f.). Wesentliche Einflüsse ergaben sich auch aus den “Neuen sozialen Bewegungen” der späten 1960er und 1970er Jahre, dem Feminismus, der Schwulen- und Lesbenbewegung und – für den deutschsprachigen Raum weniger wichtig – den postkolonialistischen Bürgerrechts- und Freiheitsbewegungen. In Anlehnung an Foucault wurde zumal der Begriff “Sexualität” selbst historisiert: Entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts im spezifischen Zusammenhang der Botanik(!), entwickelte er sich er um 1900 zu einer Leitbegrifflichkeit für “Begriffe, Ideen, Wissen, Begierde, Orientierung, Phantasie und Praxis” (S. 15), den von verschiedenen wissenschaftlichen und politischen Standpunkten aus unterschiedlichste Bedeutungen und Konnotationen zugeschrieben wurden – ein “Plastikwort”, wie der Linguist Uwe Pörksen bemerkt hat. Hinzu kommt der deutliche historische Bedeutungswandel, den das Wort durchgemacht hat. Darüber, was Sexualität nun eigentlich “ist”, ließe sich deshalb kaum ein gesellschaftlicher Konsens herstellen (vgl. S. 17f.). Vergrößert wird die terminologische Problematik, beschäftigt man sich mit der ferneren Vergangenheit: Sie bediente sich lange Zeit nicht der uns heute vertrauten Begrifflichkeit und war auch sozial, intellektuell und ideologisch anders beeinflusst, wie Eder anhand ausgewählter Beispiele vorführt.

Sexualhistorisch wurde in jüngerer Zeit bewusst angestrebt, von dem Bild umfassender “Sexualunterdrückung” wegzukommen, das besonders psychoanalytische Deutungen bestimmt hat (vgl. S. 22), und das Eigenständige früherer Sexualkulturen in den Blick zu bekommen. Bedingt durch die gesellschaftspolitische Ausrichtung der Zugänge, aber auch durch das zur Verfügung stehende Quellenmaterial tritt die “dunkle” Seite des Sexes in der Historiographie aber noch immer in den Vordergrund (S. 24). Wie es anders gehen könnte, zeigt das erste Kapitel über “Die sexuellen Begierde in der bäuerlichen Kultur” (S. 29–50). Roh, oft gewalttätig und bar “romantischer” Gefühle – so wurde das Ehe- und Liebesleben unserer bäuerlichen Vorfahren häufig beschrieben. Missverständlich wurden damit bürgerliche Ideale affektiv bestimmter Beziehungen auf eine Lebenswelt übertragen, die sachlich und ideell andere Grundlagen hatte (vgl. S. 30). Doch auch in der bäuerlichen Welt war “körperliche Kommunikation [...] eine wichtige Basis für eine positive Emotionalität und trug maßgeblich zur Entwicklung und Stabilität einer Beziehung bei” (S. 35). In ähnlicher Weise erzeugten, wie Eder im sechsten Kapitel über “Sexuelle Begierde in der Arbeiterschaft” (S. 171–186) darlegt, soziale und ökonomische Verhältnisse sowie ein anderes geistiges Milieu beim industriezeitalterlichen Proletariat eine Sexualkultur, der die bürgerlich geprägte Sexualwissenschaft (und -geschichtsschreibung) misstrauisch bis abschätzig begegnete. Die proletarische Sexualität schien mehr “triebgesteuert”, für sozialistische Romantiker aber auch im positiven Sinne “freier” zu sein. Mangelnde moralische Kontrollen glaubte das Arbeitermilieu – und zumal die Arbeiterbewegung – umgekehrt aber auch im Bürgertum vorzufinden (vgl. S. 179). Verderbnis der Sitten bemühten die Bürgerlichen folglich als sozialpolitisches Kampfargument gegen sozialistische Bestrebungen – aber dieses Argument funktionierte auch vice versa.

Das zweite Kapitel zur “Kriminalisierung des Sexuellen” (S. 51–91) vermittelt rechtsgeschichtliches Basiswissen. Kaiserliche Rechtssetzungen, Land- und Stadtrechte und kirchliche Erlasse zielten seit dem 16. Jahrhundert verstärkt auf die Steuerung der sexuellen Lebensweise des gemeinen Volkes ab. Schon seit längerem ist freilich bekannt, dass den Intentionen der Obrigkeiten keine konsequente Praxis entsprach: “Für das Gros der Bevölkerung hatte die Kriminalisierung der Sexualmoral geringe lebensweltliche Auswirkungen” (S. 53). Ursprünglich war im Umfeld von Reformation und katholischer (“Gegen”-)Reform die christliche Grundlegung der Gemeinwesen zentral. Höchstes Gut war die “unbedingte Bewahrung bestehender Ehen” (S. 64). Durch die seit dem 18. Jahrhundert statthabende “Entkriminalisierung der Sexualmoral” (S. 74) trat “an die Stelle der theokratischen und metaphysischen Grundlegung des Rechts [...] eine vernunftrechtliche Vorstellung” (S. 75f.). Exemplarisch umgesetzt wurde dies im Bayrischen Strafgesetzbuch von 1813: Sittlichkeitsvergehen traten als eigene Gruppe gar nicht mehr in Erscheinung, und zahlreicher Delikte (wie vorehelicher Sex, Ehebruch und “Sodomie”) verschwanden ganz aus dem Strafkatalog. Strafrechtlich sollte nur dort eingriffen werden, wo Rechte anderer verletzt wurden.

