S. Göllner: Die politischen Diskurse zu Entnazifizierung

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Titel
Die politischen Diskurse zu Entnazifizierung, "Causa Waldheim" und "EU-Sanktionen". Opfernarrative und Geschichtsbilder in Nationalratsdebatten


Autor(en)
Göllner, Siegfried
Reihe
Studien zur Zeitgeschichte
Erschienen
Anzahl Seiten
626 S.
Preis
€ 98,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Peter Larndorfer, Verein Gedenkdienst, Wien

Beim vorliegenden Text handelt es sich um eine leicht abgeänderte Version der Dissertation Siegfried Göllners aus dem Jahr 2008. Im Zentrum steht der österreichische Opfermythos als Gründungsnarrativ der Zweiten Republik und seine Transformationen, Abwandlungen und Rückwirkungen auf den politischen Diskurs. Der Autor widmet sich also einem zentralen Thema der österreichischen Zeitgeschichteforschung, das bereits vielfach behandelt wurde. Im ersten Kapitel entwirft er einen anschaulichen Überblick zu den wichtigsten einschlägigen Publikationen der letzten Jahrzehnte. Neu ist Göllners Ansatz, Opfernarrative und Strategien der Externalisierung von Verantwortung ins Zentrum seiner Untersuchung der Themenbereiche „Entnazifizierung“, „Causa Waldheim“ und „EU-Sanktionen“ zu stellen. Durch den Vergleich dieser unterschiedlichen Diskursbereiche, deren gemeinsamer Nenner die Frage nach dem Verhältnis Österreichs zum Nationalsozialismus darstellt, hofft Göllner, die Entwicklung des Diskursverlaufs nachzeichnen und, Siegfried Jäger folgend, „Änderungen in den diskursiven Verläufen erkennbar und interpretierbar zu machen“.1

Als wichtigstes Quellenmaterial dienen ihm dabei Protokolle von Debatten des österreichischen Nationalrats, die bisher nur exemplarisch und zur Illustration politischer Argumentationsstrategien zitiert wurden. Göllner streicht hervor, dass diese eine Analyse ermöglichen würden, die „über Verweise auf Protagonisten der einzelnen Parteien“ hinausgehen würde und so „Abweichungen vom Mainstream, unterschiedliche Schwerpunktsetzungen, sowie aufkommende Gegenerzählungen“ deutlich sichtbar gemacht werden könnten.“ (S. 35) In der genaueren Beschreibung des verwendeten Materials unterscheidet Siegfried Göllner zwischen Abgeordnetenreden, Regierungserklärungen und Festreden. Vor allem für die beiden letzteren Quellentypen ist zu bezweifeln, in wie weit „Abweichungen vom Mainstream“ und „aufkommende Gegenerzählungen“ sich darin niederschlagen.

Bei der systematischen Analyse der stenographischen Protokolle des Nationalrats bedient sich Göllner einer „betont quantitativ-analytische(n) Version der diskurs-historischen Methode der kritischen Diskursanalyse“ (S. 31), die von einer quantitativen Erhebung der Argumentationslinien der verschiedenen Parteien ausgeht und die damit verbundenen Strategien in Folge analysiert und interpretiert. Aus dieser Beschäftigung entwickelt er inhaltliche Kategorien zur Systematisierung argumentativer Strategien und folgt damit dem Zugang des Teams rund um Ruth Wodak.2

Der Kategoriebildung bzw. der Analyse und Interpretation der Quellen ist eine kurze Beschreibung des jeweiligen historisch-politischen Kontextes vorausgestellt. Davon ausgehend unterteilt Göllner den jeweiligen Diskurs in unterschiedliche Phasen, um Verlauf und innere Dynamik eines Diskurses sichtbar zu machen. Die Analyse der drei Diskursbereiche erfolgt jeweils in zwei Etappen: Im ersten Schritt präsentiert der Autor die Ergebnisse der qualitativen Analyse und beschreibt die Argumentationsschwerpunkte der Parteien, im zweiten Teil werden die „entscheidenden Debatten der jeweiligen Diskursphase umfassend exemplarisch analysiert, um die in den Wortmeldungen verfolgte Argumentation im Gesamtzusammenhang der Rede und der jeweiligen Debatte zu erfassen.“ (S. 64) Diese exemplarischen Debatten, in denen vor allem die zum jeweiligen Zeitpunkt zentralen Persönlichkeiten der Parteien zu Wort kommen, bilden jeweils den umfangreichsten Teil der Analyse und stellen eine notwendige Veranschaulichung der zuvor quantifizierten Argumentationsstrategien dar. Göllner fasst die Ergebnisse seiner Analyse nachfolgend anschaulich zusammen und beschreibt in einem weiteren Unterkapitel anhand einzelner Beispiele die in der jeweiligen Zeitphase dominierenden Geschichtsbilder. Hier zeigt er die Festigung der zuvor beschriebenen politischen Argumentationslinien in historischen Narrativen und thematisiert deren politische Funktionen. Wieder kombiniert Göllner hier die Quantifizierung der wesentlichen Argumente mit Fallbeispielen, denen er sich mit qualitativen Zugängen annähert. Zum Abschluss der einzelnen Analyse-Kapitel benennt er noch einmal knapp die seiner Meinung nach zentralen geschichtlichen Narrative der jeweiligen Periode.