Das dritte Kapitel “Onanie und die Wurzeln des modernen sexuellen Subjekts im 17. und 18. Jahrhundert” (S. 91–127) behandelt den lange Zeit scheinbar prominentesten Beleg für die allgemeine “Unterdrückung” des Sexuellen und die generell “sexualfeindliche” Haltung im Bürgertum. Inzwischen wird dies überwiegend anders interpretiert. Die Onanie-Bekämpfer wollten kindliche Sexualität nicht “unterdrücken”, sondern pädagogisch zum Guten bewegen. Kinder sollten bewusst im Sinne einer harmonischen Persönlichkeitsentwicklung und der Verpflichtung auf das Gemeinwohl geformt werden (vgl. S. 111). Der Onaniediskurs konstruierte ein durch das Geschlechtliche gefährdetes Subjekt, die dort formulierten Befürchtungen wurden von vielen als reale Gefahren erlebt (vgl. S. 104).

Das vierte Kapitel “Bürgerliche Geschlechterdifferenz und wissenschaftlicher Diskurs über Sexualität” (S. 129–150) zeigt, wie die soziosexuellen Normen, die das aufgeklärte Bürgertum in Abgrenzung von der bäuerlichen und adligen Lebensweise entwickelte, epistemisch “naturalisiert” wurden (S. 131). Auch bevölkerungspolitische Fragen begünstigten die Problematisierung “abweichender” Sexualität (vgl. S. 138). Die Darwinrezeption intensivierte die Naturalisierung der sozialen Geschlechterdifferenz gegen Ende des 19. Jahrhunderts noch zusätzlich: Abweichungen vom gesellschaftlich Erwarteten galten nun nicht nur als physiologisch minderwertig, sondern wurden als Kennzeichen evolutionärer “Degeneration” interpretiert (vgl. S. 146). Auch die “Konstruktion des ‚homosexuellen‘ Subjekts” (Kapitel 5; S. 151–169) fügt sich in dieses Bild: Gleichgeschlechtliche Sexualakte wurden nach der Mitte des 19. Jahrhunderts bevorzugt nicht mehr als strafwürdige Vergehen, sondern als Folgen einer problematischen “Naturanlage” behandelt. Motiviert war diese Vorstellung bei dem Juristen Karl Heinrich Ulrichs zunächst im Sinne seines Anliegens, juristische Straffreiheit durchzusetzen (vgl. S. 161), sie schlug wirkungsgeschichtlich aber als psychiatrische und eugenische Pathologisierung durch (vgl. S. 163): Weil sie vom üblichen Geschlechterhabitus deutlich abwichen und für “degeneriert” gehalten wurden, zählten “die Homosexuellen” später unter die Opfer des Nationalsozialismus. Im Dritten Reich erlebte die “Politisierung und Medizinisierung des Sexuellen im späten 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts” (Kapitel 7; S. 187–210) – die in Gestalt unterschiedlichster Initiativen zur Regelung der Prostitution, der Homosexualität, der Geburtenbeschränkung und der sexuellen Selbstbestimmung bereits im Kaiserreich in Erscheinung trat – ihren “bisherigen Höhepunkt” (S. 206). Auf dieses Geschehen zugespitzt, präsentiert sich die Geschichte der Sexualität dann aber doch wie ein Narrativ zunehmender Problematisierung, Kontrolle und Repression.

Eher schwach wirken die letzten beiden Abschnitte des Buches: Das Kapitel “‚Liberalisierung‘ und Kommerzialisierung des Sex nach 1945” (S. 211–225) bietet eine feuilletonistische Chronik vermeintlicher “Skandale” und “Fortschritte”, wie dies aus der Sittengeschichtsschreibung nach 1900 bekannt ist. Unerwähnt bleibt dabei, dass sexueller Konsum schon in der Weimarer Zeit eine große Rolle gespielt hat, was den nationalsozialistischen Feldzug gegen den “Schmutz” der Großstädte und eine liberalere Sexualkultur ja nicht zuletzt motiviert hat. Zudem erscheint, was für die voranstehenden Abschnitte des Buches überzeugend wirkt, hier als ein Manko: die Konzentration auf genuin geschichtswissenschaftliche Arbeiten. Zur Zeitgeschichte hätte die sexologische und sexualsoziologische Literatur – genannt seien stellvertretend für viele nur die Arbeiten von Gunter Schmidt, Volkmar Sigusch, Rüdiger Lautmann, Anthony Giddens und Henning Bech – in der Darstellung deutlich mehr Gewicht beigemessen werden müssen. Eder kündigt aber an, auf die Zeitgeschichte in Zukunft umfangreichere Studien verwenden zu wollen, in denen hier Abhilfe geschafft werden könnte.