In seiner Conclusio formuliert Göllner neuerlich die Ziele seiner Arbeit: „die mit der laufenden Transformation, Aktualisierung und teilweisen Aufrechterhaltung der Opferthese einhergehenden Argumentationsstrategien und Funktionalisierungen im politischen Diskurs ebenso aufzuzeigen, wie diskursspezifische Opfernarrative“ (S. 553). Außerdem bezieht er sich neuerlich auf frühere diskursanalytische Studien zu „Entnazifizierung“, „Causa Waldheim“ und „EU-Sanktionen“. Durch seine Arbeit sieht er viele der Erkenntnisse dieser früheren Arbeiten bestätigt, gleichzeitig werfe sie Licht auf manche Aspekte, die bisher wenig beachtet wurden (dies betrifft in Bezug auf die Diskursformation „Entnazifizierung“ etwa den Umfang der Diskreditierung der „Entnazifizierung“, die Distanzierung vom als „aufgezwungen“ beschriebenen NS-Gesetz oder die Gleichsetzung der „Entnazifizierung“ mit nationalsozialistischer Verfolgung). Auch habe seine Arbeit die Bedeutung der bisher wenig beachteten Periode von 1949–1957 hervorgehoben, in der ein die „Ehemaligen“ einschließender Opferkonsens zum hegemonialen Narrativ aufgebaut worden sei. Außerdem beginnt Göllner in seiner Conclusio, seine Erkenntnisse aus den drei Analyse-Kapiteln zusammenzuführen, indem er zum Beispiel darauf hinweist, dass „Notwendigkeiten für die positive Selbstdarstellung folgende Drehungen über die Entnazifizierung“ auch in Debatten rund um die „Causa Waldheim“ bzw. die „Sanktionen“ der EU-14 gegen die österreichische Bundesregierung eine Rolle gespielt hätten. So hätte die ÖVP in beiden Debatten „die nach dem Kriegsverbrechergesetz erfolgten Verurteilungen durch Volksgerichte als Beweis für die erfolgte ‚Aufarbeitung‘ der Vergangenheit und damit als Beweis für die bestehende Distanz zum Nationalsozialismus“ (S. 556) verwendet. Göllner konstatiert in allen drei untersuchten Diskursen eine Tendenz zur Externalisierung von Verantwortung und sieht damit seine Hauptthese, „dass die Wirkmächtigkeit des Opfermythos sich im politischen Diskurs auch durch eine Neigung zeigt, Österreich und die ÖsterreicherInnen als Opfer einer unbeeinflussbaren Entwicklung darzustellen“, bestätigt.

Insgesamt liegt mit der Arbeit Göllners eine umfangreiche und äußerst detaillierte Analyse der stenographischen Protokolle des Nationalrates im Umfeld der drei gewählten Debatten vor. Auch wenn diese drei Debatten, wie der Autor selbst einräumt, bereits in vielen diskursanalytischen Arbeiten thematisiert wurden, führen sein Ansatz und seine Quellenwahl ohne Zweifel zu neuen Perspektiven bzw. unterstreichen frühere Annahmen. Göllners methodischer Ansatz, der quantitatives Erfassen von Argumentationslinien mit qualitativer Analyse exemplarischer Debattenbeiträge kombiniert ist sehr schlüssig und führt zu nachvollziehbaren und verständlichen Ergebnissen. Die Zusammenführung dieser Ergebnisse in der Conclusio kommt vielleicht etwas zu kurz, doch sind argumentative Kontinuitäten bereits beim Lesen des Analyseteils erkennbar. Spannend wäre sicherlich eine eingehendere Analyse des „Gedankenjahres 2005“ und des damit verbundenen Wiederaufgreifens von „Opfernarrativen“ gewesen. Göllner geht darauf nur kurz in einem Unterkapitel ein.

Anmerkungen:
1 Siegfried Jäger, Kritische Diskursanalyse. Eine Einführung, Duisburg 2001, S. 201.
2 Vgl. Ruth Wodak u.a., ‚Wir sind alle unschuldige Täter!´ Diskurshistorische Studien zum Nachkriegsantisemitismus, Frankfurt am Main 199, S. 77.

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