Enttäuschend wirkt für den Rezensenten auch das reflektierende Schlusskapitel zur “Sexualitätsgeschichte zwischen Essentialismus und sozialem Konstruktionismus” (S. 227–243), und zwar deshalb, weil hier ein Scheinproblem aufgeworfen wird, das nicht deutlich genug als solches charakterisiert wird. Die als “Essentialismus” und “Konstruktionismus” nur höchst ungenau umrissenen Positionen verstanden sich in den 1970ern und frühen 1980ern als “politische” Stossrichtungen, d.h. sie waren dem Versuch verpflichtet, hegemoniale Deutungssysteme des Sexuellen in der Wissenschaftslandschaft durchzusetzen. Entsprechend wurden die empirischen Verhältnisse übersimplifiziert und Aussagen, die im Kontext spezifischer Phänomene Berechtigung besaßen, missverständlich anthropologisch verallgemeinert. Die Diskussion zum Thema in einigen Nachbarfächern ist längst weiter fortgeschritten. Um nur drei Beispiele zu nennen: Es wirkt unfair, den amerikanischen Biologen Edward O. Wilson, der offen anstrebt, die Lebenswissenschaften zu einer geschlossenen Weltanschauung und zum Religionsersatz aufzuwerten, als typischen Vertreter seines Faches hinzustellen (vgl. S. 233).1 Sigmund Freuds tiefenpsychologisches Theoriegebäude (vgl. S. 234) wird allenfalls noch im psychoanalytischen Ausbildungsbetrieb und nicht in der universitären Psychologie als unumschränkt gültig gehandhabt. Unumgänglich bleibt für die Sexualgeschichtsschreibung aber vor allem die noch ausstehende Auseinandersetzung mit den wichtigen Arbeiten der Sozialpsychologen John H. Gagnon und William Simon, deren “Skripttheorie” in der klinischen Sexualwissenschaft und der Sexualsoziologie inzwischen als Standardwerk behandelt wird.2 Für Gagnon und Simon versteht sich “Sex” im Sinne der Labelling-Theorie als soziale und semantische Übereinkunft, die durch individuelle intrapsychische Skripte, soziale interpersonale Skripte und das jeweilige zeitgeschichtliche “kulturelle Szenario” geprägt ist. Mit diesem theoretischen Zugang lassen sich komplexe Einflüsse, die auf die Sexualkultur und individuelle Sexualität einwirken, differenziert beschreiben. Nicht in Frage gestellt wird dabei – und dies mag manchen HistorikerInnen, die auf diesem Gebiet arbeiten, ins Stammbuch geschrieben werden –, dass biologische Faktoren menschliches (Sexual-)Verhalten mitbeeinflussen. Was unter diesen Einflüssen als ausschlaggebend bewertet wird, ist letztlich eine Frage des heuristischen, d.h. theoretischen Zugangs und kann unter Verweis auf die Empirie nicht “endgültig” geklärt werden. Sachlich ist der “Homo sexualis” definitiv ein vielschichtiges Wesen, das auf zahlreichen Ebenen – Biologie, Psyche, gesellschaftliche und kulturelle Zusammenhänge – funktioniert und auch so analysiert werden sollte.

Anmerkungen:
1 Für die deutschsprachige Biologie hat demgegenüber viel eher der verstorbene Biologe Christian Vogel, dessen Werk philosophisch und kulturanthropologisch informiert und ausgewogen ist, einflussreich gewirkt: vgl. zur Einführung Christian Vogel: Anthropologische Spuren. Zur Natur des Menschen, hg. v. Volker Sommer, Stuttgart 2000.
2 Stellvertretend für zahlreiche Arbeiten der Autoren vgl. John H. Gagnon; William Simon: Sexual Scripts. Permanence and Change, in: Archives of Sexual Behavior 15, Heft 2 (1986), S. 97–120; Dies.: Wie funktionieren sexuelle Skripte?, in: Christiane Schmerl u.a. (Hgg.): Sexuelle Szenen. Inszenierungen von Geschlecht und Sexualität in modernen Gesellschaften, Opladen 2000, S. 70–89.

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